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Verbot geschäftsmäßiger Sterbehilfe verfassungswidrig – BVerfG, Urt. v. 26.2.2020 – 2 BvR 2347/15, 2 BvR 651/16, 2 BvR 1261/16, 2 BvR 1593/16, 2 BvR 2354/16, 2 BvR 2527/16

Volltext der Entscheidung

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Leitsätze: 

1. a) Das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) umfasst als Ausdruck persönlicher Autonomie ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben.

b) Das Recht auf selbstbestimmtes Sterben schließt die Freiheit ein, sich das Leben zu nehmen. Die Entscheidung des Einzelnen, seinem Leben entsprechend seinem Verständnis von Lebensqualität und Sinnhaftigkeit der eigenen Existenz ein Ende zu setzen, ist im Ausgangspunkt als Akt autonomer Selbstbestimmung von Staat und Gesellschaft zu respektieren.

c) Die Freiheit, sich das Leben zu nehmen, umfasst auch die Freiheit, hierfür bei Dritten Hilfe zu suchen und Hilfe, soweit sie angeboten wird, in Anspruch zu nehmen.

2. Auch staatliche Maßnahmen, die eine mittelbare oder faktische Wirkung entfalten, können Grundrechte beeinträchtigen und müssen daher von Verfassungs wegen hinreichend gerechtfertigt sein. Das in § 217 Abs. 1 StGB strafbewehrte Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung macht es Suizidwilligen faktisch unmöglich, die von ihnen gewählte, geschäftsmäßig angebotene Suizidhilfe in Anspruch zu nehmen.

a) Das Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung ist am Maßstab strikter Verhältnismäßigkeit zu messen.

b) Bei der Zumutbarkeitsprüfung ist zu berücksichtigen, dass die Regelung der assistierten Selbsttötung sich in einem Spannungsfeld unterschiedlicher verfassungsrechtlicher Schutzaspekte bewegt. Die Achtung vor dem grundlegenden, auch das eigene Lebensende umfassenden Selbstbestimmungsrecht desjenigen, der sich in eigener Verantwortung dazu entscheidet, sein Leben selbst zu beenden, und hierfür Unterstützung sucht, tritt in Kollision zu der Pflicht des Staates, die Autonomie Suizidwilliger und darüber auch das hohe Rechtsgut Leben zu schützen.

4. Der hohe Rang, den die Verfassung der Autonomie und dem Leben beimisst, ist grundsätzlich geeignet, deren effektiven präventiven Schutz auch mit Mitteln des Strafrechts zu rechtfertigen. Wenn die Rechtsordnung bestimmte, für die Autonomie gefährliche Formen der Suizidhilfe unter Strafe stellt, muss sie sicherstellen, dass trotz des Verbots im Einzelfall ein Zugang zu freiwillig bereitgestellter Suizidhilfe real eröffnet bleibt.

5. Das Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung in § 217 Abs. 1 StGB verengt die Möglichkeiten einer assistierten Selbsttötung in einem solchen Umfang, dass dem Einzelnen faktisch kein Raum zur Wahrnehmung seiner verfassungsrechtlich geschützten Freiheit verbleibt.

6. Niemand kann verpflichtet werden, Suizidhilfe zu leisten.

Auszug aus den Gründen:
[…]

IV. (Verfassungsbeschwerden)

33  1. Die beiden Beschwerdeführer zu I. 1. und I. 2. sind Mitglieder des Beschwerdeführers zu II., eines sogenannten Sterbehilfevereins, und möchtenzu gegebener Zeit dessen Angebot einer Suizidhilfe in Anspruch nehmen.

34   a) Beide Beschwerdeführer haben sich angesichts langjähriger, unheilbarer Erkrankungen und aufgrund von Erlebnissen qualvollen Sterbens im engen Familienkreis für einen selbstbestimmten Tod durch assistierten Suizid entschieden. Sie fürchten, bei weiterem Fortschreiten ihrer Erkrankungen unter Verlust ihrer Selbstbestimmung auf die Hilfe anderer angewiesen zu sein. Eine Pflege durch Dritte, etwa in Palliativeinrichtungen oder Pflegeheimen, lehnen sie ab. Aus diesem Grund sind sie dem Beschwerdeführer zu II. beigetreten und haben von diesem vor Inkrafttreten von § 217 StGB die Zusage zu einer Suizidhilfe erhalten. Bereits das Wissen um diese Zusage hat ihnen nach eigenem Vorbringen in der Vergangenheitgeholfen, Situationen starker Schmerzen und großen Leidens durchzustehen. Angehörige oder Freunde, die bereit wären, ihnen assistierend zur Seite zu stehen, wenn sich der Sterbewunsch infolge akuter Verschlechterung des gesundheitlichen Zustandes konkretisieren sollte, haben die Beschwerdeführer nicht.

35   b) Die Beschwerdeführer sehen sich durch das Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung in ihrem aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht nach Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG abzuleitenden

Selbstbestimmungsrecht, hilfsweise in ihrem Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) verletzt. […]

41   2. Der Beschwerdeführer zu II. ist ein in Deutschland eingetragener Verein, dessen satzungsgemäßer Zweck darin besteht, das „Recht auf Selbstbestimmung bis zum letzten Atemzug“ in Deutschland nach schweizerischem Vorbild zu verankern und seine Mitglieder bei der Durchsetzung dieses Rechts zu unterstützen.

42   a) Das Angebot des Beschwerdeführers beschränkte sich bis zum Inkrafttreten des § 217 StGB nicht auf beratende und unterstützendeDienstleistungen im Zusammenhang mit dem Abfassen und Durchsetzen von Patientenverfügungen, Vorsorgevoll- machten undBetreuungsverfügungen, sondern schloss auch Suizidbegleitungen ein. Der Verein kennt vier Formen der Mitgliedschaft: eine Mitgliedschaft zu einem monatlichen Beitrag von 50 Euro, die ein Anrecht auf Suizidbegleitung nicht einschließt, und drei Mitgliedschaften, die sich – orientiert an der Höheeines einmalig zu entrichtenden Beitrags zwischen 200 und 7.000 Euro – in der Länge der Wartezeit bis zur Suizidbegleitung unterscheiden. Trotz dieser Mitgliedsbeiträge verfolgt der Verein seinen ethischen Grundsätzen zufolge keine wirtschaftlichen oder gewerblichen Zielsetzungen. Die Mitglieder des Vorstands üben ihre Tätigkeit ehrenamtlich aus und erhalten weder eine Vergütung noch eine Aufwands- oder Auslagenpauschale. Insbesondere Suizidbegleitungen erfolgen ausschließlich ehrenamtlich. Die Vergütungen, die der Geschäftsführer des Vereins und sonstige angestellteund freie Mitarbeiter erhalten, beziehen sich nicht auf Suizidbegleitungen, sondern ausschließlich auf die übrigen Tätigkeiten, die sie für den Beschwerdeführer ausüben. Die Annahme von Geschenken oder Geld anlässlich einer Suizidbegleitung ist verboten.

43   Die Vereinsmitgliedschaft ist an die Volljährigkeit und entweder die deutsche oder schweizerische Staatsangehörigkeit oder einen Wohnsitz in Deutschland oder der Schweiz geknüpft.

44   Eine Suizidbegleitung durch den Beschwerdeführer setzt nach den von seinem Vorstand gemäß § 2 Abs. 1 Satz 4 der Vereinssatzung beschlossenenethischen Grundsätzen insbesondere voraus, dass die uneingeschränkte Einsichts- und Willensfähigkeit des Sterbewilligen durch ein ärztliches Gutachten nachgewiesen und der Sterbewunsch trotz Aufklärung über alternative medizinische Optionen wohlerwogen und unumstößlich ist. Der Sterbewillige muss ferner über das Risiko eines Fehlschlags und die spezifischen Risiken der von ihm gewählten Suizidmethode aufgeklärt werden. Die Einhaltung dieser Vorgaben ist zu dokumentieren. Zur Durchführung der Selbsttötung findet in der Regel eine Medikamentenmixtur Anwendung, die der Beschwerdeführer den Betroffenen über kooperierende Ärzte und Pharmazeuten vermittelt. Die Zusammensetzung der Mixtur legt der Beschwerdeführer nicht  offen. […]

46   b) Der Beschwerdeführer zu II. sieht sich in seinem Grundrecht aus Art. 9 Abs. 1 GG verletzt. […]

56   3. a) Bei den Beschwerdeführern zu III. 1. bis III. 6. handelt es sich um zwei sogenannte Sterbehilfevereine mit Sitz in der Schweiz und in Deutschland und deren organschaftliche Vertreter und Mitarbeiter.

57   aa) Der Beschwerdeführer zu III. 1. ist ein Verein nach schweizerischem Recht mit Sitz im schweizerischen Forch.

58   Der Verein hat gemäß seinen Statuten zum Zweck, seinen Mitgliedern „ein menschenwürdiges Leben wie auch ein menschenwürdiges Sterben zu sichern, auch weiteren Personen bei der Durchsetzung dieses Menschenrechts behilflich zu sein und für dessen weltweite Verwirklichung zu kämpfen“. Ebenso wie bei dem Beschwerdeführer zu II. umfasst die Tätigkeit des Vereins, allerdings beschränkt auf das schweizerische Staatsgebiet, neben allgemeinen Beratungsleistungen im Bereich der Pflege und des Patientenschutzes auch die Sterbebegleitung und die Assistenz zur Selbsttötung. Er verfolgt dabei nach Art. 2 Abs. 4 seiner Statuten ebenfalls keine Erwerbszwecke. Der Verein finanziert sich über Beiträge seinerMitglieder, Legate, Spenden und Eintrittsgebühren.

59   Die Mitgliedschaft ist nicht an einen Wohnsitz in der Schweiz oder an die schweizerische Staatsangehörigkeit geknüpft. Gemäß Art. 3 Abs. 1 derVereinsstatuten unter- scheidet der Verein bei der Mitgliedschaft zwischen Aktivmitgliedern, Kuratoriumsmitgliedern und sogenannten Destinatär-Mitgliedern. Nur letztere haben einen Anspruch auf Suizidhilfe. Neben einer einmaligen Eintrittsgebühr in Höhe von 200 CHF betrugen die jährlichen Beiträge für Destinatär-Mitglieder zuletzt 80 CHF. Bei Inanspruchnahme einer Suizidhilfe fallen zusätzliche Kosten an; für die Vorbereitung 3.500CHF, für die Durchführung weitere 2.500 CHF und für die fakultative Abwicklung der erforderlichen Formalitäten mit den Bestattungs- und Zivilstandsämtern 1.000 CHF. Mitglieder, die in bescheidenen finanziellen Verhältnissen leben, können auf Antrag ganz oder teilweise von der Zahlung der Eintrittsgebühr und der Beiträge befreit werden.

60   Nach den Statuten des Vereins ist eine Suizidhilfe daran geknüpft, dass der Sterbewillige unter einer zum Tode führenden Krankheit, einer unzumutbaren Behinderung oder nicht beherrschbaren Schmerzen leidet, keine Anhaltspunkte für eine eingeschränkte Urteilsfähigkeit vorliegen und der Sterbewunsch nicht nur vorübergehend besteht. Die Prüfung dieser Voraussetzungen erfolgt in einem ersten Schritt aufgrund einer vomSterbewilligen persönlich verfassten Darlegung der Gründe seines Sterbewunsches und einer vorzulegenden medizinischen Dokumentation seiner Krankheits- und Behandlungsgenese, die ein mit dem Beschwerdeführer kooperierender Arzt prüft. Fällt diese Prüfung positiv aus, erteilt derBeschwerdeführer dem Betroffenen ein sogenanntes provisorisches grünes Licht. Die tatsächliche Gewährung der Suizidhilfe steht dann noch unter dem Vorbehalt zweier persönlicher ärztlicher Konsultationen. Bestehen auch danach aus Sicht des Arztes keine Zweifel an der fehlerfreien Willensbildung des Betroffenen, stellt der Arzt ein Rezept für eine letale Dosis Natrium-Pentobarbital zu Händen des Beschwerdeführers aus. […]

62   bb) Die Vermittlung von Personen aus Deutschland erfolgte seit 2005 durch den Beschwerdeführer zu III. 2.

