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Neuregelung der Sterbehilfe – Gesetzgeber muss Konsequenzen aus der Entscheidung über die Verfassungswidrigkeit des § 217 Strafgesetzbuch ziehen

von Prof. em. Dr. Arthur Kreuzer

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Abstract
Das BVerfG hat § 217 StGB mit der Strafbarkeit geschäftsmäßiger Sterbehilfe für verfassungswidrig erklärt. Der Gesetzgeber sollte angesichts nun bestehender rechtlicher Unsicherheiten und der Gefahr des Entstehens einer „Suizid-Kultur“ rasch eine Neuregelung von Sterbe- und Suizidhilfe schaffen. Die jetzt bestehende Rechtslage wird skizziert. Fünf bislang geltende Grundsätze werden auf mögliche Modifikationen durch das Verfassungsgerichtsurteil geprüft: Straflosigkeit des Suizids; Straflosigkeit der Beihilfe zum Suizid; Strafbarkeit aktiver Sterbehilfe; Straflosigkeit passiver Sterbehilfe; Straflosigkeit indirekter Sterbehilfe. Durchaus dürfen Risiken für das Entstehen einer „Suizid-Kultur“ berücksichtigt, beispielsweise auch Sterbehilfevereine unterbunden werden. Das setzt aber voraus, dass Suizidwilligen Wege zu ärztlich assistierter Hilfe offen bleiben. Elemente eines denkbaren Modells werden hier vorgestellt: Ärztliche Berufsordnungen beseitigen strikte Verbote ärztlicher Suizidassistenz. Nach Vorbild der Schwangerschaftsberatungsstellen werden von Sozialverbänden Sterbeberatungsdienste eingerichtet, die allen Betroffenen zur Verfügung stehen. Ihnen obläge zuvörderst  Beratung zur Lebenserhaltung; erst nach ärztlicher Prüfung fehlender zumutbarer Alternativen, der freien und ohne sozialen Druck getroffenen Willensentschließung zum Suizid, der Ernsthaftigkeit und Beständigkeit dieser Entscheidung darf ärztliche Suizidhilfe zugelassen und zu ihr vermittelt werden. Darüber hinaus könnte anstößige Werbung für Suizidhilfen strafbar sein.

The German Constitutional Court has declared § 217 StGB (punishment for commercially assisted suicide services) to be unconstitutional. Facing the risk of an arising „suicide-culture“caused by an uncertain legal position the legislator is required to enact a new bill regulating suicide assistence without delay. The current legal position is to be analyzed here. Five traditional principles shall be examined concerning possible modifications by the new decision: Impunity of suicide; impunity of assisting suicide; „active suicide assistence“as criminal offence; impunity of „passive suicide assistence“; impunity of „indirecet/unintended suicide assistence“. It is legitimate for a new legislation to take risks of potentially arising suicide cultures into account, prohibiting for instance private suicide services.  This requires however alternative real chances for suicidal persons to get medical assistence. Elements of a possible new legal model are presented here: Professional medical legal regulations must abolish strict bans on medically assisted suicide.  Following the example of the existing model of legally controlled services for pregnant women and abortions, corresponding counceling should be organized for all persons seeking help. They should primarily be concerned with saving lives; only when a physician has investigated that there are no acceptable alternatives, that the decision is based on the free will of the person concerned, and that its seriousness and invariance cannot be doubted and that no social pressure was exerted, medical suicide assistance can be permitted. Furthermore it would be legitimate to criminalize inappropriate advertising and assisted suicide services.

I. Zur aktuellen Situation

Auch hier geht es um Leben und Tod: Bei der Sterbe- und Suizidhilfe. Sie muss dringend gesetzlich neu geregelt werden. Am 26. Februar 2020 hatte das BVerfG – für viele Experten unerwartet – die Strafbarkeit geschäftsmäßiger Sterbehilfe in § 217 StGB rundum für verfassungswidrig erklärt.[1] Nun ist der Gesetzgeber am Zuge. Nicht völlig unbegründet meint nämlich ein Zyniker, jetzt sei die Hoch-Zeit für alle Sterbewilligen; sie könnten entstandene rechtliche Freiräume nutzen und für sich Hilfe zur Selbsttötung rechtzeitig vor erneuter gesetzlicher Beschränkung sicherstellen.

