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Die Herstellung von Waffengleichheit zwischen Justiz und Rechtsmittelführer durch Verlängerung der Revisionsbegründungsfrist

von RiOLG Prof. Dr. Matthias Jahn, RAin Stefanie Schott und RA Björn Krug, LL.M. 

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Abstract
Während sich die Frist zur Urteilsabsetzung gem. § 275 Abs. 1 StPO mit zunehmender Dauer der gerichtlichen Hauptverhandlung kontinuierlich verlängert, bleibt es für die Revisionsbegründung des Rechtsmittelführers ausnahmslos bei der kurzen, nicht verlängerbaren Frist des § 345 Abs. 1 StPO von einem Monat. Dies lässt sich nach Auffassung der Autoren mit der Forderung nach prozessualer Waffengleichheit, die dem Recht auf ein faires Verfahren entnommen werden kann, nicht vereinbaren. Sie fordern eine Angleichung der Mechanik der Revisionsbegründungsfrist an die Urteilsabsetzungsfrist.

While the period for drawing up a judgment pursuant to § 275, subsection 1 StPO (German Code of Criminal Procedure) is dependent on the length of the main court hearing, an appellant always has a maximum of one month to lodge grounds of appeal pursuant to § 345, subsection 1 StPO. The authors believe this is incompatible with the claim for an equality of arms, which can be derived from the right to a fair trial. They call for an de lege ferenda-alignment of the time allowed for lodge grounds of appeal pursuant in the same manner as for drawing up the judgment.

I. Ausgangssituation

In den vergangenen Jahren wurde bereits vielfach darauf hingewiesen, dass in umfangreichen Strafverfahren die Frist von einem Monat zur Begründung der Revision unzureichend ist. Die Forderung nach einer angemessenen Verlängerung der Frist wird insbesondere dann laut, wenn presserelevante Verfahren mit einem Urteil abgeschlossen werden, zu dessen Abfassung das Gericht ein Vielfaches der Zeit benötigt hat, die der Verteidigung für die Begründung der Revision zur Verfügung stehen. Derartige Forderungen wurden vom Gesetzgeber bislang nicht erhört. Ein aktuelles Urteil des OLG München gibt Anlass, die berechtigte Forderung der Verteidigung zu erneuern.

Mit Pressemitteilung vom 21.4.2020 hat das OLG München mitgeteilt:[1]

„Der 6. Strafsenat des Oberlandesgerichts München hat in obengenanntem Strafverfahren die schriftliche Begründung des am 11.7.2018 verkündeten Urteils fertiggestellt. Das Urteil umfasst 3025 Seiten und wurde heute zu den Akten genommen. Die Zustellung der Urteilsgründe an die revisionsführenden Verfahrensbeteiligten wird in Kürze erfolgen.

Die Revisionsführer haben nunmehr einen Monat ab Zustellung der schriftlichen Urteilsgründe Zeit, die bereits eingelegte Revision zu begründen.“

Hinzu kommen 44 Aktenordner mit dem Hauptverhandlungsprotokoll. Diese sollen den Verfahrensbeteiligten in elektronischer Form zugestellt werden.[2]

II. Rechtslage

Auch wenn es sich beim NSU-Verfahren von Umfang und Aufwand um ein zumindest ungewöhnliches, wenn nicht sogar einzigartiges Verfahren gehandelt hat, bietet es Anlass, den fehlenden Gleichlauf aus Urteilsabsetzungsfrist und Revisionsbegründungsfrist genauer zu betrachten. Das OLG München hat die Urteilsabsetzungsfrist von 93 Wochen für ein Urteil nach 438 Hauptverhandlungstagen (§ 275 StPO) fast vollkommen ausgeschöpft. Dies entspricht geltendem Strafprozessrecht, da sich die Berechnung der Urteilsabsetzungsfrist nach § 275 Abs. 1 S. 1 und 2 StPO dem Verfahrensumfang anpasst, wenn es dort heißt:

„Ist das Urteil mit den Gründen nicht bereits vollständig in das Protokoll aufgenommen worden, so ist es unverzüglich zu den Akten zu bringen. Dies muß spätestens fünf Wochen nach der Verkündung geschehen; diese Frist verlängert sich, wenn die Hauptverhandlung länger als drei Tage gedauert hat, um zwei Wochen, und wenn die Hauptverhandlung länger als zehn Tage gedauert hat, für jeden begonnenen Abschnitt von zehn Hauptverhandlungstagen um weitere zwei Wochen.“