[…]

64   Mit Inkrafttreten des § 217 StGB hat der Beschwerdeführer seine Vermittlungspraxis eingestellt. […]

68   b) Die Beschwerdeführer zu III. sehen sich als Adressaten des Verbots der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung in Grundrechten verletzt. Sie machen geltend, durch § 217 StGB daran gehindert zu sein, den auf die Suizidhilfe gerichteten Teil ihrer Tätigkeit weiter auszuüben. Zudem rügen sie einen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 2 GG. […]

75   5. Die Beschwerdeführer zu V. sind ebenfalls Ärzte. Sie sind sowohl in der stationären als auch der ambulanten Palliativversorgung tätig. […]

77   b) aa) In Übereinstimmung mit dem Beschwerdeführer zu IV. machen sie geltend, dass § 217 StGB die Straffreiheit restriktiv praktizierter ärztlicherSuizidhilfe aufgrund seiner mangelnden Bestimmtheit ebenso wenig sicherstelle wie die Straffreiheit der ärztlichen Begleitung eines freiwilligenVerzichts auf  Nahrung und Flüssigkeit. Ergänzend machen sie geltend, dass die tatbestandliche Unschärfe der Regelung keine sichere Einordnung weiterer, in der Berufspraxis eines Arztes auftretender Grenzfälle erlaube. […]

78   Die Beschwerdeführer sehen sich, um diesen Strafbarkeitsrisiken zu entgehen, gezwungen, ihren Beruf unter Missachtung des im Patienteninteresse situativ Gebotenen und entgegen ihrem Selbstverständnis auszuüben, und dadurch in ihren Grundrechten aus Art. 4 Abs. 1 Var. 2 und Art. 12 Abs. 1 GG verletzt. […]

81   5. Das Verfahren 2 BvR 2527/16 umfasst   fünf Beschwerdeführer. […]

V. (Stellungnahmen)

88   Gelegenheit zur Äußerung gemäß § 94 Abs. 4 in Verbindung mit § 77 Nr. 1 des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht (Bundesverfassungsgerichtsgesetz – BVerfGG) hatten der Deutsche Bundestag, der Bundesrat, die Bundesregierung (Bundeskanzleramt und Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz) und alle Landesregierungen. […]

91   aa) Er [der Deutsche Bundestag, Anm. der Red.] hält die Verfassungsbeschwerden des Beschwerdeführers zu II., der Beschwerdeführer zu III. 1., III. 2. und III. 5. und der Beschwerdeführer zu V. bereits für teilweise unzulässig. […]

VI. (Mündliche Verhandlung)

178  Der Senat hat am 16. und 17. April 2019 eine mündliche Verhandlung durchgeführt, in der die Verfahrensbeteiligten ihr bisheriges Vorbringen vertiefthaben.

179 Als sachkundige Dritte sind angehört worden: […]

B. (Zulässigkeit)

181 I. Der Beschwerdeführer zu VI. 1. ist am 12. April 2019 verstorben. […]

184 II. Die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers zu III. 1., eines schweizerischen Sterbehilfevereins, ist unzulässig. […]

192 Die übrigen Verfassungsbeschwerden sind zulässig. […]

C (Begründetheit)

200 Die Verfassungsbeschwerden sind, soweit zulässig, auch begründet.

201 § 217 StGB verletzt die Beschwerdeführer zu I. 1., I. 2. und VI. 5. in ihrem aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht nach Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG abzuleitenden Recht auf selbstbestimmtes Sterben (I.). Die weiteren Beschwerdeführer sind, soweit sie Suizidhilfeim Rahmen beruflicher Tätigkeit erbringen möchten und die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen, durch das Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung in ihrem Grundrecht der Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) und im Übrigen in ihrer allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1GG) verletzt. Die Strafandrohung des § 217 StGB verletzt die Beschwerdeführer zu III. 3. bis III. 6., IV., V. 1. bis V. 4. sowie VI. 2. und VI. 3. zudemin ihrem Freiheitsrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 GG. Die Beschwerdeführer zu und III. 2. sind durch die an die Strafbarkeit der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung geknüpfte Bußgeldbewehrung nach § 30 Abs. 1 Nr. 1 OWiG in ihrem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG verletzt (II.). Einer verfassungskonformen Auslegung ist die Regelung des § 217 StGB nicht zugänglich (III.). Sie ist daher mit dem Grundgesetz unvereinbar und nichtig (IV.).

202  I. (Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts der Beschwerdeführer zu I. 1, I. 2. und VI. 5. )        

Das in § 217 StGB normierte Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung verletzt das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) von zur Selbsttötung entschlossenen Menschen in seiner Ausprägung als Recht auf selbstbestimmtes Sterben. Das gilt auch dann, wenn die Regelung in enger Auslegung ausschließlich die von Wiederholungsabsicht getragene Förderung einer Selbsttötung als Akt eigenhändiger Beendigung des eigenen Lebens erfasst.

203  Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG gewährleistet das Recht, selbstbestimmt die Entscheidung zu treffen, sein Leben eigenhändig bewusst und gewollt zu beenden und bei der Umsetzung der Selbsttötung auf die Hilfe Dritter zurückzugreifen (1.). In dieses Recht greift § 217 StGB ein (2.). Der Grundrechtseingriff ist nicht gerechtfertigt (3.). Die Anerkennung eines Rechts auf Selbsttötung und die hier festgelegten Grenzen seinerEinschränkbarkeit stehen im Einklang mit der Europäischen Menschenrechtskonvention (4.).

204   1. Das Recht des zur freien Selbstbestimmung und Eigenverantwortung fähigen Menschen, sich das Leben zu nehmen, ist vomGewährleistungsgehalt des allgemeinen Persönlichkeitsrechts (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) umfasst.

205  a) Die Achtung und der Schutz der Menschenwürde und der Freiheit sind grundlegende Prinzipien der Verfassungsordnung, die den Menschen als eine zu Selbstbestimmung und Eigenverantwortung fähige Persönlichkeit begreift (vgl. BVerfGE 5, 85 [204]; 45, 187 [227]). Das allgemeine Persönlichkeitsrecht schützt als „unbenanntes“ Freiheitsrecht Elemente der Persönlichkeit, die nicht Gegenstand der besonderen Freiheitsgarantien desGrundgesetzes sind, diesen aber in ihrer konstituierenden Bedeutung für die Persönlichkeit nicht nachstehen (st. Rspr. vgl. BVerfGE 99, 185 [193]; 101, 361 [380]; 106, 28 [39]; 118, 168 [183]; 120, 274 [303]; 147, 1 [19 Rn. 38v). […]

208  b) Danach umfasst das allgemeine Persönlichkeitsrecht als Ausdruck persönlicher Autonomie auch ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben, welches das Recht auf Selbsttötung einschließt (aa). Der Grundrechtsschutz erstreckt sich auch auf die Freiheit, hierfür bei Dritten Hilfe zu suchen und sie, soweit sie angeboten wird, in Anspruch zu nehmen (bb).

209  aa) (1) Die Entscheidung, das eigene Leben zu beenden, ist von existentieller Bedeutung für die Persönlichkeit eines Menschen. Sie ist Ausfluss des eigenen Selbstverständnisses und grundlegender Ausdruck der zu Selbstbestimmung und Eigenverantwortung fähigen Person. Welchen Sinn der Einzelne in seinem Leben sieht und ob und aus welchen Gründen sich eine Person vorstellen kann, ihr Leben selbst zu beenden, unterliegt höchstpersönlichen Vorstellungen und Überzeugungen. Der Entschluss betrifft Grundfragen menschlichen Daseins und berührt wie keine andere Entscheidung Identität und Individualität des Menschen. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht in seiner Ausprägung als Recht auf selbstbestimmtes Sterben umfasst deshalb nicht nur das Recht, nach freiem Willen lebenserhaltende Maßnahmen abzulehnen und auf diese Weise einem zum Todeführenden Krankheitsgeschehen seinen Lauf zu lassen (vgl. im Ergebnis auch BVerfGE 142, 313 [341 Rn. 79]; BGHSt 11, 111 [113 f.]; 40, 257 [260, 262]; 55, 191 [196 f. Rn. 18, 203 f. Rn. 31 ff.]; BGHZ 163, 195 [197 f.]). Das Recht auf selbstbestimmtes Sterben erstreckt sich auch aufdie Entscheidung des Einzelnen, sein Leben eigenhändig zu beenden. Das Recht, sich selbst das Leben zu nehmen, stellt sicher, dass der Einzelne über sich entsprechend dem eigenen Selbstbild autonom bestimmen und damit seine Persönlichkeit wahren kann (vgl. Bethge, in: Isensee/Kirchhof, HStRIX, 3. Aufl. [2011], § 203 Rn. 41, 44; Dreier, in: Dreier, GG, Bd. 1, 3. Aufl. [2013], Art. 1 Abs. 1 Rn. 154; Geddert- Steinacher, Menschenwürde als Verfassungsbegriff, 1990, S. 90 f.; Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 89 [Mai 2009]; Hufen, NJW 2018, 1524 [1525]; a.A.Lorenz, in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 2 Abs. 1 Rn. 54, 303 [April 2008] sowie Art. 2 Abs. 2 Satz 1 Rn. 420 [Juni 2012]; Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 1, 7. Aufl. [2018], Art. 2 Abs. 2 Rn. 192).

210  (2) Das Recht auf selbstbestimmtes Sterben ist als Ausdruck personaler Freiheit nicht auf fremddefinierte Situationen beschränkt. Das den innerstenBereich individueller Selbstbestimmung berührende Verfügungsrecht über das eigene Leben ist insbesondere nicht auf schwere oder unheilbareKrankheitszustände oder bestimmte Lebens- und Krankheitsphasen beschränkt. Eine Einengung des Schutzbereichs auf bestimmte Ursachen und Motive liefe auf eine Bewertung der Beweggründe des zur Selbsttötung Entschlossenen und auf eine inhaltliche Vorbestimmung hinaus, die dem Freiheitsgedanken des Grundgesetzes fremd ist. Abgesehen davon, dass eine solche Einschränkung in der Praxis zu erheblichen Abgrenzungsschwierigkeiten führen würde, träte sie in Widerspruch zu der das Grundgesetz bestimmenden Idee von der Würde des Menschen und seiner freien Entfaltung in Selbstbestimmung und Eigenverantwortung (vgl. BVerfGE 80, 138 [154] für die allgemeine Handlungsfreiheit). Die Verwurzelung des Rechts auf selbstbestimmtes Sterben in der Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG impliziert gerade, dass die eigenverantwortliche Entscheidung über das eigene Lebensende keiner weiteren Begründung oder Rechtfertigung bedarf. Art. 1 Abs. 1 GG schützt die Würde des Menschen, wie er sich in seiner Individualität selbst begreift und seiner selbst bewusst wird (vgl. BVerfGE 49, 286 [298]; 115, 1 [14]). Maßgeblich ist der Wille des Grundrechtsträgers, der sich einer Bewertung anhand allgemeiner Wertvorstellungen, religiöser Gebote, gesellschaftlicher Leitbilder für den Umgang mit Leben und Tod oder Überlegungen objektiver Vernünftigkeit entzieht (vgl. BVerfGE 128, 282 [308];142, 313 [339 Rn. 74] für Heileingriffe). Die Selbstbestimmung über das eigene Lebensende gehört zum „ureigensten Bereich der Personalität“ des Menschen, in dem er frei ist, seine Maßstäbe zu wählen und nach ihnen zu entscheiden (vgl. BVerfGE 52, 131 [175] abw. Meinung Hirsch, Nieblerund Steinberger für ärztliche Heileingriffe). Dieses Recht besteht in jeder Phase menschlicher Existenz. Die Entscheidung des Einzelnen, dem eigenen Leben entsprechend seinem Verständnis von Lebensqualität und Sinnhaftigkeit der eigenen Existenz ein Ende zu setzen, ist im Ausgangspunkt als Akt autonomer Selbstbestimmung von Staat und Gesellschaft zu respektieren.