Einstweilen scheint man jedoch die gebotene unverzügliche Neuregelung politisch aus vier Gründen hintanzusetzen:  Corona droht die Arbeitskraft der Entscheidungsinstanzen vollkommen zu binden. Das verstärkt die Einstellung, in der 2021 auslaufenden Legislaturperiode werde man ein derart strittiges Gesetzesvorhaben ohnehin nicht mehr durchziehen können. Zudem handelt es sich um ein äußerst komplexes, moralisch hoch aufgeladenes Problem der Rechtspolitik, das Politiker angesichts vielfältiger, jeweils umstrittener Lösungsstrategien nicht gern anpacken. Letztlich möchte man einem neuen Grundsatzstreit zwischen Parteien, medizinischen, theologischen und juristischen Fachverbänden ausweichen. Deswegen ist bislang nicht einmal eine Expertenkommission von Fachleuten der Justiz- und Gesundheitsministerien, politischen Parteien, Fachverbände und Wissenschaften eingesetzt worden.[2] Eine solche müsste jedoch wichtige Vorarbeit leisten. Nur dann kann in der nächsten Legislaturperiode unverzüglich ein Gesetzentwurf in den Bundestag eingebracht, diskutiert und umgesetzt werden.

II. Grundsätze der geltenden Rechtslage

Vergegenwärtigen wir uns die bisherige Rechtslage zur Sterbehilfe und zum Suizid und ihre eventuelle Veränderung durch das Urteil des BVerfG. Wir verstehen dabei unter rechtlich zu regelnder „Sterbehilfe“ nicht selbstverständlichen Beistand und gebotene Hilfe von Angehörigen, Ärzten und Pflegekräften im Sterbeprozess. Es geht allein um Nachhelfen zum Sterben und um aktive Unterstützung eines Suizids. Die vom BVerfG gewählte strikte terminologische Trennung zwischen Suizid- und Sterbehilfe[3] lässt sich allerdings nicht übernehmen; zu groß sind sachliche Überschneidungen infrage kommender Kon-stellationen (man denke beispielsweise nur an die im Verfassungsgerichtsurteil nicht näher erörterte Assistenz beim „Sterbefasten“[4]); Alltags- und Fachsprachen unterscheiden zudem inhaltlich gar nicht oder unterschiedlich; und allenthalben „Sterbehilfevereine“ benannte Vereinigungen widmen sich gerade der Suizidhilfe.

Erster GrundsatzSuizid ist straflos. Es gibt keine rechtliche Pflicht zu leben. Das BVerfG hat dies bekräftigt und konkretisiert: „Das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) umfasst als Ausdruck persönlicher Autonomie ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben.“ Dieses Recht schließe die Freiheit ein, sich das Leben zu nehmen. Das Gericht geht noch zwei Schritte weiter: Zum einen ist die Suizidentscheidung „als Akt autonomer Selbstbestimmung von Staat und Gesellschaft zu respektieren“. Daraus lässt sich beispielsweise ableiten, dass es nicht erlaubt, geschweige denn rechtlich geboten sein kann, den Suizid zwangsweise zu unterbinden. So darf jemand nicht wegen unterlassener Hilfeleistung bestraft werden, weil er den anderen nicht am frei verantworteten Suizid hindert.  Hier zeigt sich, wie sehr sich die Bewertungen des Suizids in der Rechtsprechung gewandelt haben. Noch 1954 befand der Große Strafsenat des BGH: „Da das Sittengesetz jeden Selbstmord – von äußersten Ausnahmefällen vielleicht abgesehen – streng missbilligt, da niemand selbstherrlich über sein eigenes Leben verfügen und sich den Tod geben darf, kann das Recht nicht anerkennen, dass die Hilfspflicht des Dritten hinter dem sittlich missbilligten Willen des Selbstmörders zu seinem eigenen Tode zurückzustehen habe.“[5]