Dies gilt für die Revisionsbegründungsfrist nicht, denn diese ist, § 345 Abs. 1 StPO folgend, starr und auch in Umfangsverfahren wie dem NSU-Strafprozess nicht verlängerbar:

„Die Revisionsanträge und ihre Begründung sind spätestens binnen eines Monats nach Ablauf der Frist zur Einlegung des Rechtsmittels bei dem Gericht, dessen Urteil angefochten wird, anzubringen. War zu dieser Zeit das Urteil noch nicht zugestellt, so beginnt die Frist mit der Zustellung.“

Dieses Ungleichgewicht wird in der Literatur[3] kritisiert und war bereits Gegenstand einer – mangels ausreichender Begründung im Ergebnis erfolglosen – Verfassungsbeschwerde.[4]

Eine vom BMJV eingesetzte StPO-Expertenkommission hat sich zwar im Jahr 2015 noch mehrheitlich gegen eine generelle Fristverlängerung ausgesprochen. Sie hat aber ausdrücklich festgehalten, „dass die geltende Monatsfrist die Verfahrensbeteiligten – namentlich die Verteidigung – unter großen Zeitdruck setzen kann. Dies gilt insbesondere dann, wenn der Angeklagte erst nach Zustellung des Urteils einen in Revisionssachen erfahrenen Verteidiger aufsucht“.[5] Ausdrücklich hat sie zudem für bestimmte Verfahren anerkannt, dass „bei Umfangsverfahren sich die Frage stellen [könnte], ob die starre Monatsfrist mit den Erfordernissen eines effektiven Rechtsschutzes noch in Einklang zu bringen ist“.[6]

Offenkundig ist, dass das Ungleichgewicht der Monatsfrist zur Begründung der Formalrügen[7] und der Urteilsabsetzungsfrist sowohl gegen den Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs als auch gegen den Anspruch auf ein faires Verfahren verstoßen kann.[8] Zum rechtlichen Gehör nach Art. 103 Abs. 1 GG hat das BVerfG ausgeführt:[9]

„Der Anspruch aus Art. 103 Abs. 1 GG ist eine Folgerung aus dem Rechtsstaatsgedanken für das Gebiet des gerichtlichen Verfahrens. Der Einzelne soll nicht bloßes Objekt des gerichtlichen Verfahrens sein, sondern er soll vor einer Entscheidung, die seine Rechte betrifft, zu Wort kommen können, um Einfluss auf das Verfahren und sein Ergebnis nehmen zu können (…). Art. 103 Abs. 1 GG garantiert den Beteiligten an einem gerichtlichen Verfahren daher, dass sie hinreichende Gelegenheit erhalten, sich zu dem einer gerichtlichen Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt vor Erlass der Entscheidung zu äußern und dadurch die Willensbildung des Gerichts zu beeinflussen (…). Der Anspruch auf rechtliches Gehör wird insbesondere dann verletzt, wenn die vor Erlass einer Entscheidung vom Gericht gesetzte Frist zur Äußerung objektiv nicht ausreicht (…), um innerhalb der Frist eine sachlich fundierte Äußerung zum entscheidungserheblichen Sachverhalt und zur Rechtslage zu erbringen.“

Ergänzt wird diese grundgesetzliche Garantie durch Art. 6 Abs. 3 lit. b EMRK. Dieser gewährt dem Angeklagten „ausreichend Zeit und Gelegenheit zur Vorbereitung seiner Verteidigung“. Der Angeklagte soll, nachdem er informiert ist, seine Verteidigung angemessen vorbereiten können. Er muss die Möglichkeit haben, alle relevanten Verteidigungsargumente zu sammeln und vorzutragen. Die ausreichende Gelegenheit zur Verteidigung zielt auch auf eine Gleichstellung mit den Strafverfolgungsbehörden und wird demzufolge vom Prinzip der Waffengleichheit überlagert. Zugleich bietet sie die Grundlage für ein tatsächlich wirkungsvolles rechtliches Gehör und damit für eine wirksame Teilhabe durch Verteidigung. Dabei zielt die Garantie nicht nur auf eine Geltung in der Hauptverhandlung ab, sondern sie gilt hinsichtlich der gesamten Verteidigungsrechte, einschließlich der Vorbereitung von Rechtsmitteln und prozessualen Rechtsbehelfen.[10]