211 (3) Das Recht, sich selbst zu töten, kann nicht mit der Begründung verneint werden, dass sich der Suizident seiner Würde begibt, weil er mit seinem Leben zugleich die Voraussetzung seiner Selbstbestimmung und damit seine Subjektstellung aufgibt (vgl. aus ethisch-moralischer Sicht aber Böckenförde, in: Stimmen der Zeit 2008, S. 245 [256]; ähnlich Niestroj, Die rechtliche Bewertung der Selbsttötung und die Strafbarkeit der Suizidbeteiligung, 1983, S. 75; Lorenz, in: Isensee/Kirchhof, HStR VI, 2. Aufl. [2001], § 128 Rn. 62; ders., JZ 2009, S. 57 [60]; a.A. etwa Antoine, Aktive Sterbehilfe in der Grundrechtsordnung, 2004, S. 236). Zwar ist das Leben die vitale Basis der Menschenwürde (vgl. BVerfGE 39, 1 [41 f.]; 88, 203 [252]; 115, 118 [152]). Daraus kann jedoch nicht der Schluss gezogen werden, dass eine auf einen freien Willen zurückgehende Selbsttötung der in Art. 1 Abs. 1 GG garantierten Menschenwürde widerspräche. Die Menschenwürde, die dem Einzelnen ein Leben in Autonomie gewährleistet, steht der Entscheidung des zur freien Selbstbestimmung und Eigenverantwortung fähigen Menschen, sich zu töten, nicht entgegen. Die selbstbestimmte Verfügung über das eigene Leben ist vielmehr unmittelbarer Ausdruck der der Menschenwürde innewohnenden Idee autonomer Persönlichkeitsentfaltung; sie ist, wenngleich letzter, Ausdruck von Würde. Der mit freiem Willen handelnde Suizident entscheidet sich als Subjekt fürden eigenen Tod (vgl. BVerfGE 115, 118 [160 f.]). Er gibt sein Leben als Person selbstbestimmt und nach eigener Zielsetzung auf. Die Würde des Menschen ist folglich nicht Grenze der Selbstbestimmung der Person, sondern ihr Grund: Der Mensch bleibt nur dann als selbstverantwortliche Persönlichkeit, als Subjekt anerkannt, sein Wert- und Achtungsanspruch nur dann gewahrt, wenn er über seine Existenz nach eigenen, selbstgesetzten Maßstäben bestimmen kann (vgl. Dreier, in: Dreier, GG, Bd. 1, 3. Aufl. [2013], Art. 1 Abs. 1 Rn. 154; Geddert-Steinacher, Menschenwürde als Verfassungsbegriff, 1990, S. 86 ff.; Nettesheim, AöR 130 [2005], S. 71 [105 f.]).

212  bb) Das von Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG geschützte Recht, sich selbst zu töten, umfasst auch die Freiheit, hierfür bei Dritten Hilfe zu suchen und Hilfe, soweit sie angeboten wird, in Anspruch zu nehmen.

213 Das Grundgesetz gewährleistet die Entfaltung der Persönlichkeit im Austausch mit Dritten, die ihrerseits in Freiheit handeln. Zur grundrechtlich geschützten Freiheit gehört daher auch die Möglichkeit, auf Dritte zuzugehen, bei ihnen Unterstützung zu suchen und von ihnen im Rahmen ihrer Freiheit angebotene Hilfe anzunehmen. Das gilt insbesondere auch für denjenigen, der erwägt, sein Leben eigenhändig zu beenden. Gerade er sieht sich vielfach erst durch die fachkundige Hilfe kompetenter und bereitwilliger Dritter, insbesondere Ärzte, in der Lage, hierüber zu entscheiden und gegebenenfalls seinen Suizidentschluss in einer für ihn zumutbaren Weise umzusetzen. Ist die Wahrnehmung eines Grundrechts von der Einbeziehungdritter Personen abhängig und hängt die freie Persönlichkeitsentfaltung in dieser Weise an der Mitwirkung eines anderen (vgl. Suhr, Entfaltung der Menschen durch die Menschen, 1976, S. 80 f., 84, 88 ff.), schützt das Grundrecht auch davor, dass es nicht durch ein Verbot gegenüber Dritten, im Rahmen ihrer Freiheit Unterstützung anzubieten, beschränkt wird.

214 2. § 217 StGB greift in das allgemeine Persönlichkeitsrecht der Beschwerdeführer zu I. 1., I. 2. und VI. 5. ein, auch wenn sie nicht unmittelbare Adressaten des § 217 StGB sind (a). Die Wirkung der Norm erschöpft sich nicht in dem bloßen Reflex eines anderen Zielen dienenden Gesetzes (b).

215 a) Der Grundrechtsschutz ist nicht auf unmittelbar adressierte Eingriffe beschränkt. Auch staatliche Maßnahmen, die eine mittelbare oder faktische Wirkung entfalten, können Grundrechte beeinträchtigen und müssen daher von Verfassungs wegen hinreichend gerechtfertigt sein. Sie können in ihrer Zielsetzung und Wirkung einem normativen und direkten Eingriff gleichkommen und müssen dann wie ein solcher behandelt werden (vgl. BVerfGE 105, 252 [273]; 110, 117 [191]).

216   Das in § 217 Abs. 1 StGB strafbewehrte Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung macht es den Beschwerdeführern faktischunmöglich, die von ihnen gewählte geschäftsmäßig angebotene Suizidhilfe in Anspruch zu nehmen, weil entsprechende Anbieter ihre Tätigkeit nach Inkrafttreten von § 217 StGB zur Vermeidung straf- und ordnungsrechtlicher Konsequenzen eingestellt haben. Da eine rechtfertigende Einwilligungaufgrund der Tatbestandsausgestaltung als abstraktes Gefährdungsdelikt, das einen über den Individualschutz hinausgehenden Rechtsgüterschutz verfolgt, nicht in Betracht  kommt (vgl. Berghäuser,  ZStW 2016, 741 [771 f.]; Oğlakcıoğlu, in: BeckOK StGB, § 217 Rn. 38 [November 2019]; Saliger, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen, StGB, Bd. 2, 5. Aufl. [2017], § 217 Rn. 32; Taupitz, medstra 2016, S. 323 [327]), wirkt sich das Verbot auch zu Lasten derjenigen aus, die sich, wie es die Beschwerdeführer zu I. 1. und I. 2. sowie zu VI. 5. geltend machen, selbstbestimmt, ohne äußeren Druck und wohlüberlegt zur Selbsttötung entschlossen haben.

217  b) Die Beeinträchtigungen treten nicht nur reflexartig als Folge eines anderen Zielen dienenden Gesetzes ein (vgl. BVerfGE 116, 202 [222 f.]). Sie sind von der Zweckrichtung des Gesetzes vielmehr bewusst umfasst und begründen damit in ihrer Zielsetzung und ihren mittelbar-faktischen Auswirkungen einen Eingriff auch gegenüber den suizidwilligen Personen (vgl. BVerfGE 148, 40 [51 Rn. 28] m.w.N.). Mit dem Verbot dergeschäftsmäßigen Suizidhilfe soll nach dem Willen des Gesetzgebers ein wirksamer Schutz der Selbstbestimmung und des Grundrechts auf Lebengerade dadurch erreicht werden, dass solche Angebote Suizidwilligen nicht mehr zur Verfügung stehen (vgl. BT-Drs. 18/5373, S. 2 f.).

218 Der von § 217 StGB ausgehende mittelbare Eingriff entfaltet dabei eine objektiv die Freiheit zum Suizid einschränkende Wirkung. Der Einzelne, der sein Leben mit der Hilfe geschäftsmäßig handelnder Dritter selbstbestimmt beenden möchte, ist gezwungen, auf Alternativen auszuweichen mit dem erheblichen Risiko, dass er mangels tatsächlicher Verfügbarkeit anderer zumutbarer Möglichkeiten einer schmerzfreien und sicheren Selbsttötungseinen Entschluss nicht realisieren kann (vgl. hierzu noch Rn. 280 ff.). Angesichts der existentiellen Bedeutung, die der Selbstbestimmung über das eigene Leben für die personale Identität, Individualität und Integrität zukommt, und des Umstands, dass die Ausübung des Grundrechts durch die Norm jedenfalls erheblich erschwert wird, wiegt der Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht der Beschwerdeführer auch besonders schwer.

219 3. Der Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht ist nicht gerechtfertigt.

220   Einschränkungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts bedürfen einer verfassungsmäßigen gesetzlichen Grundlage (a). Das in § 217 StGB normierte Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung ist am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu messen (b). Den sich daraus ergebenden Anforderungen genügt § 217 StGB nicht (c).

221 a) Das allgemeine Persönlichkeitsrecht ist der Einwirkung der öffentlichen Gewalt nicht vollständig entzogen. Der Einzelne muss staatliche Maßnahmen hinnehmen, wenn sie im überwiegenden Interesse der Allgemeinheit oder im Hinblick auf grundrechtlich geschützte Interessen Dritter unter strikter Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgebots ergriffen werden (vgl. BVerfGE 120, 224 [239] m.w.N.). Unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten bestehen für das allgemeine Persönlichkeitsrecht im Vergleich zum Schutz des Art. 2 Abs. 1 GG als allgemeineHandlungsfreiheit erhöhte Rechtfertigungsanforderungen. Diese sind besonders hoch, wenn es um Gewährleistungsgehalte geht, die einen spezifischen Bezug zu der Garantie der Menschenwürde aus Art. 1 Abs. 1 GG aufweisen. Dabei reichen die Garantien besonders weit, je mehr sich der Einzelne innerhalb seiner engsten Privatsphäre bewegt, und schwächen sich mit zunehmendem sozialen Kontakt nach außen ab (vgl. Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 2 Abs. 1 Rn. 157 ff. [Juli 2001]).

222   Die freiverantwortlich getroffene Entscheidung, das eigene Leben mit Hilfe Dritter zu beenden, bleibt nicht auf die engste Privatsphäre beschränkt. Sie ist zwar von höchstpersönlichem Charakter. Jedoch steht sie in Wechselwirkung mit dem Verhalten anderer (vgl. Suhr, Entfaltung der Menschen durch die Menschen, 1976, S. 80). Derjenige, der bei der Umsetzung seines Selbsttötungsentschlusses die geschäftsmäßig angebotene Hilfe eines Dritten in Anspruch nehmen möchte und solche Unterstützung nachfragt, wirkt in die Gesellschaft hinein. Angebote geschäftsmäßiger Suizidhilfe berühren deshalb nicht ausschließlich das Verhältnis zwischen dem aus freiem Entschluss handelnden Suizidwilligen und dem Suizidhelfer. Von ihnengehen Vor- und Folgewirkungen aus, die erhebliche Missbrauchsgefahren und Gefährdungen für die autonome Selbstbestimmung Dritter umfassen.

223 b) Das Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung ist am Maßstab strikter Verhältnismäßigkeit zu messen (vgl. BVerfGE 22, 180 [219]; 58, 208 [224 ff.]; 59, 275 [278]; 60, 123 [132]). Ein grundrechtseinschränkendes Gesetz genügt diesem Grundsatz nur, wenn es geeignetund erforderlich ist, um die von ihm verfolgten legitimen Zwecke zu erreichen, und die Einschränkungen des jeweiligen grundrechtlichen  Freiheitsraums  hierzu  in  angemessenem  Verhältnis  stehen (vgl. BVerfGE 30, 292 [316]; 67, 157 [173]; 76, [151]). Bei der Zumutbarkeitsprüfungist zu berücksichtigen, dass Regelungen der assistierten Selbsttötung sich in einem Spannungsfeld unterschiedlicher verfassungsrechtlicher Schutzaspekte bewegen. Die Achtung vor dem grundlegenden, auch das eigene Lebensende umfassenden Selbstbestimmungsrecht desjenigen, der sich in eigener Verantwortung dazu entscheidet, sein Leben selbst zu beenden, und hierfür Unterstützung sucht (vgl. Rn. 208 ff.), tritt in Kollision zuder Pflicht des Staates, die Autonomie Suizidwilliger und darüber auch das hohe Rechtsgut Leben zu schützen. Diese sind von Einwirkungen undPressionen freizuhalten, welche sie gegenüber Suizidhilfeangeboten in eine Rechtfertigungslage bringen könnten.

224 Dieses Spannungsverhältnis aufzulösen, ist grundsätzlich Aufgabe des Gesetzgebers. Die staatliche Schutzpflicht bedarf der Ausgestaltung und Konkretisierung (vgl. BVerfGE 88, 203 [254]). Dabei kommt dem Gesetzgeber ein Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsraum zu (vgl.BVerfGE 96, 56 [64]; 121, 317 [356]; 133, 59 [76 Rn. 45]). Dessen Umfang hängt von Faktoren verschiedener Art ab, im Besonderen von der Eigenart des in Rede stehenden Sachbereichs, den Möglichkeiten, sich – zumal über künftige Entwicklungen wie die Auswirkungen einer Norm – ein hinreichend sicheres Urteil zu bilden, und der Bedeutung der betroffenen Rechtsgüter (vgl. BVerfGE 50, 290 [332 f.]; 76, 1 [51 f.]; 77, 170 [214f.]; 88, 203 [262]; 150, 1 [89 Rn. 173]).