Zum anderen, so das BVerfG, umfasst dieses Recht „auch die Freiheit, hierfür bei Dritten Hilfe zu suchen und Hilfe, soweit sie angeboten wird, in Anspruch zu nehmen“. Beispielsweise, sich ein tödliches Medikament oder ärztliche Mitwirkung in einem Land mit freizügigerem Recht oder durch Sterbehilfevereine zu besorgen. Freilich gilt auch: „Niemand kann verpflichtet werden, Suizidhilfe zu leisten.“ Also dürfen Ärzte Suizidassistenz verweigern.

Zweiter Grundsatz: Beihilfe zum Suizid ist straflos. Strafbare Beihilfe setzt eine strafbare Haupttat voraus, der Suizid ist aber keine Straftat. Diesen Grundsatz hatte der 2015 geschaffene § 217 StGB eingeschränkt. Er hatte dadurch „mit der über 140 Jahre währenden deutschen Rechtstradition der generellen Straflosigkeit der Teilnahme an einer eigenverantwortlichen Selbsttötung“ gebrochen.[6] Im Einzelfall geleistete Suizidhilfe blieb straflos; strafbar sollte nunmehr jedoch die geschäftsmäßige Ausübung sein; sie sollte bereits vorliegen, wenn etwa Ärzte konkret solche Hilfe zusagen und bereit sind, es auch in vergleichbaren Lagen wieder zu tun, oder wenn Vereine auf die Vermittlung von Suizidhilfe angelegt sind. Die Strafbestimmung ist jetzt nichtig. Sie war ohnehin von  Kriminalwissenschaftlern und Fachverbänden ganz überwiegend kritisiert worden; sie greife illegitim weit in das Vorfeld von Rechtsgüterschutz und in bloßes Moralrecht  über, sei  viel zu weit und unbestimmt gefasst, bringe ungünstige Nebenwirkungen, schaffe Denunziationspotenziale  und verstoße gegen den Grundsatz, Strafrecht dürfe nur letztes Mittel, ultima ratio einer rechtlichen Regulierung sein.[7] Dennoch ist auch jetzt ärztliche Suizidassistenz noch nicht ohne weiteres rechtlich und tatsächlich möglich. Sie ist nämlich nach ärztlichen Berufsordnungen in zehn Bundesländern strikt untersagt.[8] Hilfe wäre dort also berufsrechtswidrig und könnte standesrechtlich geahndet werden. Auch dürfen Ärzte, Apotheker und Hilfsvereine nicht legal für Suizid geeignete Medikamente zur Verfügung stellen. Zwar hatte – im Sinne des Verfassungsgerichtsurteils, aber schon  zuvor – das BVerwG 2017 entschieden, in „extremen Ausnahmesituationen“ müsse auf Antrag Betroffener die zuständige Bundesbehörde solche Medikamente zugänglich machen;[9] doch hat Gesundheitsminister Spahn dem Bundesamt für Arzneimittel und Medizinprodukte untersagt, das Gerichtsurteil umzusetzen.[10] Die Anordnung muss spätestens seit dem Verfassungsgerichtsurteil als obsolet erachtet werden. Der Gesundheitsminister sollte dies unverzüglich klarstellen.

Insofern ist ein weiterer, ja entscheidender Schritt des BVerfG bemerkenswert; er wird freilich anhaltend kritisiert werden[11]: Strafrecht dürfe nicht die Ausübung der autonomen Entscheidung zum Suizid faktisch verhindern; der Suizidwillige dürfe nicht darauf angewiesen sein, zur Verwirklichung seiner autonomen Entscheidung in andere Länder auszuweichen oder einen Arzt zu finden, der sich über das berufsrechtliche Verbot hinwegsetze; die Rechtsordnung müsse sicherstellen, dass „im Einzelfall ein Zugang zu freiwillig bereitgestellter Suizidhilfe real eröffnet bleibt“. Wie das geschehen und zugleich präventiv einer ungebremsten Entwicklung zu einer „Suizidkultur“ entgegengewirkt werden kann, lässt das Urteil offen.

