George Andoor: Tatfragen in der strafrechtlichen Revision. Eine Untersuchung der rechtshistorischen Entwicklung des Rechtsschutzes in Strafsachen samt Reformvorschlag

von Prof. Dr. Anja Schiemann 

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2020, Duncker & Humblot GmbH, ISBN: 978-3-428-15791-4, S. 529, Euro 109,90.

Schon in der Einleitung macht Andoor deutlich, wie komplex das Forschungsdesign seiner Dissertation ist, geht er doch sehr vielschichtigen Untersuchungsfragen nach. Gefragt wird danach, ob die beschränkte Überprüfbarkeit eines strafgerichtlichen Urteils durch die Revision den Anforderungen an ein modernes Rechtsmittel im heutigen Grundrechtsstaat überhaupt genügt. Daneben wird u.a. untersucht, welche Motive den historischen Gesetzgeber im Hinblick auf Inhalt und Beschränkung des Rechtsmittels bewegten und wie trotz der eindeutigen gesetzlichen Beschränkung der Revision auf Rechtsfragen dennoch eine Erweiterung auf Tatfragen durch die höchstrichterliche Rechtsprechung stattfinden konnte. Auch wird der Frage nachgegangen, ob diese Erweiterung einen hinreichenden Ausgleich für die fehlende Berufung gegen Urteile der LG und OLGgewährleisten kann und warum der Gesetzgeber den Rechtsschutz bislang nicht de lege lata entsprechend ausgeweitet hat (S. 29). Schließlich wird die Frage nach der rechtlichen Ausgestaltung einer entsprechenden Erweiterung gestellt und so ein de lege ferenda Vorschlag in Aussicht gestellt (S. 30).

Um diese Fragestellungen beantworten zu können, beginnt der Verfasser mit einer allgemeinen Einführung in das strafrechtliche Revisionsrecht und beleuchtet die Stellung der Revision im System der strafrechtlichen Rechtsbehelfe. Hierzu werden neben der gesetzlichen Ausgestaltung der Revision die Zwecke der Revision beschrieben. Der historische Gesetzgeber habe die Revision 1877 vorrangig zu dem Zweck eingeführt, um die einheitliche Anwendung und Auslegung des Reichsrechts sicherzustellen. Der Gesetzgeber hätte nicht ausschließlich den Zweck vor Augen, Einzelfallgerechtigkeit herzustellen, sondern für eine einheitliche Anwendung des noch jungen Straf- und Strafverfahrensrechts zu sorgen (S. 72). Kritisch sieht Andoor den lückenhaften Rechtsschutz, sofern neben der Revision kein weiteres Rechtsmittel statthaft sei.

Das zweite Kapitel beschäftigt sich mit der Frage, warum der historische Gesetzgeber die Revision als ein beschränktes Rechtsmittel ausgestaltet hat. Hierzu wird sich zunächst allgemein der historischen Entwicklung der strafrechtlichen Rechtsmittel gewidmet, bevor die gesetzgeberischen Gründe für die Ausgestaltung der Revision als beschränktes Rechtsmittel erörtert werden. Der

Reichsgesetzgeber habe sich bei dem Entwurf einer gemeinsamen Strafprozessordnung für das Deutsche Reich von der Vorstellung leiten lassen, dass gegen auf freier Beweiswürdigung beruhenden tatrichterlichen Urteilen kein vollumfassendes Rechtsmittel zulässig sei. Es sollte ausreichen, dass der Tatrichter in seinen Urteilen die objektiven Entscheidungsgründe und eventuelle Indizien angab, die zu dieser Feststellung geführt hatten. Die Mitteilung der Gründe für die Beweiswürdigung konnten unbenannt bleiben. Es sei nämlich nicht möglich, Feststellungen, die auf einer freien Beweiswürdigung beruhten, mit Gründen zu versehen. Damit ist nach Auffassung Andoors der Reichsgesetzgeber zu einem Verständnis von freier Beweiswürdigung zurückgekehrt, das bereits zur Mitte des 19. Jahrhunderts als überwunden galt. Nach weiterer Kritik kommt der Verfasser zu dem Resümee, dass das derzeitige Rechtsmittelsystem in Strafsachen auf einem System der Systemlosigkeit beruhe, das keiner dogmatischen Erläuterung zugänglich sei. Die Entwicklung der Revision als einzig zulässiges Rechtsmittel gegen erstinstanzliche Urteile der LG und OLG beruhe vor allem auf Irrtümern und Kompromissen des historischen Gesetzgebers, die sich insgesamt einer systematischen Erklärung entziehe (S. 213).