225 Die verfassungsrechtliche Prüfung erstreckt sich darauf, ob der Gesetzgeber die genannten Faktoren ausreichend berücksichtigt und seinenEinschätzungsspielraum in vertretbarer Weise gehandhabt hat (vgl. BVerfGE 88, 203 [262]). Er hat dem Konflikt zwischen der Freiheits- und der Schutzdimension des Grundrechts angemessen Rechnung zu tragen.

226 c) Diesen Anforderungen genügt das in § 217 StGB normierte Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung nicht. Es dient zwar legitimenGemeinwohlzwecken (aa) und ist auch geeignet, diese zu erreichen (bb). Das Verbot ist bei nicht abschließend zu beurteilender Erforderlichkeit (cc) aber jedenfalls nicht angemessen (dd).

227 aa) Der Gesetzgeber verfolgt mit dem Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung einen legitimen Zweck. Die Regelung dient dazu, dieSelbstbestimmung des Einzelnen über sein Leben und hierdurch das Leben als solches zu schützen (1). Dieser Regelungszweck hat vor der Verfassung Bestand. Er bewegt sich innerhalb eines dem Gesetzgeber durch die Verfassung auferlegten Schutzauftrags (2). Die Annahme des Gesetzgebers, dass gerade von einem unregulierten Angebot geschäftsmäßiger Suizidhilfe Gefahren für die Selbstbestimmung und das Leben ausgehen können, beruht auf einer hinreichend tragfähigen Grundlage (3).

228 (1) Der Gesetzgeber will mit dem Verbot des § 217 StGB geschäftsmäßigen Angeboten der Suizidhilfe Einhalt gebieten, um die Selbstbestimmung unddas Grundrecht auf Leben zu schützen (vgl. BT-Drs. 18/5373, S. 2 f.).

229 Ziel des Gesetzes ist es zum einen, die Entwicklung der Beihilfe zum Suizid zu einem „Dienstleistungsangebot der gesundheitlichen Versorgung“ zu verhindern, das Menschen dazu verleiten könnte, sich das Leben zu nehmen (vgl. BT-Drs. 18/ 5373, S. 2). Nach Einschätzung des Gesetzgebers, die er auf die Entwicklung der assistierten Suizide in Deutschland und der Schweiz stützt (vgl. BT-Drs. 18/5373, S. 9), besteht die Gefahr, dass durchAngebote geschäftsmäßiger Suizidhilfe und deren Verbreitung der „Anschein einer Normalität“ oder sogar der sozialen Gebotenheit der Selbsttötung und auf diese Weise geradezu eine Art Erwartungsdruck erzeugt wird, diese Angebote auch wahrzunehmen. Es drohe eine „gesellschaftliche Normalisierung“ des assistierten Suizids einzutreten (vgl. BT-Drs. 18/5373, S. 2). Insbesondere alte und kranke Menschen könnten sich durch derartige, Normalität suggerierende Angebote zur Selbsttötung verleiten lassen oder dazu direkt oder indirekt gedrängt fühlen (vgl. BT-Drs. 18/5373, S. 2, 8, 11, 13, 17).

230   Zum anderen will der Gesetzgeber mit dem Verbot im Interesse des Integritäts- und Autonomieschutzes „autonomiegefährdenden Interessenkonflikten“ entgegenwirken (vgl. BT-Drs. 18/5373, S. 17) und einer sich hieraus allgemein ergebenden Gefahr „fremdbestimmterEinflussnahme in Situationen prekärer Selbstbestimmung“ vorbeugen (vgl. BT-Drs. 18/5373, S. 11). Das Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung beruht auf der Annahme, dass auf die technische Durchführung des Suizids konzentrierte Anstrengungen nicht auf einem sicher feststehenden Selbsttötungsentschluss aufbauen (vgl. BT-Drs. 18/5373, S. 11). Durch die Einbeziehung eines geschäftsmäßig handelnden Suizidhelfers, der spezifische, typischerweise auf die Durchführung des Suizids gerichtete Eigeninteressen verfolge, könnten die freie Willensbildung und Entscheidungsfindung und damit die personale Eigenverantwortlichkeit potentiell beeinflusst werden (vgl. BT-Drs. 18/5373, S. 11, 12, 17, 18).Dem ist nach Auffassung des Gesetzgebers mit einer autonomiesichernden Regelung zu begegnen (vgl. BT-Drs. 18/5373, S. 11).

231 (2) Mit diesen Zielen des Autonomie- und des Lebensschutzes dient das Verbot des § 217 StGB der Erfüllung einer in der Verfassung begründeten staatlichen Schutz-pflicht und damit einem legitimen Zweck. […]

234   Allerdings kann der Erhalt eines tatsächlich bestehenden oder mutmaßlichen Konsenses über Werte- oder Moralvorstellungen nicht unmittelbares Ziel strafgesetzgeberischer Tätigkeit sein (vgl. BVerfGE 120, 224 [264], abw. Meinung Hassemer). Suizidhilfe ausschließlich deshalb zu verbieten, weil die Selbsttötung und die Hilfe hierzu in Widerspruch zu der Mehrheitsauffassung in der Gesellschaft stehen, wie mit dem eigenen Leben, insbesondere im Alter und bei Krankheit, umzugehen ist, ist deshalb kein legitimes gesetzgeberisches Ziel. Ein Verbot geschäftsmäßiger Suizidhilfe allein zu dem Zweck, hierdurch die Anzahl assistierter Suizide gering zu halten, ist daher ebenso unzulässig wie jede Zielsetzung, die die Entscheidung des mit autonomem Willen handelnden Grundrechtsträgers, sich mit der Unterstützung Dritter bewusst und gewollt selbst zu töten, als solche missbilligt, tabuisiert oder mit einem Makel belegt.

235 Der Gesetzgeber darf aber einer Entwicklung entgegensteuern, welche die Entstehung sozialer Pressionen befördert, sich unter bestimmten Bedingungen, etwa aus Nützlichkeitserwägungen, das Leben zu nehmen. Der Einzelne darf – auch jenseits konkreter Einflussnahmen durch Dritte – nicht der Gefahr gesellschaftlicher Erwartungshaltungen ausgesetzt sein. Zwar kann Willensfreiheit nicht damit gleichgesetzt werden, dass der Einzelne bei seiner Entscheidung in vollkommener Weise frei von äußeren Einflüssen ist. Menschliche Entscheidungen sind regelmäßig von gesellschaftlichen und kulturellen Faktoren beeinflusst; Selbstbestimmung ist immer relational verfasst. Da der Schutz des Lebens dem Einzelnen von der Verfassung als nicht rechtfertigungsbedürftiger Selbstzweck zugesagt ist und er auf der unbedingten Anerkennung der Person in ihrer bloßenExistenz beruht, darf und muss der Gesetzgeber aber gesellschaftlichen Einwirkungen wirksam entgegentreten, die als Pressionen wirken können und das Ausschlagen von Suizidangeboten von Seiten Dritter rechtfertigungsbedürftig erscheinen lassen. Entsprechend kann er Vorkehrungen treffen, dass Personen nicht in schweren Lebenslagen in die Situation gebracht werden, sich mit solchen Angeboten auch nur näher befassen oder sich hierzu explizit verhalten zu müssen.

236 (3) Die Annahme des Gesetzgebers, das Angebot geschäftsmäßiger Suizidhilfe berge Gefahren für die Selbstbestimmung bei der Entscheidung über dieBeendigung des eigenen Lebens, denen es zur Erfüllung einer staatlichen Schutzverpflichtung entgegenzuwirken gelte, beruht auf einer vonVerfassungs wegen nicht zu beanstandenden Grundlage. […]

239  (b) Danach hält die Gefahrenprognose des Gesetzgebers einer verfassungsrechtlichen Prüfung stand. Der Gesetzgeber hat vertretbar vongeschäftsmäßiger Suizidhilfe ausgehende Gefahren für die autonome Selbstbestimmung über das eigene Leben angenommen. […]

260 bb) Die Regelung des § 217 StGB stellt als Strafnorm grundsätzlich ein geeignetes Instrument des Rechtsgüterschutzes dar, weil das strafbewehrte Verbot gefahrträchtiger Handlungsweisen den erstrebten Rechtsgüterschutz zumindest fördern kann (vgl. BVerfGE 90, 145 [172]; allgemein zumKriterium der Geeignetheit BVerfGE 30, 292 [316]; 33, 171 [187]).

261 Die Eignung wird nicht dadurch in Frage gestellt, dass der straffrei verbleibenden nicht geschäftsmäßigen Suizidhilfe, insbesondere im Fall von Angehörigen als Suizidhelfern, nach Auffassung einzelner Beschwerdeführer ein mindestens ebenso großes Gefahrenpotenzial für die Selbstbestimmung des Einzelnen innewohnt wie der geschäftsmäßigen Suizidhilfe durch Außenstehende. Die Entscheidung des Gesetzgebers, nur einer bestimmten von mehreren Gefahrenquellen zu begegnen, vermag Lücken des Rechtsgüterschutzes zu begründen. Soweit der Schutz reicht, wirdseine Eignung dadurch aber nicht infrage gestellt (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 11. August 1999 – 1 BvR 2181/98 u.a., Rn. 73).

262 Das Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung ist auch nicht deshalb ungeeignet, die mit ihm verfolgten Zwecke zu erreichen, weil esmöglicherweise im Einzelfall durch eine grenzüberschreitende Organisation der Suizidhilfe unter Einbindung von nach § 217 Abs. 2 StGB als Teilnehmer straffrei verbleibenden Personen umgangen werden könnte. Im Einzelfall unter besonderen Bedingungen straffrei verbleibende Möglichkeiten geschäftsmäßiger Suizidhilfe vermögen die generelle Eignung des § 217 StGB, das Leben und die Autonomie potentiell suizidwilliger Personen zu schützen, nicht zu entkräften (vgl. auch BVerfGE 96, 10 [23]). Die Straffreiheit geschäftsmäßig handelnder Suizidhelfer im Ausland istFolge der begrenzten Regelungshoheit des Gesetzgebers. Dass Angehörige und sonst nahestehende Personen im Sinne des § 217 Abs. 2 StGB im Fallder Teilnahme an einer aus dem Ausland heraus organisierten geschäftsmäßigen Suizidhilfe straffrei gestellt sind, geht auf eine bewusste Entscheidung des Gesetzgebers zurück (vgl. BT-Drs. 18/5373, S. 19).

263   cc) Ob die Regelung des § 217 StGB erforderlich ist, um die legitimen Schutzanliegen des Gesetzgebers zu erreichen, mag mit Blick auf die mangelnden empirischen Befunde zur Effektivität alternativer, weniger eingriffsintensiver Schutzmaßnahmen, wie sie auch imGesetzgebungsverfahren erwogen wurden (vgl. dazu Rn. 10 ff. sowie BT-Drs. 18/5373, S. 13 f.), zweifelhaft sein. Das kann hier jedoch offenbleiben.

264 dd) Die von der Vorschrift ausgehende Einschränkung des aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht abzuleitenden Rechts auf selbstbestimmtes Sterben ist jedenfalls nicht angemessen. Einschränkungen individueller Freiheit sind nur dann angemessen, wenn das Maß der Belastung des Einzelnen noch in einem vernünftigen Verhältnis zu den der Allgemeinheit erwachsenden Vorteilen steht (1). Dieses Maß überschreitet die von § 217 StGB für den Sterbewilligen ausgehende Belastung. Die Strafbarkeit der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung hat zur Folge, dass das Recht auf Selbsttötung als Ausprägung des Rechts auf selbstbestimmtes Sterben in bestimmten Konstellationen faktisch weitgehend entleert ist. Dadurch wird die Selbstbestimmung am Lebensende in einem wesentlichen Teilbereich außer Kraft gesetzt, was mit der existentiellen Bedeutung dieses Grundrechts nicht in Einklang steht (2).