Widerstand gegen eine Neuregelung im Sinne des Verfassungsgerichtsurteils wird auch künftig insbesondere von medizinischer und theologischer Seite zu erwarten sein. Das darf nicht eine nötige politische Lösung des Problems verhindern. Immerhin zeigt sich an mancher Stelle kritischer Institutionen eine Bereitschaft für einvernehmliche Regelungen. Als Beispiel stehe die Äußerung des ehemaligen Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland Nikolaus Schneider: Die Kirchen „sollen auch weiterhin um Verständnis dafür werben, dass es Notsituationen gibt, in denen aus Gründen der Nächstenliebe dem Willen zur Selbsttötung nicht nur Respekt gezollt werden, sondern Menschen auch fachlich kompetente Unterstützung angeboten werden muss“.[12]

Sind Suizid und Hilfe zum Suizid straffrei, so gilt doch unverändert der dritte Grundsatz: Aktive Sterbehilfe ist strafbar. § 216 StGB versteht darunter, dass „jemand durch das ausdrückliche und ernstliche Verlangen des Getöteten zur Tötung bestimmt worden“ ist. Keiner darf dem Sterbewilligen das tödliche Gift verabreichen. Das gilt selbst angesichts bewegungsunfähiger Patienten. Der Arzt Julius Hackethal blieb allerdings straffrei; er hatte Patienten ein tödliches Medikament zur selbsttätigen Einnahme mit einer eigens dazu geschaffenen Einnahmevorrichtung zur Verfügung gestellt.[13]

Keineswegs ist hingegen unserem Gesetzgeber zu empfehlen, der niederländischen Regelung zu folgen; ein Arzt wurde nach dem jüngsten Entscheid des dortigen höchsten Gerichts vom Mordvorwurf freigesprochen; er hatte seine demente Patientin medikamentös getötet und dabei auf ihren in einer Patientenverfügung bekundeten Willen und den Wunsch der Angehörigen  abgestellt; in gesundem Zustand hatte sie zwar den Sterbewillen erklärt für den Fall unerträglichen Leidens, wenn sie „denke, dass die Zeit dafür reif“ sei, aber in der akuten Situation als Demenzerkrankte in der Pflege die Tötung mehrmals abgelehnt und sich gegen diese noch während der Ausführung heftig gewehrt. Für uns sollte gelten: Der im gesunden Zustand rechtlich verbindlich etwa in der Patientenverfügung geäußerte Wille kann jederzeit, vor allem in der akuten Situation, widerrufen werden, sei es durch Worte, sei es durch physische Abwehr; dann rechtfertigt der ursprünglich abstrakt geäußerte Wille nicht mehr einen tötenden Eingriff.

Vierter Grundsatz: Passive Sterbehilfe ist straffrei.  Darunter versteht man das Sterbenlassen eines Angehörigen oder Patienten, ohne weitere lebensverlängernde Maßnahmen zu ergreifen. Leitend ist der Respekt vor der Selbstbestimmung und Würde des Sterbenden, vor dessen etwa in einer Patientenverfügung erklärtem Willen, nicht künstlich am Leben gehalten zu werden, wenn keine realistische Chance mehr für ein Überleben in erträglichem Zustand besteht. Manchmal ist es eben besser, nichts mehr zur Lebenserhaltung zu tun statt mehr Leiden zu schaffen. Ebenso ist es straffrei, bereits eingeleitete lebensverlängernde Maßnahmen wie künstliche Beatmung und Ernährung wegen entgegenstehenden Willens abzubrechen. Doch auch hier sind Grenzen fließend und umstritten. Beispielsweise kann sich die Frage stellen, ob einem Patienten ein oft langes künstlich bewirktes Siechtum – womöglich im Koma – aufgezwungen werden darf, wenn sich ein entgegenstehender Wille nicht ermitteln lässt. Rechtssicherheit ist hingegen endlich für behandelnde Ärzte suizidwilliger Patienten im Juli 2019 durch den BGH geschaffen worden. Im „Fall Wittig“ hatte das Gericht 1984 noch anders judiziert[14]: Der Hausarzt hatte Rettungsmaßnahmen gegenüber seiner suizidwilligen, betagten, hochgradig kranken und behinderten Patientin unterlassen; sie suchte seit langem den Suizid; bei einem Hausbesuch fand Wittig sie bewusstlos nach Einnahme einer Überdosis Morphium in offenbar erheblich lebensgefährdetem Zustand vor; sie hatte eine Nachricht auf einem Zettel für den Arzt bei sich, er möge nichts zur Wiederbelebung unternehmen; ihm war klar, dass eine Notfallbehandlung allenfalls zu einem Weiterleben mit erheblichen zusätzlichen Leiden geführt hätte. Dass der Arzt dennoch als „Garant“ wegen der vertraglichen Behandlungsübernahme zur Lebenserhaltung verpflichtet sei – so die damalige Entscheidung – hat nunmehr der Fünfte Senat des BGH überfällig als rechtsirrig erkannt: Patienten dürfen jederzeit die Behandlung ablehnen; die Grundlage einer „Garantenpflicht“ zur Lebenserhaltung entfällt dann.[15]

