I. Einleitung
Der Kriminalpolitische Kreis, ein Zusammenschluss von 40 deutschen Strafrechtsprofessoren und -professorinnen, beschäftigt sich seit etwa zehn Jahren mit der Frage, wie das Straf- und Strafverfahrensrecht unter Wahrung rechtsstaatlicher Grundsätze an die aktuellen Herausforderungen des Soziallebens angepasst werden kann. Der Kriminalpolitische Kreis (KriK) legt zu verschiedenen Einzelfragen Gesetzentwürfe und Stellungnahmen vor,[1] beschäftigt sich aber auch intensiv mit grundsätzlichen Themen des Strafrechts.
II. Funktionen und Zwecke der Kriminalstrafe im Lichte neuerer Theorien
Solche grundsätzlichen Fragen standen im Mittelpunkt der Jahrestagung des KriK, die auf Einladung der Hamburger Professoren Jochen Bungund Milan Kuhli am 17. und 18.10.2025 an der Universität Hamburg stattfand. Im ersten Teil des Programms ging es unter dem Titel „Strafe als Übel und soziale Notwendigkeit“ um Funktionen und Zwecke der Kriminalstrafe im Lichte neuerer Theorien. In seinem einleitenden Referat „Präventive und kriminogene Auswirkungen von Strafen“ berichtete Jörg Kinzig (Universität Tübingen) über die einschlägigen Erkenntnisse der empirischen Kriminologie. Dabei stellte er heraus, dass die general- und spezialpräventiven Wirkungen staatlicher Strafen allenfalls als bescheiden bezeichnet, werden könnten. Demgegenüber seien die kriminogenen Wirkungen insbesondere der Freiheitsstrafe beträchtlich. Da das Strafrecht somit auf einem brüchigen empirischen Fundament stehe, sei es angezeigt, Strafen – wenn überhaupt – nur äußerst behutsam einzusetzen und weiter nach intelligenteren Alternativen zu suchen.
Reinhard Merkel (Universität Hamburg) ging in seinem Referat davon aus, dass Retribution den Sinn und Zweck der Strafe bezeichne. Dies ändere jedoch nichts daran, dass der in der Strafe implizite Vorwurf gegenüber dem Täter rechtfertigungsbedürftig sei. In diesem Kontext widersprach Merkel dem „fair play“-Argument, das die Strafe als Ausgleich für einen Vorteil versteht, den sich der Täter zu Unrecht verschafft hat. Da Vergeltung anders als Rache dem Maß der Reaktion eine inhärente Grenze setze, müsse sie proportional zur Tat sein. Dabei stelle sich die Frage, ob auch das Maß des individuellen „Strafschmerzes“ des Täters (etwa in Bezug auf die Umstände des Strafvollzugs) Einfluss auf die Bemessung der retributiven Strafe haben solle. Schließlich stellte Merkel fest, dass der retributive Zweck der Strafe nicht das „soziale System Strafrecht“ als solches legitimieren könne; hierzu bedürfte es anderer Überlegungen.
Thomas Weigend (Universität zu Köln) beschäftigte sich mit der „expressiven“ Funktion der Strafe, die von Autoren aus dem angelsächsischen Raum, aber in neuerer Zeit auch in der deutschen Diskussion (etwa von Tatjana Hörnle) betont werde. Weigend legte dar, dass die Kommunikation verschiedener Botschaften an die Allgemeinheit, den Verletzten und den Täter zwar eine wichtige Funktion des Strafurteils sei, dass man in dieser Kommunikation jedoch nicht die Legitimation der staatlichen Strafe sehen könne. Diese könne vielmehr nur im Ausgleich der vom Täter verschuldeten Störung des sozialen Friedens und in der Befriedigung des Bedürfnisses der Gesellschaft nach retributiver Gerechtigkeit liegen.