265 (1) Angemessen ist eine Freiheitseinschränkung nur dann, wenn das Maß der Belastung des Einzelnen noch in einem vernünftigen Verhältnis zu den der Allgemeinheit erwachsenden Vorteilen steht (vgl. BVerfGE 76, 1 [51]). Um dies feststellen zu können, ist eine Abwägung zwischen den Gemeinwohlbelangen, deren Wahrnehmung der Eingriff in Grundrechte dient, und den Auswirkungen auf die Rechtsgüter der davon Betroffenen notwendig (vgl.   BVerfGE 92, 277 [327]). Hierbei müssen die Interessen des Gemeinwohls umso gewichtiger sein, je empfindlicher der Einzelne in seiner Freiheit beeinträchtigt wird (vgl. BVerfGE 36, 47 [59]; 40, 196 [227]; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/2, 1994, S. 790). Andererseits wird der Gemeinschaftsschutz umso dringlicher, je größer die Nachteile und Gefahren sind, die aus gänzlich freierGrundrechtsausübung erwachsen können (vgl. BVerfGE 7, 377 [404 f.]). Diese Prüfung am Maßstab des Übermaßverbots kann dazu führen, dass der an sich in legitimer Weise angestrebte Schutz zurückstehen muss, wenn das eingesetzte Mittel zu einer unangemessenen Beeinträchtigung der Rechtedes Betroffenen führen würde. Nur so kann die Prüfung der Angemessenheit staatlicher Eingriffe ihren Sinn erfüllen, geeignete und gegebenenfalls erforderliche Maßnahmen einer gegenläufigen Kontrolle mit Blick darauf zu unterwerfen, ob die eingesetzten Mittel unter Berücksichtigung der davon ausgehenden Grundrechtsbeschränkungen für den Betroffenen noch in einem angemessenen Verhältnis zu dem dadurch erreichbaren Rechtsgüterschutz stehen (vgl. BVerfGE 90, 145 [185]).

266 Dabei unterliegt die Entscheidung des Gesetzgebers einer hohen Kontrolldichte, wenn, wie im Fall des zur Prüfung gestellten Verbots der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung, schwere Grundrechtseingriffe in Frage stehen (vgl. BVerfGE 45, 187 [238]). Die existentielle Bedeutung, die der Selbstbestimmung speziell für die Wahrung personaler Individualität, Identität und Integrität im Umgang mit dem eigenen Leben zukommt (vgl. dazu Rn. 209), legt dem Gesetzgeber strenge Bindungen bei der normativen Ausgestaltung eines Schutzkonzepts im Zusammenhang mit der Suizidhilfe auf.

267   (2) Mit dem Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung durch § 217 StGB hat der Gesetzgeber die sich aus der existentiellen Bedeutung des Selbstbestimmungsrechts ergebenden Grenzen für eine Einschränkung dieses Rechts überschritten. Zwar vermag der hohe verfassungsrechtliche Rang der Rechtsgüter Autonomie und Leben, die § 217 StGB schützen will, den Einsatz des Strafrechts – auch in Form abstrakter Gefährdungsdelikte – grundsätzlich zu legitimieren (a). Die Straflosigkeit der Selbsttötung und der Hilfe dazu steht als Ausdruck der verfassungsrechtlich gebotenen Anerkennung individueller Selbstbestimmung jedoch nicht zur freien Disposition des Gesetzgebers (b). Dasstrafrechtliche Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung verengt die Möglichkeiten einer assistierten Selbsttötung in einem solchen Umfang, dass dem Einzelnen in diesem Bereich der Selbstbestimmung faktisch kein Raum zur Wahrnehmung verfassungsrechtlich geschützter Freiheit verbleibt (c).

268 (a) Der hohe verfassungsrechtliche Rang der Rechtsgüter Autonomie und Leben, die § 217 StGB schützen will, vermag den Einsatz des Strafrechts grundsätzlich zu legitimieren.

269 Bei der staatlichen Aufgabe, ein geordnetes menschliches Zusammenleben durch Schutz der elementaren Werte des Gemeinschaftslebens zu schaffen,zu sichern und durchzusetzen, kommt dem Strafrecht eine unverzichtbare Funktion zu (vgl. BVerfGE 123, 267 [408]). Im Einzelfall kann es die Schutzpflicht des Staates insbesondere gebieten, rechtliche Regelungen so auszugestalten, dass bereits die Gefahr von Grundrechtsverletzungen eingedämmt wird (vgl. BVerfGE 49, 89 [142]).

270 Der Gesetzgeber verfolgt mit dem Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung das Konzept eines bereichsspezifischen Rechtsgüterschutzes. § 217 StGB verbietet das geschäftsmäßige Gewähren, Verschaffen   oder Vermitteln einer Gelegenheit zur Selbsttötung als dasLeben abstrakt gefährdende Handlung (vgl. BT-Drs. 18/5373, S. 3, 14; vgl. auch Rn. 25). Das abstrakte Gefährdungsdelikt ist ein idealtypisches Instrument für einen vorbeugenden Rechtsgüterschutz. Es wirkt Gefahrenquellen in Form typisierter Risiken entgegen, ohne dass ein konkretes Schutzgut in seiner Existenz oder Sicherheit effektiv betroffen zu sein braucht (vgl. dazu bereits Rn. 25; vgl. allgemein Heine/Bosch, in: Schönke/Schröder, StGB, 30. Aufl. [2019], Vor § 306 Rn. 4; vgl. auch BVerfGE 90, 145 [203 f.], abw. Meinung Graßhof; Kasper, Verhältnismäßigkeit und Grundrechtsschutz im Präventionsstrafrecht, 2014, S. 410).

271 Durch diese Vorverlagerung des strafrechtlichen Schutzes werden zwar notwendigerweise auch Verhaltensweisen strafbewehrt, die im konkreten Einzelfall bei rückwirkender Betrachtung gar nicht zu einer Gefährdung hätten führen können (vgl. Stächelin, Strafgesetzgebung im Verfassungsstaat,1998, S. 94; Lagodny, Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte, 1996, S. 186). Verfassungsrechtlich ist der Gesetzgeber aber grundsätzlich nicht gehindert, aus generalpräventiven Gründen Handlungen, die lediglich generell geeignet sind, Rechtsgüter zu gefährden, unter Umständen schon in einem frühen Stadium zu unterbinden (vgl. BVerfGE 28, 175 [186, 188 f.]; 90, 145 [184]; vgl. auch BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des ErstenSenats vom 11. August 1999 – 1 BvR 2181/98 u.a., Rn. 92; kritisch BVerfGE 90, 145 [205 f.], abw. Meinung Graßhof). Anderenfalls nähme man dem Gesetzgeber die Möglichkeit, Gefahren für hochrangige Rechtsgüter zu begegnen, die aufgrund fehlender gesicherter wissenschaftlicher oder empirischer Erkenntnisse nicht exakt einschätzbar sind (vgl. Appel, Verfassung und Strafe, 1998, S. 572 f.). Im Einzelfall wird die Berechtigung zum Rückgriff auf den abstrakten Rechtsgüterschutz maßgeblich durch die Bedeutung des zu schützenden Rechtsguts bestimmt (vgl. Jäger, JZ 2015, S. 875 [882]).

272 Der hohe Rang, den die Verfassung dem Leben und der Autonomie beimisst, ist danach grundsätzlich geeignet, deren effektiven präventiven Schutz zu legitimieren, zumal ihnen im Bereich der Suizidhilfe besondere Gefahren drohen. Die empirisch gestützte Fragilität eines Selbsttötungsentschlusses(vgl. dazu Herdegen, in: Maunz/ Dürig, GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 89 [Mai 2009]) wiegt gerade deshalb besonders schwer, weil sich Entscheidungen über das eigene Leben naturgemäß dadurch auszeichnen, dass ihre Umsetzung unumkehrbar ist.

273  (b) Der legitime Einsatz des Strafrechts zum Schutz der autonomen Entscheidung des Einzelnen über die Beendigung seines Lebens findet seineGrenze aber dort, wo die freie Entscheidung nicht mehr geschützt, sondern unmöglich gemacht wird.

274 Die Straflosigkeit der Selbsttötung und der Hilfe dazu steht als Ausdruck der verfassungsrechtlich gebotenen Anerkennung individueller Selbstbestimmung nicht zur freien Disposition des Gesetzgebers. Der Verfassungsordnung des Grundgesetzes liegt ein Menschenbild zugrunde, dasvon der Würde des Menschen und der freien Entfaltung der Persönlichkeit in Selbstbestimmung und Eigenverantwortung bestimmt ist (vgl. BVerfGE 32, 98 [107 f.]; 108, 282 [300]; 128, 326 [376]; 138, 296 [339 Rn. 109]). Dieses Menschenbild hat Ausgangspunkt jedesregulatorischen Ansatzes zu sein.

275 Die staatliche Schutzpflicht zugunsten der Selbstbestimmung und des Lebens kann folgerichtig erst dort gegenüber dem Freiheitsrecht des Einzelnenden Vorrang erhalten, wo dieser Einflüssen ausgeliefert ist, die die Selbstbestimmung über das eigene Leben gefährden. Diesen Einflüssen darf die Rechtsordnung durch Vorsorge und durch Sicherungsinstrumente entgegentreten. Jenseits dessen ist die Entscheidung des Einzelnen, entsprechendseinem Verständnis von der Sinnhaftigkeit der eigenen Existenz dem Leben ein Ende zu setzen, hingegen als Akt autonomer Selbstbestimmunganzuerkennen.

276 Die Anerkennung des Rechts auf selbstbestimmtes Sterben versagt dem Gesetzgeber nicht, allgemeine Suizidprävention zu betreiben und insbesondere krankheitsbedingten Selbsttötungswünschen durch den Ausbau und die Stärkung palliativmedizinischer Behandlungsangebote entgegenzuwirken. Der Staat genügt seiner Schutzpflicht für ein Leben in Autonomie gerade nicht allein dadurch, dass er Angriffe unterbindet, die diesem von anderen Menschen drohen. Er muss auch denjenigen Gefahren für die Autonomie und das Leben entgegentreten, die in den gegenwärtigen und absehbaren realen Lebensverhältnissen begründet liegen und eine Entscheidung des Einzelnen für die Selbsttötung und gegen das Leben beeinflussen können (vgl. BVerfGE 88, 203 [258] für das ungeborene Leben).

277 Der Gesetzgeber darf sich seinen sozialpolitischen Verpflichtungen aber nicht dadurch entziehen, dass er autonomiegefährdenden Risiken durch die vollständige Suspendierung individueller Selbstbestimmung entgegenzuwirken sucht. Er kann weder Defiziten der medizinischen Versorgung und dersozialpolitischen Infrastruktur noch negativen Erscheinungsformen medizinischer Überversorgung, die jeweils geeignet sind, Ängste vor dem Verlust der Selbstbestimmung zu schüren und Selbsttötungsentschlüsse zu fördern, dadurch begegnen, dass er das verfassungsrechtlich geschützte Recht auf Selbstbestimmung außer Kraft setzt. Dem Einzelnen muss die Freiheit verbleiben, auf die Erhaltung des Lebens zielende Angebote auszuschlagen und eine seinem Verständnis von der Sinnhaftigkeit der eigenen Existenz entspringende Entscheidung, das eigene Leben mit Hilfe bereitstehender Dritterzu beenden, umzusetzen. Ein gegen die Autonomie gerichteter Lebensschutz widerspricht dem Selbstverständnis einer Gemeinschaft, in der die Würde des Menschen im Mittelpunkt der Werteordnung steht, und die sich damit zur Achtung und zum Schutz der freien menschlichen Persönlichkeit als oberstem Wert ihrer Verfassung verpflichtet. Angesichts der existentiellen Bedeutung, die der Freiheit zur Selbsttötung für die selbstbestimmte Wahrung der Persönlichkeit zukommen kann, muss die Möglichkeit hierzu bei realitätsgerechter Betrachtung immer gewährleistet sein (vgl. Rn. 208ff.).