Schließlich der fünfte Grundsatz: die in ihren Grenzen wiederum unscharfe Rechtmäßigkeit der sogenannten indirekten Sterbehilfe. Oft geraten Ärzte todkranker Patienten in die Situation, zur Vermeidung oder wenigstens Minderung von Schmerzen etwa Krebskranken im fortgeschrittenen Stadium Medikamente wie Morphium verabreichen zu müssen. Dazu sind sie sogar rechtlich verpflichtet. Notwendige Dosissteigerung kann indes den Todeseintritt beschleunigen. Ärzte nehmen damit einen rascheren tödlichen Verlauf in Kauf. Da nur Schmerzbehandlung Ziel ist, nicht früherer Tod, ist ihr Handeln rechtmäßig. Das ist mit strafloser indirekter Sterbehilfe gemeint. Kaum je dürfte sich aber beweisen lassen, ein Arzt habe eine nicht erforderliche höhere Dosierung gewählt, um den Patienten wunschgemäß vom weiteren Leiden „zu erlösen“. Davon zu unterscheiden sind indes eigenmächtige, zu Tode führende Injektionen etwa von Luminal oder Insulin durch als „Todesengel“ apostrophierte Pflegekräfte; sie werden oft erst angesichts seriellen Auftretens entdeckt und zu Recht wegen vorsätzlicher Tötungen, ja Morde verfolgt.[16]

III. Mögliche gesetzliche Problemlösung

In der anstehenden Gesetzgebung muss geklärt werden, wie man dem Grundrecht auf autonome Suizidentscheidung gerecht werden kann:  Müssen zur Verwirklichung gesetzliche Verbote gelockert werden? Wie kann man vermeiden, dass sozial Druck entsteht auf namentlich ältere, kranke, pflegebedürftige Menschen, sich als lästig zu fühlen und durch Suizid weitere Pflege zu vermeiden? Immerhin ist in Ländern wie Belgien, den Niederlanden und der Schweiz die Selbsttötungsrate nach gesetzlichen Lockerungen angestiegen; in Oregon etwa ist Wirtschaftlichkeitsdenken in die Gesundheitspolitik gedrungen, so dass sich Suizidassistenz als legalisierte kostengünstigere Alternative gegenüber weiterer Behandlung aufdrängt.[17]  Lassen sich bei uns Sterbehilfevereine erneut unterbinden, weil von ihnen möglicherweise eine Gefährdung autonomer Entscheidungen Betroffener, eine  Sogwirkung in Richtung Suizidbereitschaft, der Eindruck einer Normalität von Selbsttötung, ein Nachahmungseffekt, soziale Pressionen zum Suizid insbesondere gegenüber Alten und Pflegebedürftigen ausgehen? Welche alternativen Angebote zur Vorbeugung, Sterbeberatung und Suizidhilfe setzt dies voraus?