In der anschließenden Diskussion wurde der Begriff der Retribution thematisiert, der nicht als Zufügung eines der Tat entsprechenden Übels im Sinne des Talionsprinzips, sondern als symbolischer Ausgleich der Schuld in einem Maße zu verstehen sei, dass den retributiven Bedürfnissen des Verletzten und der Gesellschaft (noch) entspricht. Gegenüber der Kritik Weigends an der Funktion des Strafurteils als moralischer Tadel, wurde eingewandt, dass ohne einen auf schuldhafte Rechtsverletzung antwortenden Vorwurf das Strafübel nicht begründet werden könne.
Im folgenden Referat ging Klaus Günther (Universität Frankfurt a.M.) der Frage nach, ob und wie das Strafrecht zum gesellschaftlichen Zusammenhalt beiträgt. Er zeigte diesen Zusammenhang an verschiedenen historischen und ausländischen Beispielen für das Bemühen um die Förderung eines guten Zusammenlebens in der Gesellschaft auch durch den Einsatz des Strafrechts auf.
Tonio Walter (Universität Regensburg) beschäftigte sich mit der Frage, ob der Einsatz des Strafrechts zur Stabilisierung von Verhaltensnormen beitragen kann. Walter zeigte sich skeptisch gegenüber einer solchen Funktion der staatlichen Strafe. Er legte dar, dass es bei der Normstabilisierung immer nur darum gehen könne, die faktische Bereitschaft der Bürger zu erhöhen, bestimmte Verhaltensnormen zu befolgen. Dazu könne die „Erfahrung von Gerechtigkeit“ im Verhalten der staatlichen Organe beitragen. Zur Gerechtigkeit gehöre auch die Bestrafung von schweren Normverstößen, da der Staat dadurch ein elementares, ethisches und emotionales Grundbedürfnis der Bürger nach ausgleichender Gerechtigkeit erfülle und den Bürgern einen guten Grund dafür gebe, ihrerseits die für sie geltenden Verhaltensnormen einzuhalten. Fraglich sei dieser Effekt jedoch sowohl in Bezug auf ethisch periphere Verhaltensnormen als auch auf solche im Kernbereich des Strafrechts. In jedem Fall sei es die gerechte Vergeltung, die zur Normstabilisierung beitrage; es gehe also um „Prävention durch Vergeltung“ (Angela Kalous).
Philipp-Alexander Hirsch (Max-Planck-Institut für die Erforschung von Kriminalität, Sicherheit und Recht, Freiburg i.Br.) stellte die von ihm entwickelte Theorie einer relationalen Rechtsverletzung vor. Danach lassen sich normative Phänomene wie Rechte, Pflichten und Praktiken der Verantwortlichkeit nur durch Rückgriff auf zweit-personale Handlungsgründe erklären. Kriminalunrecht bestehe nicht nur in der Übertretung einer Norm, sondern in der Missachtung der praktischen Autorität des Staates (und gegebenenfalls des Opfers), gegenüber dem der Täter zur Befolgung der strafbewehrten Verhaltenspflichten verpflichtet sei. Das Strafurteil bringe deshalb nicht bloß ein abstraktes Unwerturteil zum Ausdruck, sondern der Staat mache dem Täter durch die strafgerichtliche Verurteilung die Verletzung seiner normativen Anspruchsposition zum Vorwurf und vindiziere so seine rechtliche Autorität. Formen „harter Behandlung“ lassen sich in diesem Rahmen nur insoweit rechtfertigen, als sie als vom Täter zu erbringende Sekundärobligationen der Entschuldigung und Wiedergutmachung konzipiert werden können, durch die er die missachtete Autorität durch demonstrativ rechtskonformes Verhalten wieder anerkennt. Daraus folge strafrechtspolitisch ein Reformbedarf hin zu Sanktionsformen, bei denen der Täter nicht bloß passives Objekt des Strafvollzuges ist, sondern aktiv als verantwortlicher Akteur eingebunden wird.