278 (c) Diesen verfassungsrechtlich zwingend zu wahrenden Entfaltungsraum autonomer Selbstbestimmung verletzt das Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung. Die Regelung des § 217 StGB erkennt die verfassungsrechtlich geforderte Straflosigkeit der Selbsttötung und der Beihilfe hierzu zwar grundsätzlich an, indem sie ausschließlich die geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung als vom Gesetzgeber besonders autonomiegefährdend eingestuftes Phänomen einer Strafandrohung unterstellt (vgl. BT-Drs. 18/5373, S. 2). Das Verbot entfaltet sich aber nicht als isolierter Rechtsakt (aa). Es führt im Gefüge mit der bei seiner Einführung vorgefundenen Gesetzeslage vielmehr dazu, dass das Recht auf Selbsttötungin weiten Teilen faktisch entleert ist, weil die fortbestehende Straffreiheit nicht geschäftsmäßiger Suizidhilfe, der gesetzliche Ausbau von Angeboten der Palliativmedizin und des Hospizdienstes und die Verfügbarkeit von Suizidhilfeangeboten im Ausland nicht geeignet sind, die vom Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung ausgehende Einschränkung grundrechtlicher Freiheit auszugleichen. Der Einzelne kann auf die Inanspruchnahme dieser Alternativen nicht ohne Verletzung seines Selbstbestimmungsrechts verwiesen werden (bb).

279   (aa) § 217 StGB suspendiert mit seinem Ansatz eines Schutzes durch ein absolutes Verbot der geschäftsmäßigen Suizidhilfe die Selbstbestimmung des Einzelnen in dem von der Regelung erfassten Bereich vollständig, indem er den Entschluss zur Selbsttötung einem unwiderleglichen Generalverdacht mangelnder Freiheit und Reflexion unterstellt. Dadurch wird die verfassungsprägende Grundvorstellung des Menschen als eines in Freiheit zu Selbstbestimmung und Selbstentfaltung fähigen Wesens (vgl. BVerfGE 32, 98 [107 f.]; 108, 282 [300]; 128, 326 [376]; 138, 296 [339 Rn. 109]) in ihr Gegenteil verkehrt. Das im Allgemeinen legitime Anliegen des Rechtsgüterschutzes durch Einführung eines abstrakten Gefährdungsdelikts hat daher hier zugunsten weniger einschneidender Maßnahmen der Autonomiesicherung zurückzutreten, um der Selbstbestimmung tatsächlichen Raum zu belassen und den Einzelnen nicht zu einem Leben zu drängen, das in Widerspruch zu seinem Selbstbild und seinem Selbstverständnis steht.

280 Die Regelung des § 217 StGB ist zwar auf eine bestimmte – die geschäftsmäßige – Form der Förderung der Selbsttötung beschränkt. Auch der damit einhergehende Verlust an Autonomie ist aber jedenfalls so weit und so lange unverhältnismäßig, wie verbleibende Optionen nur eine theoretische, nichtaber die tatsächliche Aussicht auf Selbstbestimmung bieten. Die autonomiefeindliche Wirkung des § 217 StGB wird gerade dadurch intensiviert, dass dem Einzelnen in vielen Situationen jenseits geschäftsmäßiger Angebote der Suizidhilfe keine verlässlichen realen Möglichkeiten verbleiben, einen Entschluss zur Selbsttötung umzusetzen.

281 (bb) Weder eine nach § 217 StGB bei enger Auslegung straffrei verbleibende Suizidhilfe im Einzelfall (α) noch das Angebot der Palliativmedizin (β) oder die Verfügbarkeit von Suizidhilfeangeboten im Ausland (γ) verhelfen der verfassungsrechtlich gebotenen Selbstbestimmung am Lebensende hinreichend zur Durchsetzung.

282 (α) Der Gesetzgeber leitet die Angemessenheit des Verbots der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung daraus ab, dass die im Einzelfall geleistete, nicht geschäftsmäßige Suizidhilfe straffrei bleibe. Damit misst er innerhalb seines eigenen Regelungskonzepts der Möglichkeit einer solchen Suizidhilfe maßgebliche Bedeutung für die Wahrung und Verwirklichung des Rechts auf Selbstbestimmung bei (vgl. BT-Drs. 18/5373, S. 2, 13, 14).

283 Die stillschweigende Annahme des Gesetzgebers, Möglichkeiten zur assistierten Selbsttötung seien außerhalb geschäftsmäßiger Angebote tatsächlich verfügbar, nimmt indes nicht die Einheit der Rechtsordnung in Bedacht. Schließt der Gesetzgeber bestimmte Formen der Freiheitsausübung unter Verweis auf fortbestehende Alternativen aus, so müssen die verbleibenden Handlungsoptionen zur Grundrechtsverwirklichung auch tatsächlich geeignet sein. Diese Bedingung realer Wirkkraft gilt im Besonderen für das Recht auf Selbsttötung. Hier ist bereits die individuelle Gewissheit identitätsstiftend, tatsächlich eigener Vorstellung entsprechend handeln zu können. Dies entspricht der Erfahrung der Beschwerdeführer, die für den Fall individuell bestimmter Grenzen ihres persönlichen Leidens latente Selbsttötungsabsichten mit sich tragen. Insbesondere der Beschwerdeführer zu I. 2. hat in der mündlichen Verhandlung nachvollziehbar geschildert, dass die ihm vor Einführung des § 217 StGB erteilte Zusage einer Suizidhilfe wesentlich dazu beigetragen hat, das Schicksal der eigenen Erkrankung anzunehmen und sich diesem zunächst nicht im Wege der Selbsttötung zu entziehen. Die sachverständigen Auskunftspersonen aus den Bereichen der Psychiatrie und der Suizidforschung haben bestätigt, dass das Wissen um die Möglichkeit einer assistierten Selbsttötung zumindest bedingt suizidpräventiv wirken kann.

284 Wenn die Rechtsordnung bestimmte, für die Autonomie gefährliche Formen der Suizidhilfe, insbesondere die geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung, unter Strafe stellt, muss sie demnach zumindest sicherstellen, dass trotz des Verbots im Einzelfall ein Zugang zu freiwillig bereitgestellter Suizidhilfe real eröffnet bleibt. Dem wird der Verzicht auf ein umfassendes strafrechtliches Verbot der Suizidhilfe allein nicht gerecht. Ohne geschäftsmäßige Angebote der Suizidhilfe ist der Einzelne sowohl inner- als auch außerhalb eines bestehenden Behandlungsverhältnisses maßgeblich auf die individuelle Bereitschaft eines Arztes angewiesen, an einer Selbsttötung zumindest durch Verschreibung der benötigten Wirkstoffe assistierend mitzuwirken. Von einer solchen individuellen ärztlichen Bereitschaft wird man bei realistischer Betrachtungsweise nur im Ausnahmefallausgehen können. Genau auf diesen Umstand reagieren Sterbehilfevereine mit ihren Angeboten. Zum einen kann kein Arzt verpflichtet werden, Suizidhilfe zu leisten (αα), zum anderen wirken sich die berufsrechtlichen Verbote der Suizidhilfe, wie sie überwiegend im Standesrecht der Ärzte vorgesehen sind, zumindest faktisch handlungsleitend aus (ββ). […]

301 (cc) Schließlich sind Aspekte des Schutzes Dritter nicht geeignet, die von § 217 StGB ausgehende Beschränkung individueller Selbstbestimmung zu rechtfertigen. Der Einzelne muss sich im Sinne seiner Gemeinschaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit zwar diejenigen Schranken grundrechtlicher Freiheit gefallen lassen, die der Gesetzgeber zur Pflege und Förderung des sozialen Zusammenlebens in den Grenzen des bei dem gegebenen Sachverhalt allgemein Zumutbaren zieht. Allerdings muss dabei die Eigenständigkeit der Person gewahrt bleiben (vgl. BVerfGE 4, 7 [15 f.]; 59, 275 [279]). Anliegen des Schutzes Dritter, etwa die Vermeidung von Nachahmungseffekten oder die Eindämmung einer Sogwirkung geschäftsmäßiger Suizidhilfeangebote für in ihrer Selbstbestimmung fragile und deshalb schutzbedürftige Personen, können demnach zwar dem Grunde nach suizidpräventives Handeln legitimieren. Sie rechtfertigen aber nicht, dass der Einzelne die faktische Entleerung des Rechts auf Selbsttötung hinnehmen muss (Rn. 273 ff., insbes. Rn. 281 ff.).

302 4. Diese Bewertung steht im Einklang mit der Europäischen Menschenrechtskonvention, die als Auslegungshilfe für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite der Grundrechte heranzuziehen ist (vgl. BVerfGE 111, 307 [317 f.]; 149, 293 [328 Rn. 86]), und den vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte formulierten grundlegenden konventionsrechtlichen Wertungen (vgl. BVerfGE 148, 296 [354 Rn. 132, 379 f. Rn. 173 f.]).

303 Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, der das Recht des Einzelnen, darüber zu entscheiden, wann und wie er sein Leben beenden möchte, als Ausprägung des Rechts auf Achtung des Privatlebens nach Art. 8 Abs. 1 EMRK anerkennt, nimmt an, dass dieses Recht aus Gründen des Lebensschutzes Dritter und deren Autonomie zwar eingeschränkt, nicht aber vollständig außer Kraft gesetzt werden darf.

304 Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte folgt aus Art. 8 Abs. 1 EMRK das Recht, sein Leben selbstbestimmt nach individuellen Vorstellungen zu führen. In seiner Entscheidung Pretty v. The United Kingdom, die die Frage nach einem Recht auf assistierte Selbsttötung einer körperlich schwer erkrankten Person aufwarf, betont der Gerichtshof, dass die persönliche Autonomie einen wichtigen Grundsatz darstellt, welcher der Auslegung der Garantien des Art. 8 EMRK zugrunde liegt (vgl. EGMR, Pretty v. The United Kingdom, Urteil vom 29. April 2002, Nr. 2346/02, § 61). Unter Berücksichtigung des die Konvention bestimmenden Grundsatzes der Achtung der Menschenwürde und der Freiheit vertritt er die Auffassung, dass Art. 8 EMRK Vorstellungen zur Lebensqualität (notions of the quality of life) erfasst. In Zeiten zunehmenden Fortschritts in der Medizin und gestiegener Lebenserwartung darf niemand dazu gezwungen werden, entgegen dem eigenen Selbstverständnis und der persönlichen Identität bis ins hohe Alter oder im Zustand schweren körperlichen oder geistigen Verfalls weiterzuleben. Staat und Gesellschaft müssendie Entscheidung, körperliches und psychisches Leiden durch eine assistierte Selbsttötung zu beenden, respektieren (vgl. EGMR, Pretty v. The UnitedKingdom, Urteil vom 29. April 2002, Nr. 2346/02, §§ 64 f.). In der Rechtssache Haas v. Switzerland, die einen psychisch erkranktenBeschwerdeführer betraf, hat der Gerichtshof seine Rechtsprechung weiter präzisiert und ausdrücklich ausgesprochen, dass das Recht des Einzelnen,darüber zu entscheiden, wie und wann er sein Leben beenden möchte, einen Aspekt des Rechts auf Achtung seines Privatlebens nach Art. 8 EMRK darstellt. Voraussetzung hierfür ist jedoch, dass der Betroffene einen freien Willen bilden und danach handeln kann (vgl. EGMR, Haas v. Switzerland,Urteil vom 20. Januar 2011, Nr. 31322/07, § 51).

305 Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte erkennt aber auch an, dass sich Einschränkungen dieses Rechts nach Art. 8 Abs. 2 EMRK ausGründen des Lebensschutzes Dritter ergeben können. Bei der Abwägung zwischen dem Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen einerseits und der aus Art. 2 EMRK abgeleiteten Schutzpflicht des Staates für das Leben andererseits billigt er den Vertragsstaaten in diesem sensiblen Bereich indes einen erheblichen Einschätzungs- und Ermessensspielraum zu (vgl. EGMR, Pretty v. The United Kingdom, Urteil vom 29. April 2002, Nr. 2346/02, §§ 70 f.;Haas v. Switzerland, Urteil vom 20. Januar 2011, Nr. 31322/07, §§ 53, 55; Koch v. Deutschland, Urteil vom 19. Juli 2012, Nr. 497/09, § 70). Danach ist es in erster Linie Aufgabe der Vertragsstaaten, die von einer Suizidhilfe ausgehenden Risiken und Missbrauchsgefahren zu bewerten (vgl. EGMR, Pretty v. The United Kingdom, Urteil vom 29. April 2002, Nr. 2346/02, § 74). Wählt ein Land eine liberale Regelung, sind geeignete Maßnahmen zur Umsetzung und zur Prävention erforderlich, die auch Missbrauch zu verhindern haben (vgl. EGMR, Haas v. Switzerland, Urteil vom 20. Januar 2011, Nr. 31322/07, § 57). Wird die Entscheidung, sich selbst zu töten, nicht freien Willens und bei vollem Verständnis der Umstände getroffen, verpflichtet Art. 2 EMRK die staatlichen Behörden, die Selbsttötung zu verhindern. Das in Art. 2 EMRK garantierte Recht auf Leben verpflichtet die Staaten, vulnerable Personen – auch gegen selbstgefährdende Handlungen – zu schützen und ein Verfahren zu etablieren, welches sicherstellt, dass die Entscheidung, das eigene Leben zu beenden, tatsächlich dem freien Willen des Betroffenen entspricht (vgl. EGMR, Haas v. Switzerland, Urteil vom 20. Januar 2011, Nr. 31322/07, §§ 54, 58). Andererseits betont der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte aber auch, dass das Recht, selbst zu bestimmen, wann und auf welche Art das eigene Leben enden soll, nicht nur theoretisch oder scheinbar (merely theoretical or illusory) bestehen darf(vgl. EGMR, Haas v. Switzerland, Urteil vom 20. Januar 2011, Nr. 31322/ 07, §§ 59 f.).