Das BVerfG deutet Möglichkeiten für unsere Gesetzgebung an[18]: etwa die Öffnung ärztlichen Berufsrechts und der Verschreibungsverordnungen zur Freigabe von Medikamenten und Betäubungsmitteln in Ausnahmesituationen, weiterhin Beratungspflichten,  Fristen, Prüfung durch unabhängige Ärzte, um eingehende Information und Entscheidungsfreiheit Suizidwilliger zu gewährleisten und die Überzeugung von Ernsthaftigkeit und Beständigkeit ihrer Entscheidungen zu gewinnen.

Es ließe sich an ein Modell ähnlich den Regelungen für Schwangerschaftsabbrüche in §§ 218 ff. StGB denken.  Dieses könnte statt im Strafrecht in einem Sterbehilfegesetz verankert werden. Es könnte Sterbeberatungsdienste vorsehen. Sie lägen nicht in Händen exklusiver Sterbehilfevereine, sondern wären von öffentlich-rechtlich organisierten und kontrollierten Sozialverbänden einzurichten. Sie sollten imstande sein, Betroffene im Bedarfsfall aufzusuchen. Ihnen käme zuvörderst die Beratung Betroffener, sei es solcher, die sich auf eventuelle künftige, für sie existenzielle Situationen vorbereiten wollen oder konkret in einer ihnen ausweglos erscheinenden Krise Suizid anstreben, zu. Betroffene wären nicht nur schwer kranke Patienten, sondern ebenso alle anderen, die ernsthaft an Suizid denken. Die Beratung wäre lebensorientiert; vorrangig wäre es, Selbsttötungen zu vermeiden. Gerade zu Zeiten der Covid-19-Pandemie mit sich abzeichnenden Folgen auch zunehmender Suizide infolge psycho-sozialer Auswirkungen dieser Erscheinung[19] kommt solcher Beratung große Bedeutung zu. Das verlangt vor allem Beratung, wo nötig die Vermittlung psychologisch-psychiatrischer, oftmals aber palliativ-medizinischer Behandlung oder eines Hospizes. Ehe eine Beratungsbescheinigung erteilt wird als Voraussetzung ärztlicher Suizidhilfe, müsste ärztlich – evtl. nach dem Vier-Augen-Prinzip – geprüft werden, ob das Sterbeverlangen auf freier Willensentschließung beruht, ernstlich und beständig ist. Sichernd könnten sogar Fristen und die Prüfung durch eine Ethikkommission vorgesehen werden. Gegebenenfalls könnte der Beratungsdienst zu Ärzten vermitteln, die Sterbehilfe zu leisten bereit sind. Verstöße gegen die in dem Gesetz aufgestellten Pflichten wären verwaltungsrechtlich als Ordnungswidrigkeiten zu ahnden. Dieses Modell setzt voraus, dass mitwirkende Ärzte nicht berufsrechtswidrig handeln; die Bundesärztekammer sollte deswegen § 16 ihrer Musterberufsordnung so ändern, dass den Landesärztekammern empfohlen wird, ein in den meisten Berufsordnungen festgelegtes Verbot der Suizidhilfe zu streichen oder wenigstens Ausnahmen zuzulassen.[20] Nur unter dieser Voraussetzung verantwortungsbewusster, kontrollierter Beratung und äußerstenfalls möglicher ärztlicher Suizidassistenz lässt es sich rechtfertigen Sterbehilfevereine zu verbieten. Sterbeberatungsdienste stünden allen Betroffenen, nicht lediglich zahlenden Mitgliedern exklusiver Hilfsvereine, jederzeit zur Verfügung. Solche Vereine zu untersagen, dürfte unverändert Anliegen der Mehrheit des Bundestags sein. Der Gesetzgeber müsste dann prüfen, ob dieses Anliegen strafrechtlich oder durch andere rechtliche Regelungen umgesetzt werden sollte. Jedenfalls hat es das Verfassungsgerichtsurteil als an sich legitim angesehen, dass er  in seiner Gefahreneinschätzungs-Prärogative ein Verbot auf Erkenntnisse stützt, die plausibel Beeinträchtigungen der Selbstbestimmungsfreiheit andeuten; Risiken bestehen nämlich in Richtung gesellschaftlicher Normalisierung von Suiziden, dadurch eines  Anstiegs von Suiziden, des Entstehens  sozialer Pressionen vor allem auf Ältere und Pflegebedürftige sowie des Eingangs ökonomischen Denkens in der Pflege, wenn man Sterbehilfevereine gewähren oder sonst offene Sterbehilfe wie in den genannten Ländern zuließe.[21]