In der Diskussion fand der Vortrag von Walter Zustimmung. Es wurde allerdings bemerkt, dass die Normstabilisierung durch Bestrafung tatsächlich – wie auch der Referent im Anschluss an Hassemer bemerkt hatte – mehr eine Hoffnung als eine psychologisch abgesicherte Erwartung sei. Hirschs Theorie der relationalen Rechtsverletzung wurde mit Interesse aufgenommen. Es wurde jedoch betont, dass sie eine demokratische Legitimation der vom Staat aufgestellten Verhaltensnormen zwingend voraussetze. Außerdem stelle sich die Frage, ob die herkömmliche Freiheitsstrafe noch als aktive Ausgleichsleistung des Täters für sein Fehlverhalten angesehen werden könne; dies wurde von Hirsch verneint.
III. Populistische Tendenzen im heutigen Zeitalter
Der zweite Teil der Tagung stand unter dem Generalthema „Populismus“. Einleitend legte Elisa Hoven (Universität Leipzig) dar, dass der Begriff des Populismus in unterschiedlicher Weise definiert werde; im Kern gehe es dabei um eine Gegenüberstellung des rechtschaffenen, der traditionellen Werte bewussten „Volkes“ und einer abgehobenen, anderen Wertvorstellungen folgenden intellektuellen Elite. Tatsächlich dürfe sich – so Hoven – der Vorwurf des Populismus nicht auf einzelne rechtspolitische Forderungen als solche, sondern nur auf die ihnen zugrunde liegende Argumentation beziehen. In der Diskussion wurde dazu festgestellt, dass es einer Differenzierung zwischen der (eventuell auch direkten) demokratischen Beteiligung der Bevölkerung und dem Rückgriff auf auch medial gesteuerte vermeintlich populäre Auffassungen und Wertungen bedürfe.
Als ersten Aspekt einer aktuellen rechtspolitischen Diskussion präsentierte Liane Wörner (Universität Konstanz) die Forderung nach einer Entkriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs. Sie stellte das Wechselspiel zwischen Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht bei den Reformbemühungen seit den 1970er Jahren dar und kritisierte die innere Widersprüchlichkeit der geltenden Regelung in §§ 218, 218a StGB. Außerdem betonte sie die genderpolitische Dimension der Debatte um eine Entkriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs: Die hohen rechtlichen und praktischen Hürden für einen Schwangerschaftsabbruch seien eine einseitige Benachteiligung von Frauen. Daher sei eine Entkriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen jedenfalls in den ersten beiden Trimestern und gleichzeitig ein besseres Angebot an Möglichkeiten zum Schwangerschaftsabbruch geboten. Durch ein solches Konzept könne auch der Schutz von Ungeborenen gewährleistet werden. In der Diskussion stießen die Vorschläge der Referentin weitgehend auf Zustimmung. Allerdings wurde auch die These angesprochen, dass die von ihr vorgeschlagene Lösung mit der verfassungsgerichtlichen Auffassung von dem vollständigen Schutz des Lebens von der Nidation an kaum vereinbar ist.
Anja Schiemann (Universität zu Köln) zeichnete anschließend die Diskussion um eine mögliche Absenkung der Strafmündigkeitsgrenze nach § 19 StGB nach. Schiemann hob hervor, dass Forderungen nach einer Strafbarkeit schon von 12- und 13jährigen meist durch Berichte über einzelne schwere Straftaten von Kindern dieser Altersgruppe ausgelöst würden. Bei solchen Forderungen werde jedoch übersehen, dass das Strafrecht kaum etwas zur Bewältigung der im Hintergrund der Taten stehenden persönlichen Probleme beitragen könne. Die in solchen Fällen notwendigen Maßnahmen ließen sich besser über die Instrumente des Jugendhilfe- und Familienrechts anordnen. Die Auffassung der Referentin fand in der Diskussion weitgehende Zustimmung. Angemerkt wurde jedoch, dass auch ein Bedürfnis nach einer öffentlichen Feststellung der relevanten Tatsachen bestehen könne, die wegen der Nicht-Öffentlichkeit jugendrechtlicher Maßnahmen nicht stattfinden könne. Außerdem müsste sichergestellt werden, dass die Täter im Rahmen erzieherischer Maßnahmen in altersgemäßer Weise mit ihrer Verantwortlichkeit konfrontiert werden.