Das dritte Kapitel widmet sich der höchstrichterlichen Erweiterung der Revision. Hierzu wird zunächst aufgezeigt, welche Anforderungen das Gesetz an die Begründung der tatrichterlichen Urteile stellte und welche Teile des tatrichterlichen Urteils de lege scripta der Revision unterliegen. Anhand ausgewählter Beispiele aus der Rechtsprechung des RG und des BGH wird die höchstrichterliche Erweiterung der Revision nachgezeichnet und im Anschluss daran die Kritik an dieser scheinbar positiven Entwicklung wiedergegeben. Gerade die inhaltliche Ausweitung der Revision auf Erörterungs-, Erwägungs- und Begründungsmängel sei aufgrund richterlicher Rechtsfortbildung erfolgt, deren Verfassungsmäßigkeit zumindest bezweifelt werden müsse. Unter Benennung weiterer Kritikpunkte wird konstatiert, dass die offensichtlich an materiellen Gerechtigkeitserwägungen orientierte Erweiterung der Revision eng mit einer Entformalisierung der Rechtsanwendung zusammenzuhängen scheine, die bedenklich sei. Denn eine richterliche Rechtsfortbildung müsse im heutigen Verfassungsstaat kritisch betrachtet werden, da dieser mit Blick auf die Gesetzesbindung der rechtsprechenden Gewalt enge Grenzen gesetzt seien. Da die Revisionsgerichte von Einzelfall zu Einzelfall selbst entschieden, ob sie sich auf die gesetzlichen Grenzen der Revision beschränken oder im Rahmen der von ihr entwickelten Darstellungsrüge auch die Feststellungen und die Beweiswürdigung nachprüfen, sei der Darstellungskontrolle stets ein gewisses Willkürmoment immanent.

Durch die Forderung an den Tatrichter, in den Urteilsgründen auch darzulegen, aus welchen Gründen er die zur Verurteilung notwendigen Feststellungen nicht hat treffen oder bei einem in-dubio-pro-reo-Freispruch seine Zweifel nicht hat überwinden können, hätten sich die Revisionsgerichte eine Überprüfungsgrundlage geschaffen, die von Gesetzes wegen nicht vorgesehen war.

Faktisch schienen sich die Revisionsgerichte als umfassende Überprüfungsinstanzen zu begreifen, obwohl dem Gesetzgeber ursprünglich ein anderes Modell strafrechtlicher Revision vorschwebte. Für eine derart umfassende Änderung des Revisionsrechts bleibe im Rahmen der in Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG formulierten Gewaltenteilung kein Raum.

Im vierten Kapitel werden die bisherigen Versuche des Gesetzgebers nachgezeichnet, den Rechtsschutz in den landgerichtlichen Strafsachen zu stärken. Die betreffenden Gesetzentwürfe, die durch sie verfolgten Ansätze und die Gründe ihres Scheiterns werden vorgestellt. Begonnen wird mit Entwürfen, die bereits während des Kaiserreichs im Reichstag verhandelt wurden. Anschließend werden Vorhaben aus der Weimarer Republik, des NS-Gesetzgebers und auch die jüngeren Entwürfe vorgestellt. Die Betrachtung endet mit der Feststellung, dass die Beschlüsse des 52. Deutschen Juristentages das vorläufige Ende der Diskussion um die Erweiterung des Rechtsschutzes in Strafkammersachen markieren.

Kapitel fünf beschäftigt sich schließlich mit der Erweiterung der Revision um eine Tatsachenrüge de lege ferenda. Zunächst wird die österreichische Nichtigkeitsbeschwerde vorgestellt, die in Ansätzen als Vorbild für den vom Verfasser entwickelten Reformvorschlag dienen soll. Es folgen dezidierte und differenzierte de lege ferenda Vorschläge. Dazu werden in einer Synopse geltendes Recht und Reformvorschlag (§§ 141 Abs. 3; 267 Abs. 1, 4, 5; 273a; 273 Abs. 2; 344 Abs. 2, 3-5; 345 Abs. 1, 2; 347 Abs. 1, 1a; 349 Abs. 2, 3a; 349a; 350 Abs. 2, 3; 350a; 350b; 352 Abs. 1, 2; 352a; 353 Abs. 2; 354 Abs. 1, 1a, 1c; 357; 358 Abs. 1) jeweils gegenübergestellt und die Anpassungen und Ergänzungen begründet. Der Umfang der Gesamtsynopse von 18 Seiten (S. 474 ff.) macht deutlich, wie umfassend die gesetzlichen Änderungen sind, um die Tatsachenrüge in der StPO zu verankern. Sehr umsichtig ordnet der Verfasser die unterschiedlichen Aspekte ausgewogenen Gesetzesmodifizierungen aber auch neuen Paragrafen zu. Hier lohnt ein Blick in die Dissertation, die endlich Anlass gegeben sollte, die bestehende Rechtsprechungspraxis auch normativ zu legitimieren. Insofern sollte die – lange ruhende – kriminalpolitische Debatte zu einem umfassenden und verfassungsrechtlich zufriedenstellenden Rechtsschutz in Strafsachen durch eine erweiterte Revision neu geführt werden.

 

 

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