Das skizzierte Modell unterscheidet sich einmal von dem Vorschlag von Lindner[22], der sein Modell in dem neu zu fassenden Straftatbestand des § 217 StGB verwirklicht sehen und Sterbehilfevereine zulassen will: An der grundsätzlichen Strafbarkeit gewerbsmäßiger Suizidhilfe hält er fest, wodurch allerdings verfassungsrechtliche Bedenken, namentlich wegen der begrifflichen Unbestimmtheit, aufrecht erhalten blieben; eine Ausnahme wird für Ärzte geschaffen bei Beachtung einiger prozeduraler, verwaltungsrechtlich umzusetzender Sicherheiten; Sterbehilfe-Institutionen können unter bestimmten Voraussetzungen zugelassen werden.  Zum anderen unterscheidet sich das vorgestellte Modell von dem „Suizidhilfekonflikt-Gesetz“ des Humanistischen Verbandes Deutschlands[23]; es hält ebenfalls an dem Wirken von Sterbehilfevereinen fest, bindet dieses jedoch an feste formelle und inhaltliche Regeln, sieht weiterhin eine durchaus diskutable fortbestehende, inhaltlich präzisierte Strafbarkeit bei kommerzieller, anstößiger Werbung für Suizid oder dessen Durchführung vor. 

Es bliebe ein ungeregelter, vielleicht nicht regelbarer, schicksalhafter Bereich:  Betroffene, die medizinisch-psychologisch und rechtlich betrachtet keinen „freien“ Willen entfalten, beispielsweise schwer depressiv sind und trotz aller Behandlungsbemühungen keinen Ausweg außer Sui-zid zu erkennen vermögen. Soll man ihnen angemessene tödliche Medikamente verweigern, sie stattdessen physisch oder medikamentös fixieren,  wissend, dass sie sonst schwerst erträgliche Wege suchen, um sich das Leben zu nehmen, sich von Brücken, Hochhäusern zu stürzen, vor einen Zug zu werfen, in Brand zu setzen oder am Krankenbett erhaltene und gesammelte Medikamente mit ungewissem Ausgang einzunehmen?

 