Die beiden abschließenden Referate von Bernd-Dieter Meier (Universität Hannover) und Joop Adema (Universität Innsbruck und ifo Institut) setzten sich mit der häufig in populistischem Zusammenhang thematisierten Kriminalität von Migranten auseinander.
Meier legte dar, dass der Anteil von Personen mit ausländischer Staatsangehörigkeit an den in der Polizeilichen Kriminalstatistik erfassten Tatverdächtigen deutlich höher liege als ihr Anteil an der Wohnbevölkerung Deutschlands. Allerdings dürften die Tatverdächtigenbelastungszahlen, die vom Bundeskriminalamt seit 2024 mitgeteilt würden, nicht überbewertet werden, da sich die Zahl der tatsächlich zu einem bestimmten Zeitpunkt in Deutschland „ansässigen“ Ausländer nicht verlässlich ermitteln lasse. Als mögliche Gründe für die statistische Höherbelastung von Ausländern nannte Meier einen stärkeren Kontrolldruck durch Strafanzeigen und häufigere polizeiliche Kontrollen. Eine andere Hypothese gehe dahin, dass die Begehung einer Straftat in Konfliktsituationen für Migranten aufgrund biographischer Entwicklungen und Erfahrungen häufiger als für Deutsche als akzeptable Handlungsalternative erscheine. Meier betonte, dass sich aus solchen kriminologisch begründeten Annahmen keine einfachen Lösungen für die Prävention von Kriminalität ableiten ließen.
Adema berichtete über Untersuchungen zum Einfluss der wachsenden Zahl ausländischer Staatsangehöriger auf die Kriminalitätsbelastung. Danach ist die Kriminalitätsbelastung Nichtdeutscher insgesamt höher als bei deutschen Staatsangehörigen, selbst wenn man Geschlecht, Alter und Wohnort konstant hält. Der Anteil von Tatverdächtigen sei bei Asylsuchenden und Personen mit geduldetem Aufenthaltsstatus besonders hoch, bei anerkannten Flüchtlingen hingegen deutlich niedriger. Es gebe keine Beweise für eine kulturelle Prädisposition bestimmter ausländischer Gruppen. Bemerkenswert sei auch, dass ein Anstieg des Anteils von Ausländern an einem Ort nicht zu einer Erhöhung der lokalen Kriminalitätsrate führe. Eine plausible Erklärung hierfür sei, dass Ausländer häufiger in Städte mit bereits hoher Kriminalitätsrate ziehen.
In der Diskussion wurden die differenzierenden Interpretationen der statistischen Befunde zur Ausländerkriminalität durch beide Referenten begrüßt. Auf Nachfrage erläuterte Meier, dass für die Annahme, dass die Bereitschaft zur Erstattung einer Strafanzeige gegenüber ausländischen Verdächtigen generell größer sei, nur begrenzte empirische Belege vorhanden seien.
IV. Fazit
Die Tagung spannte einen weiten Bogen von grundlegenden, philosophisch geprägten Überlegungen zu Verbrechen und Strafe bis zu ganz aktuellen, die kriminalpolitische Diskussion der 2020er Jahre bestimmenden Fragen. Das hohe Gesprächsniveau zeigte einmal mehr die im Kriminalpolitischen Kreis versammelte Expertise. Im Herbst 2026 soll sich die nächste Jahrestagung des Kreises mit Fragen der Sexualdelikte beschäftigen.
[1] Die bisherigen Arbeiten des KriK können auf der Website www.kriminalpolitischerkreis.de abgerufen werden.