306 II. (Begründetheit der übrigen Verfassungsbeschwerden)

Die Verfassungsbeschwerden der übrigen Beschwerdeführer sind ebenfalls begründet. § 217 StGB stellt keine verfassungsmäßige Beschränkung ihrer Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG), subsidiär der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG), dar (1.). Die Regelung verletzt diejenigen Beschwerdeführer, die als natürliche Personen Adressaten der Strafandrohung sind, zudem in ihrem Freiheitsrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 inVerbindung mit Art. 104 Abs. 1 GG (2.). Die Beschwerdeführer zu II. und III. 2. sind ferner auch durch die an die Strafbarkeit der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung geknüpfte Bußgeldbewehrung nach § 30 Abs. 1 Nr. 1 OWiG in ihrem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG verletzt (3.).

307 1. (Grundrechtsverletzung durch die Verbotsnorm des § 217 StGB)

Für die beschwerdeführenden Ärzte und Rechtsanwälte ergibt sich, soweit sie deutsche Staatsangehörige sind, der verfassungsrechtliche Schutz gegenüber dem Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung aus Art. 12 Abs. 1 GG (a). Für die Beschwerdeführerin zu VI. 2. als Ärztin mit schweizerischer Staatsbürgerschaft, die beschwerdeführenden deutschen Vereine und ihre organschaftlichen Vertreter und Mitarbeiter streitetjedenfalls der Schutz der allgemeinen Handlungsfreiheit (b). Der Eingriff in diese Grundrechte ist nicht verfassungsrechtlich gerechtfertigt (c).

308 a) Die Beschwerdeführer zu III. 6., IV., V. 1. bis V. 4. und VI. 3. als deutsche Ärzte und Rechtsanwälte sind durch § 217 StGB zwar nicht in ihrer durch Art. 4 Abs. 1 Var. 2 GG geschützten Gewissensfreiheit (aa), aber im Grundrecht der Berufsfreiheit (bb) betroffen.

309 aa) Gewissensentscheidung ist nicht bereits jede relative Entscheidung über die Zweckmäßigkeit menschlichen Verhaltens aufgrund ernsthafter und nachdrücklicher Auffassung von guter politischer Ordnung und Vernunft, sozialer Gerechtigkeit und wirtschaftlicher Nützlichkeit, sondern ausschließlich die ernste sittliche, an den Kategorien von Gut und Böse orientierte Entscheidung, die der Einzelne in einer bestimmten Lage als für sichbindend und unbedingt verpflichtend innerlich erfährt, sodass er gegen sie nicht ohne ernste Gewissensnot handeln könnte (vgl. BVerfGE 12, 45 [55]; 48, 127 [173 f.]). Die aufgrund einer solchen Gewissensentscheidung erfolgende Gewährung, Verschaffung oder Vermittlung einer Gelegenheit zur Selbsttötung, die als solche gerade nicht von einer Wiederholungsabsicht getragen ist, ist keine geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung und wird von § 217 Abs. 1 StGB (vgl. BT-Drs. 18/5373, S. 2, 18) nicht erfasst.

310 bb) Die Regelung des § 217 StGB greift aber in die Berufsfreiheit von Ärzten und Rechtsanwälten mit deutscher Staatsangehörigkeit jedenfalls insoweit ein, als sie ihnen unter Strafandrohung untersagt, im Rahmen ihrer ärztlichen oder anwaltlichen Berufsausübung – einer auf Dauer angelegtenund der Schaffung und Aufrechterhaltung einer Lebensgrundlage dienenden Tätigkeit (vgl.       BVerfGE 7, 377 [397]; 54, 301 [313]; 102,197 [212]; 110, 304 [321]; 126, 112 [136]) – geschäftsmäßig Gelegenheit zur Selbsttötung zu gewähren, zu verschaffen oder zu vermitteln.

311 Eine als Teil einer beruflichen Tätigkeit erbrachte Suizidhilfe ist nicht von vornherein vom Schutzbereich der Berufsfreiheit ausgenommen (a.A. BT-Drs. 18/5373, S. 12 in Anlehnung an VG Hamburg, Beschluss vom 6. Februar 2009 – 8 E 3301/08 -, juris; Lorenz, MedR 2010, S. 823 [824];Neumann, Die Mitwirkung am Suizid als Straf- tat?, 2014, S. 266). Insbesondere das einfachgesetzliche Verbot des § 217 StGB selbst schließt dasgeschäftsmäßige Fördern der Selbsttötung nicht vom grundrechtlichen Schutz durch die Berufsfreiheit aus, weil der Gewährleistungsgehalt dieserGarantie als verfassungsrechtlicher Maßstab für ein gesetzliches Verbot nicht durch das einfache Recht bestimmt werden kann (vgl. BVerfGE 115, 276 [300 f.]; vgl. auch Lorenz, MedR 2010, S. 823 [825]).

312 Eine Versagung des grundrechtlichen Schutzes kommt allenfalls hinsichtlich solcher Tätigkeiten in Betracht, die schon ihrem Wesen nach als verboten anzusehen sind, weil sie aufgrund ihrer Sozial- und Gemeinschaftsschädlichkeit schlechthin nicht am Schutz durch das Grundrecht der Berufsfreiheit teilhaben können (vgl. BVerfGE 115, 276 [300 f.]; 117, 126 [137]). Dies trifft auf die Suizidhilfe auch dann nicht zu, wenn sie in geschäftsmäßiger Form erbracht wird.

313   b) Die Beschwerdeführerin zu VI. 2. als Ärztin mit schweizerischer Staatsbürgerschaft, die Beschwerdeführer zu II. und III. 2. als deutsche Vereine und die Beschwerdeführer zu III. 3. bis III. 5. als deren organschaftliche Vertreter und Mitarbeiter werden durch das Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung nicht in speziellen Freiheitsrechten beeinträchtigt (aa), sondern können lediglich den subsidiären Schutz der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) beanspruchen (bb).

314 aa) Die Beschwerdeführer können sich weder auf den Schutz der Berufsfreiheit (1) noch auf denjenigen der Vereinigungsfreiheit (2) berufen.

315 (1) Der Schutz der Berufsfreiheit ist für die Beschwerdeführer zu III. 3. und III. 5. sowie die Beschwerdeführerin zu VI. 2. bereits in persönlicher Hinsicht nicht eröffnet (a). Für die übrigen Beschwerdeführer ist das ihnen durch § 217 StGB untersagte Handeln jedenfalls nicht Teil einer den Schutz des Art. 12 Abs. 1 GG genießenden beruflichen Tätigkeit (b).

316 (a) Die Beschwerdeführer zu III. 3. und III. 5. sowie die Beschwerdeführerin zu VI. können sich als schweizerische Staatsangehörige in persönlicher Hinsicht nicht auf den Schutz des Grundrechts der Berufsfreiheit berufen. Dieser ist gemäß Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG Deutschen im Sinne des Art. 116 Abs. 1 GG vorbehalten.

317 (b) Die Beschwerdeführerin zu III. 4. (aa) und die beschwerdeführenden Vereine (bb) haben bei dem Bereitstellen eines Angebots der Suizidhilfe keine berufliche Tätigkeit im Sinne des Art. 12 Abs. 1 GG ausgeübt. […]

325 (b) Der sachliche Schutzbereich der Vereinigungsfreiheit ist durch die Strafbarkeit der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung und eine daran geknüpfte Bußgeldbewehrung nach § 30 Abs. 1 Nr. 1 OWiG jedoch nicht betroffen.

326 (aa) Art. 9 Abs. 1 GG gewährleistet das Recht, Vereine und Gesellschaften zu bilden. Dieser Schutz umfasst das Recht auf Entstehen und Bestehen inder gewählten gemeinsamen Form (vgl. BVerfGE 13, 174 [175]; 80, 244 [253]). Dieses Recht schließt nicht nur für Mitglieder, sondern auch für dieVereinigung selbst zunächst ihre Gründung und ihren Bestand, daneben aber zwecks Gewährleistung eines effektiven Grundrechtsschutzes auch ein Recht auf Betätigung im Sinne eines Kernbereichs der Vereinstätigkeit ein (vgl. BVerfGE 30, 227 [241] m.w.N.; 80, 244 [253]). Dieser Kernbereichumfasst die fortwährende Organisationsautonomie, das heißt die Selbstbestimmung über die eigene Organisation, das Verfahren der Willensbildung und die Führung der Geschäfte (vgl. BVerfGE 50, 290 [354]), nicht hingegen bloße vereinszweckrealisierende Tätigkeiten jenseits von Handlungen zur Entstehung und zur Erhaltung des Bestands einer Vereinigung (vgl. BVerfGE 70, 1 [25]; 84, 212 [224]; 149, 160 [192 Rn. 98]). Letztere sind vielmehr nach Maßgabe derjenigen Grundrechte und grundrechtsgleichen Gewährleistungen geschützt, in deren Schutzbereich sie sich bewegen, weil die Gründung einer Vereinigung den Grundrechtsschutz für individuelles Handeln seiner Mitglieder nicht erweitern kann (vgl. BVerfGE 149, 160 [192 Rn. 98]; so auch bereits im Ansatz BVerfGE 70, 1 [25]).  Art. 9 Abs. 1 GG enthält mithin eine spezifische Organisationsgarantie, die Freiheitsschutz nur für Organisationsakte, nicht hingegen eine allgemeine Handlungs- oder Zweckverfolgungsfreiheit gewährt, die an keine andere Voraussetzung gebunden wäre als die Vereinsmäßigkeit ihrer Ausübung.

327 (bb) Eine Beeinträchtigung der Vereinigungsfreiheit in ihrem den Bestand und die Organisationsautonomie erfassenden Schutzgehalt geht von § 217 StGB auch nicht deshalb aus, weil die Regelung Anknüpfungstatbestand im Sinne des Art. 9 Abs. 2 Var. 1 GG ist und damit materiell-rechtlich die Grundlage für ein Vereinsverbot nach Art. 9 Abs. 2 GG in Verbindung mit § 3 VereinsG schafft.

328 Das materielle Unwerturteil über strafrechtswidrige Zwecke verfolgende Vereinigungen folgt aus Art. 9 Abs. 2 GG selbst und wirkt verfassungsunmittelbar (vgl. Scholz, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 9 Rn. 113 [September 2017]). Seine Umsetzung setzt lediglich die Existenz von Strafgesetzen voraus (vgl. Kemper, in: v. Mangoldt/Klein/ Starck, GG, Bd. 1, 7. Aufl. [2018], Art. 9 Rn. 75), wodurch die Ausgestaltung des Vereinsverbots dem Gesetzgeber überantwortet ist, der die Grenzen der Schranke des Art. 9 Abs. 2 GG nicht ausdehnen darf (vgl. BVerfGE 80, 244 [254]). Einer Umgehung des Schutzes aus Art. 9 Abs. 1 GG wird hierbei dadurch vorgebeugt, dass nur allgemeine Strafgesetze als Bezugsnormen für ein Vereinsverbot herangezogen werden dürfen (vgl. BVerfGE 149, 160 [196 Rn. 105]), die ein Handeln (Tun oder Unterlassen) generell, das heißt nicht ausschließlich oder in besonderer Form für den Fall vereinsmäßiger Begehung, unter Strafe stellen (vgl. Kemper, in: v. Mangoldt/ Klein/Starck, GG, Bd. 1, 7. Aufl. [2018], Art. 9 Rn. 75 m.w.N.). Aufgrund ihres allgemeinen Charakters sind solche Strafvorschriften mit dem Schutzzweck des Art. 9 Abs. 1 GG vereinbar. Die Vereinigungsfreiheit erweitert die in sonstigen Grundrechten gewährleisteten Handlungsfreiheiten nicht zu einer vereinigungsspezifischen allgemeinen Handlungsfreiheit, sondern schützt ausschließlich vor vereinigungsspezifischem Sonderrecht (vgl. Kemper, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 1, 7. Aufl. [2018], Art. 9 Rn. 43, 75).