[1]      BVerfG, Urt. des Zweiten Senats v. 26.2.2020 – 2 BvR 2347/15, abrufbar unter: www.bverfg.de/e/rs20200226_2bvr234715.html (zuletzt abgerufen am 7.7.2020), abgedruckt auch in: NJW 2020, 905 ff.; Kusch/Hecker, Handbuch der Sterbehilfe, 2020, S. 416 ff.
[2]    Das ist dem Verf. durch das Bundesgesundheitsministerium am 24.4.2020 bestätigt worden. Der Bundesgesundheitsminister hat inzwischen aber schon Stellungnahmen von Kirchen und Verbänden angefordert zu eventuellen Eckpunkten eines Schutzkonzeptes für Sterbewillige.
[3]      BVerfG, o. Fn. 1, Rn. 23.
[4]      Unklar war, ob der auch insoweit als zu unbestimmt gerügte § 217 StGB die ärztliche Beratung über und Hilfe bei dem „Sterbefasten“ als strafbares Verhalten umfasst: Kreuzer, in: Sinn u.a., Populismus und alternative Fakten, Abschiedskolloquium für Walter Gropp, 2020, S. 151 (155 ff). Im Verfassungsgerichtsverfahren wurde eine dagegen sprechende, restriktive Auslegung vom Deutschen Bundestag geltend gemacht (Urteil, Rn. 112).
[5]      BGHSt 6, 147 (153); dazu kritisch schon Kreuzer, Ärztliche Hilfeleistungspflicht bei Unglücksfällen im Rahmen des § 330c StGB, 1965, S. 50 ff. (seinerzeit allerdings noch davon ausgehend, es gebe kein Recht auf Suizid, sondern ein rechtliches Unverbotensein).
[6]      Hecker, GA 2016, 455.
[7]      Statt vieler: Hecker/Rosenau, NJW 2015, Heft 49, Editorial; Roxin, NStZ 2016, 185 ff.; Kreuzer, NK 2018, 141 (147); ders., o. Fn. 4, S. 155; Wörner, NK 2018, 157.
[8]      Übersicht: BVerfG, o. Fn. 2, Rn. 293.
[9]      BVerwG, Urt. v. 2.3.2017 – 3 C 19.15 – abgedruckt in Kusch/Hecker, S. 353 ff.
[10]    Die Verweigerung durch das BfArM hält das VG Köln im Beschluss v. 19.11.2019 für verfassungswidrig und hat deswegen die Frage dem BVerfG vorgelegt; vgl. Deutsches Ärzteblatt, abrufbar unter: https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/107546/Recht-auf-Selbsttoetung-Verwaltungsgericht-ruft-Bundesverfassungsgericht-an (zuletzt abgerufen am 7.7.2020).
[11]    So hat der Stiftungsrat der Deutschen Palliativ-Stiftung polemisch geäußert, das Verfassungsgericht sei „ein entgrenztes Gericht“, habe „demokratischen Respekt verloren“; es zeige sich eine „Übergriffigkeit des sich allmächtig wähnenden Senats“: FR v. 26.2.2020, abrufbar unter: https://www.fr.de/politik/strebehilfe-urteil-frei-tod-13560324.html (zuletzt abgerufen am 7.7.2020).
[12]    Schneider, FR v. 16.3.2020, abrufbar unter: https://www.fr.de/meinung/ausbau-palliativmedizin-hospizen-muss-weitergehen-135997
24.html (zuletzt abgerufen am 7.7.2020).
[13]    Dazu: OLG München, NJW 1987, 2940; Kreuzer, DIE ZEIT v. 30.5.1986, S. 68.
[14]    BGHSt 32, 367 ff.
[15]    BGH, Urt. v. 3.7.2019 – 5 StR 393/18, abgedruckt in: HRRS, 2019 Nr. 1052 und bei Kusch/Hecker, S. 401 ff.
[16]    Dazu Kreuzer, in: Landesseniorenrat Thüringen (Hrsg.), Seniorenreport, Jg. 24, Juni 2019, S. 48 ff.
[17]    Vgl. BVerfG, o. Fn. 1, Rn. 249 ff., zu Oregon insb. Rn. 257 f
[18]    BVerfG, o. Fn. 1, Rn. 338 ff.
[19]    Dazu jüngst rechtsmedizinisch gewonnene Erkenntnisse: FOCUS-Online v. 18.5.2020, abrufbar unter: https://www.focus.de/gesundheit/news/rechtsmediziner-mahnt-michael-tsokos-wir-werden-eine-psycho-soziale-pandemie-erleben_id_11988295.html (zuletzt abgerufen am 7.7.2020).
[20]    Zu der berufsrechtlichen Lage und gesetzgeberischen Kompetenzen für Änderungen der Berufsordnungen: BVerfG, o. Fn. 1, Rn. 290-297; Lindner, ZRP 2020, 66 ff., passim.
[21]    BVerfG, o. Fn. 1, Rn. 249-258.
[22]    Lindner, ZRP 2020, 66 ff. (zu VII.).
[23]    Humanistischer Verband Deutschlands (Hrsg.), Entwurf des Humanistischen Verbandes Deutschlands – Bundesverband (HVD) für ein Gesetz zur Bewältigung von Suizidhilfe- und Suizidkonflikten, Berlin, 9.3.2020.

 

 

 

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