III. Ergebnis

Nicht nur in Extremfällen wie dem vorliegenden, sondern auch in anderen umfangreichen Verfahren ist die durch § 345 Abs. 1 StPO vorgegebene, starre Frist ersichtlich unzureichend. Es geht dabei um bessere und gerechte Urteile im Allgemeininteresse, mit denen letztlich auch die Akzeptanz der Revisionsrechtsprechung gefördert würde.[11] Denn es ist darauf hinzuweisen, dass die starre Frist des geltenden Rechts nicht nur für die Rechtsmittel der Verteidigung, sondern auch für Revisionen der Staatsanwaltschaft und weiterer Beteiligter wie der Nebenklage gilt. Auch im Rahmen einer grundsätzlich zulässigen Typisierung der Frist muss der Umfang des Verfahrens – und damit der Aufwand der Begründung der Revision – berücksichtigt werden. Für die Urteilsabsetzungsfrist hat der Gesetzgeber dies zutreffend erkannt und diese dem Umfang des Verfahrens folgend flexibel gestaltet. Dann aber die Flexibilität für die Rechtsmittelbegründung nicht zu gewähren, behandelt Gleiches ungleich.

Lösungen, sich über ein unzutreffend datiertes Empfangsbekenntnis des Verteidigers[12] oder über Anträge auf Wiedereinsetzung[13] zu behelfen, sind entweder, da (zumindest) berufsrechtswidrig, für den Verteidiger unzumutbar oder mangels Vorhersehbarkeit der gerichtlichen Entscheidung unzureichend für die Praxis.

IV. Lösungsvorschlag

Zu fordern ist daher eine Änderung von § 345 Abs. 1 StPO.

Diese kann systematisch § 275 Abs. 1 Satz 2 StPO nachempfunden sein, ohne einen vollkommenen Gleichlauf der Fristen vorzusehen. Denn natürlich ist eine Revisionsbegründungsfrist von weiteren 93 Wochen im entschiedenen Fall unter Aspekten des Beschleunigungsgrundsatzes weder der Rechtspflege dienlich, noch nützt sie dem Betroffenen. Zudem sollte eine Selbstverständlichkeit klargestellt werden: Der Fristlauf kann erst mit Zustellung des Urteils und des Protokolls beginnen.

§ 345 Abs. 1 StPO (Entwurf) lautet danach:

„Die Revisionsanträge und ihre Begründung sind spätestens binnen eines Monats nach Ablauf der Frist zur Einlegung des Rechtsmittels bei dem Gericht, dessen Urteil angefochten wird, anzubringen. Diese Frist verlängert sich, wenn die Hauptverhandlung länger als zehn Tage gedauert hat, für jeden begonnenen Abschnitt von zehn Hauptverhandlungstagen um eine Woche. Waren zu dieser Zeit das Urteil und das Protokollnoch nicht zugestellt, so beginnt die Frist mit der Zustellung.“

 

 

[1]      Pressemitteilung 23 des OLG München v. 21.4.2020, abrufbar unterhttps://www.justiz.bayern.de/gerichte-und-behoerden/oberlandesgerichte/muenchen/presse/2020/23.php (zuletzt abgerufen am 15.5.2020).
[2]      Legal Tribune Online v. 21.4.2020, abrufbar unter: https://www.lto.de/recht/justiz/j/olg-muenchen-nsu-prozess-urteilsbegruendung-3025-seiten-beate-zschaepe/ (zuletzt abgerufen am 15.5.23020)
[3]      Beukelmann, NJW-Spezial 2017, 632; Grabenwarter, NJW 2002, 109.
[4]      BVerfG, Beschl. v. 19.2.1998 – 2 BvR 1888/97, abrufbar unter: https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/1998/02/rk19980219_2bvr188897.html (zuletzt abgerufen am 15.5.2020).
[5]      BMJV (Hrsg.), Abschlussbericht, 2015, S. 155.
[6]      Abschlussbericht (Fn. 5).
[7]      Die inhaltliche Begründung der Sachrüge ist keine formelle Voraussetzung für deren Zulässigkeit und kann problemlos „nachgeschoben“ werden.
[8]      Dazu ausführlich Grabenwarter, NJW 2002, 109.
[9]      BVerfG, Beschl. v. 5.2.2003 – 2 BvR 153/02, abrufbar unter: https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2003/02/rk20030205_2bvr015302.html (zuletzt abgerufen am 15.5.2020).
[10]    Gaede, in: MüKo-StPO, 2018, Art. 6 EMRK Rn. 150 und 151 m.w.N.
[11]     Vgl. nur Park, StV 2018, 814.
[12]    Vgl. dazu § 14 BORA.
[13]    So hingegen bspw. Sobota/Loose, NStZ 2018, 72.

 

 

 

 

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