329 § 217 StGB ist ein allgemeines Strafgesetz. Er stellt die geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung nicht speziell für den Fall unter Strafe, dass sie in vereinsmäßig organisierter Form erbracht wird, sondern für jedermann, der geschäftsmäßig im Sinne der Norm handelt. Dem steht nicht entgegen, dass der Gesetzgeber mit Einführung der Vorschrift gerade auch bezweckt hat, die rechtliche Grundlage für das Verbot von Vereinigungen zu schaffen, die – wie die beiden beschwerdeführenden Vereine – ein öffentliches Suizidhilfeangebot bereitstellen (vgl. BT-Drs. 18/5373, S. 14). Für dieEinordnung als allgemeines Gesetz ist unerheblich, ob ein Einzelfall den Anlass zu einer gesetzlichen Regelung gegeben hat, soweit die Norm nach der Art der in Betracht kommenden Sachverhalte geeignet ist, unbestimmt viele weitere Fälle zu regeln (vgl. BVerfGE 7, 129 [150 f.]; 10, 234 [243 f.]).

330 bb) Dadurch, dass die Beschwerdeführer zu III. 3. und III. 5., die Beschwerdeführerinnen zu III. 4. und VI. 2. und die beschwerdeführenden deutschenVereine gezwungen waren, ihre auf Erbringung oder Vermittlung von Suizidhilfe gerichteten Aktivitäten (vorläufig) einzustellen, um nicht mit den Maßgaben des § 217 StGB in Konflikt zu treten, sind sie aber in ihrer allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) betroffen.

331 c) Die Grundrechtseingriffe sind nicht gerechtfertigt. Das Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung verstößt aufgrund seiner Unvereinbarkeit mit dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht von selbstbestimmt zur Selbsttötung entschlossenen Personen (Rn. 202 ff.) gegen objektives Verfassungsrecht und ist infolgedessen auch gegenüber den unmittelbaren Normadressaten nichtig (vgl. BVerfGE 61, 82 [112 f.]). Der verfassungsrechtliche Schutz des durch § 217 StGB unter Strafe gestellten Handelns ergibt sich aus einer funktionalen Verschränkung der Grundrechte der Beschwerdeführer zu II., III. 2. bis III. 6., IV., V. 1. bis V. 4. sowie VI. 2. und VI. 3. mit dem aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG abzuleitenden Recht auf selbstbestimmtes Sterben. Die als Ausprägung des Rechts auf selbstbestimmtes Sterben grundrechtlich geschützte Freiheit des Einzelnen, sich selbst mit Unterstützung und in Begleitung von zur Hilfe bereiten Dritten das Leben zu nehmen, steht in inhaltlicher Abhängigkeit zu dem grundrechtlichen Schutz der Suizidhilfe. Die Entscheidung zur Selbsttötung ist in ihrer Umsetzung nicht nur in tatsächlicher Hinsicht davon abhängig, dass Dritte bereit sind, Gelegenheit zur Selbsttötung zu gewähren, zu verschaffen oder zu vermitteln. Die Dritten müssen ihre Bereitschaft zur Suizidhilfe auch rechtlich umsetzen dürfen. Anderenfalls liefe das Recht des Einzelnen auf Selbsttötung faktisch leer. In Fällen derartiger rechtlicher Abhängigkeit stehen die Handlungsweisen der Beteiligten in einem funktionalen Zusammenhang. Dergrundrechtliche Schutz des Handelns des einen ist Voraussetzung für die Ausübung eines Grundrechts durch den anderen (vgl. Kloepfer, in: Festschrift für Klaus Stern, 2012, S. 405 [413 ff.]). Erst dadurch, dass zwei Personen Grundrechte in einer auf ein gemeinsames Ziel gerichteten Weise ausüben können, hier die Umsetzung des Wunsches nach assistierter Selbsttötung, wird der verfassungsrechtliche Schutz auf selbstbestimmtesSterben wirksam. Der Gewährleistung des Rechts auf Selbsttötung korrespondiert daher auch ein entsprechend weitreichender grundrechtlicher Schutz des Handelns des Suizidassistenten.

332  2. (Grundrechtsverletzung durch die Strafandrohung des § 217 StGB)

Mit der Androhung einer Freiheitsstrafe verletzt das Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung die Beschwerdeführer zu III. 3. bis III. 6., IV., V. 1. bis V. 4. sowie VI. 2. und VI. 3., die als natürliche Personen unmittelbare Normadressaten des § 217 StGB sind, zudem in ihremFreiheitsrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 GG (vgl. BVerfGE 96, 245 [249]; 101, 275 [287]; 140, 317 [345 Rn. 58]).

333 3. (Grundrechtsverletzung durch die mögliche Bußgeldbewehrung nach § 30 Abs. 1 Nr. 1 OWiG)

Eine mögliche, an die Strafbarkeit der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung geknüpfte Bußgeldbewehrung nach § 30 Abs. 1 Nr. 1 OWiG verletzt die Beschwerdeführer zu II. und III. 2. in ihrem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG, das – anders als die vom Beschwerdeführer zu III. 2.insoweit ausdrücklich geltend gemachte Eigentumsgarantie des Art. 14 Abs. 1 GG, die nicht das Vermögen als solches schützt (vgl. BVerfGE 4, 7 [17]; 74, 129 [148]; 81, 108 [122]; 96, 375 [397]) – auch das Recht umfasst, nicht (zu Unrecht) zu einer Geldbuße herangezogen zu werden (vgl. BVerfGE 92, 191 [196]).

III. (Ausschluss verfassungskonformer Auslegung)

334 § 217 StGB ist einer verfassungskonformen Auslegung nicht zugänglich. Eine den Anwendungsbereich der Norm einschränkende Auslegung, die die geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung unter bestimmten Umständen doch für zulässig erklärte, widerspräche den Absichten des Gesetzgebersund käme damit einer mit dem Gebot hinreichender gesetzlicher Bestimmtheit (Art. 103 Abs. 2 GG) unvereinbaren originären judikativenRechtsetzung gleich (vgl. BVerfGE 47, 109 [120]; 64, 389 [393]; 73, 206 [235]; 105, 135 [153]).

335 Dies gilt insbesondere für eine Auslegung, die die Förderung freiverantwortlicher Selbsttötungen von der Strafbarkeit ausnimmt (vgl. zu einem solchen Ansatz Kubiciel, ZIS 2016, S. 396 [402]). Sie liefe dem gesetzgeberischen Anliegen (vgl. BT-Drs. 18/5373, S. 3) zuwider. Im Ergebnis würde sie die Vorschrift praktisch leerlaufen lassen (vgl. Riemer, BRJ 2016, S. 96 [101], zugleich m.w.N. zu abweichenden Ansätzen).

336 Auch eine Auslegung, die Ärzte vom Verbot des § 217 Abs. 1 StGB ausnähme, ist nicht möglich. Der Gesetzgeber hat § 217 StGB als Allgemeindelikt ausgestaltet und von einer Privilegierung der Angehörigen der Heilberufe bewusst abgesehen (vgl. BT-Drs. 18/5373, S. 18).

IV. (Folgen der Verfassungswidrigkeit)

337 1. (Nichtigkeit des § 217 StGB)

§ 217 StGB ist wegen der festgestellten Verfassungsverstöße für nichtig zu erklären (§ 95 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG). Die Voraussetzungen für eine bloße Unvereinbarkeitserklärung liegen nicht vor (vgl. BVerfGE 128, 282 [321 f.]; 129, 269 [284]).

338 2. (Alternative Regelungskonzepte)

Aus der Verfassungswidrigkeit des § 217 StGB folgt nicht, dass der Gesetzgeber sich einer Regulierung der Suizidhilfe vollständig zu enthalten hat. Er hat aus den ihm obliegenden Schutzpflichten für die Autonomie bei der Entscheidung über die Beendigung des eigenen Lebens in verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender Weise einen Handlungsauftrag abgeleitet (vgl. Rn. 231 ff.). Ein legislatives Schutzkonzept hat sich aberan der der Verfassungsordnung des Grundgesetzes zugrundeliegenden Vorstellung vom Menschen als einem geistig-sittlichen Wesen auszurichten, das darauf angelegt ist, sich in Freiheit selbst zu bestimmen und zu entfalten (vgl. BVerfGE 32, 98 [107 f.]; 108, 282 [300]; 128, 326 [376]; 138, 296 [339 Rn. 109]). Die verfassungsrechtliche Anerkennung des Einzelnen als zur Selbstbestimmung befähigten Menschen verlangt eine strikte Beschränkung staatlicher Intervention auf den Schutz der Selbstbestimmung, der durch Elemente der medizinischen und pharmakologischen Qualitätssicherung und des Missbrauchsschutzes ergänzt werden kann.

339 Zum Schutz der Selbstbestimmung über das eigene Leben steht dem Gesetzgeber in Bezug auf das Phänomen organisierter Suizidhilfe ein breites Spektrum an Möglichkeiten offen. Sie reichen von der positiven Regulierung prozeduraler Sicherungsmechanismen, etwa gesetzlich festgeschriebener Aufklärungs- und Wartepflichten, über Erlaubnisvorbehalte, die die Zuverlässigkeit von Suizidhilfeangeboten sichern, bis zu Verboten besonders gefahrträchtiger Erscheinungsformen der Suizidhilfe entsprechend dem Regelungsgedanken des § 217 StGB. Sie können mit Blick auf die Bedeutungder zu schützenden Rechtsgüter auch im Strafrecht verankert oder jedenfalls durch strafrechtliche Sanktionierung von Verstößen abgesichert werden (vgl. dazu bereits Rn. 268 ff.).

340 Aufgrund der verfassungsrechtlichen Anerkennung des Rechts auf Selbsttötung, welche die einem individuellen Suizidentschluss zugrundeliegenden Motive einschließt und diese damit einer Beurteilung nach Maßstäben objektiver Vernünftigkeit entzieht (vgl. Rn. 210), verbietet es sich aber, die Zulässigkeit einer Hilfe zur Selbsttötung materiellen Kriterien zu unterwerfen, sie etwa vom Vorliegen einer unheilbaren oder tödlich verlaufenden Krankheit abhängig zu machen. Dies hindert nicht, dass je nach Lebenssituation unterschiedliche Anforderungen an den Nachweis der Ernsthaftigkeit und Dauerhaftigkeit eines Selbsttötungswillens gestellt werden können. Es steht dem Gesetzgeber frei, ein prozedurales Sicherungskonzept zu entwickeln.

341 Allerdings muss jede regulatorische Einschränkung der assistierten Selbsttötung sicherstellen, dass sie dem verfassungsrechtlich geschützten Recht des Einzelnen, aufgrund freier Entscheidung mit Unterstützung Dritter aus dem Leben zu scheiden, auch faktisch hinreichenden Raum zur Entfaltung und Umsetzung belässt. Das erfordert nicht nur eine konsistente Ausgestaltung des Berufsrechts der Ärzte und  der Apotheker, sondern möglicherweise auch Anpassungen des Betäubungsmittelrechts.

342 Die Obliegenheit zur konsistenten Ausgestaltung der Rechtsordnung schließt nicht aus, die im Bereich des Arzneimittel- und des Betäubungsmittelrechts verankerten Elemente des Verbraucher- und des Missbrauchsschutzes aufrechtzuerhalten und in ein Schutzkonzept im Bereich der Suizidhilfe einzubinden. All dies lässt unberührt, dass es eine Verpflichtung zur Suizidhilfe nicht geben darf. […]

 

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