Rita Haverkamp/ Michael Kilchling/Jörg Kinzig/ Dietrich Oberwittler/ Gunda Wössner (Hrsg.): Unterwegs in Kriminologie und Strafrecht – Exploring the World of Crime and Criminology. Festschrift für Hans-Jörg Albrecht zum 70. Geburtstag

von Prof. Dr. Anja Schiemann 

Beitrag als PDF Version 

2020, Duncker & Humblot GmbH, ISBN: 978-3-428-18251-0, S. 1278, Euro 219,90.

Die umfangreiche Festschrift zu Ehren von Albrecht führt in 6 Kapiteln 64 Aufsätze zusammen. Dabei wird dem Titel der Festschrift durchaus Rechnung getragen, kommen doch nicht nur deutsche Strafrechtswissenschaftler und Kriminologen zu Wort, sondern auch Kollegen aus Spanien, Kroatien, Griechenland, den Niederlanden, Uruguay, Georgien, dem Vereinigten Königreich, Ungarn, der Schweiz, China, Italien, Südafrika, der Tschechischen Republik und der Türkei.

Vorangestellt wird ein als „persönlicher Rückblick (in drei Teilen)“ geführtes Interview mit dem Jubilar. Neben einem Einblick in den wissenschaftlichen Werdegang und Fragen zur Person, nimmt Albrecht auch zur Entwicklung der Kriminologie Stellung.

64 Aufsätze können nicht in Gänze im Rahmen einer Rezension wiedergegeben werden, so dass sich auf einige ausgewählte Beiträge beschränkt wird. Diese Auswahl ist subjektiv und führt ggf. dazu, dass andere Interessenschwerpunkte der Leser nicht bedient werden. Daher kann man unter dem Link https://elibrary.duncker-humblot.com/publikation/b/id/55394/ das Inhaltsverzeichnis auf der Homepage des Verlages einsehen.

Das erste Kapitel „Sicherheit und Prävention“ beginnt mit einem Aufsatz von Sieber zur Auslandsübermittlung von Daten aus der strafprozessualen Telekommunikationsüberwachung. Primär wird hier die Richtlinie 2014/41/EU über die Europäische Ermittlungsanordnung in Strafsachen in den Blick genommen, aber auch deren Verhältnis zum Übereinkommen über die Rechtshilfe in Strafsachen zwischen den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union und dem IRG erörtert. Probleme, die sich aus den rechtlichen Unterschieden der verschiedenen nationalen Rechtsordnungen für die internationale Rechtshilfe zur Telekommunikationsüberwachung (TKÜ) ergäben, können laut Autor mit den beiden auch in Art. 30 Abs. 5 der Richtlinie genannten zentralen Beschränkungen der TKÜ gelöst werden. Für Deutschland heißt das, dass eine TKÜ-Ermächtigung nach deutschem Recht und die Stellung von Bedingungen durch die deutschen Gerichte erforderlich seien. Wichtig sei, diese Bedingungen im Interesse der betroffenen Bürger in der Praxis auch tatsächlich zu stellen.

Daher fordert der Autor die Aufnahme einer weiteren Bedingung in Nr. 77a RiVASt, nämlich dass Erkenntnisse aus dem Kernbereich der privaten Lebensgestaltung nicht verwertet werden dürfen und Aufzeichnungen über solche Erkenntnisse unverzüglich und in dokumentierter Form zu löschen sind. Weiterhin wird eine Ergänzung dahingehend gefordert, dass zumindest Aufzeichnungen über die Telekommunikation von Geistlichen und Verteidigern unverwertbar und zu löschen sind, soweit gegen sie nicht aufgrund von Tatsachen der Verdacht der Tatbeteiligung oder einer Anschlussstraftat besteht.

Zwei weitere Aufsätze in diesem Kapitel beschäftigen sich mit aktueller kriminologischer Forschung. Görgen/Sevenig/Wittenberg stellen unter dem Titel „Lokale (Un-)Sicherheiten in der Migrationsgesellschaft“ ausgewählte Fallstudiengebiete sowie Ergebnisse der qualitativen und quantitativen Befragungen ihrer SiQua-Studie vor (Sicherheitsanalysen und -vernetzung für Stadtquartiere im Wandel). Es wurde festgestellt, dass das Sicherheitsempfinden in der Bevölkerung in den untersuchten Stadtteilen beeinträchtigt und insbesondere bei Dunkelheit das eigene Wohnquartier als ein wenig sicherer Ort wahrgenommen wird. Die erlebte Unsicherheit weise den qualitativen und quantitativen Daten zufolge deutliche Bezüge zu wahrgenommenen Störungen der sozialen Ordnung und „Verfallserscheinungen“ der sozialen und physischen Umwelt auf. Dabei gingen kritische Einstellungen zu Zuwanderung mit der Wahrnehmung und dem Erleben beeinträchtigter Sicherheit einher. Projektergebnisse im Einzelnen können aktuell auf der Projekthomepage http://si-qua.de/ eingesehen werden.

Der zweite Aufsatz von Geissler-Frank/Krebs stellt eine qualitative Studie zum Selbstverständnis von Sozialarbeitern vor. Die empirische Untersuchung ging im Wesentlichen drei Forschungsfragen nach: Wie wird Sicherheit von Fachkräften der Sozialen Arbeit verstanden und erfahren? Wie ist der Sicherheitsauftrag in das professionelle Selbstverständnis integriert? Und wie wird der Sicherheitsauftrag praktisch ausgestaltet? Differenziert wird nach objektiver Sicherheitslage und subjektivem Sicherheitserleben. Hilfe wird dabei als konstitutiver Akt für Sicherheit identifiziert und das Sicherheitshandeln im beruflichen Alltag sowie dessen Grenzen beschrieben. In ihren professionellen Handlungsfeldern fühlen sich die Sozialarbeiter „erstaunlich sicher“ (S. 209).

Das zweite Kapitel trägt den Titel „Kriminologie und Kriminalpolitik“, beschäftigt sich jedoch primär mit kriminologischen Themen. Eingeleitet wird das Kapitel mit dem Ruf nach einer weltweiten Kriminologie von Winterdyk. Die Globalisierung der Kriminalität mache die Globalisierung der Kriminologie notwendig. In einem weiteren Aufsatz wird dem Zusammenhang zwischen straffälligem Verhalten von Eltern bzw. Erziehungsberechtigten vor allem in Bezug auf aggressive Taten und abweichenden Verhalten ihrer Nachkommen nachgespürt. Die empirisch-kriminologische Forschung könne in Längsschnittstudien Zusammenhänge deutlich machen. Gerade die Inhaftierung eines Elternteils habe eine höhere Kriminalitätsrate der Nachkommen zur Folge. Dennoch sei die Entwicklung der Kriminalpolitik immer noch auf Sanktionen und Einschränkungen der betroffenen Erziehungsberechtigten gerichtet. Bei einer punitiveren Politik werden mehr Kinder mit der Inhaftierung eines Elternteils konfrontiert. Dennoch sei es sehr unwahrscheinlich, dass es zu entsprechenden Veränderungen in Politik und Praxis in Bezug auf Sanktionen oder Präventionsprogrammen komme. Denn eine Veränderung dürfte nur dann zu erreichen sein, wenn es gelänge, die Öffentlichkeit vom Nutzen einer besseren Kriminalpolitik zu überzeugen.

Dölling/Hustus stellen in ihrem Aufsatz zur Korruption in der Wirtschaft ein interdisziplinäres Forschungsprojekt vor, dass der Frage nachging, inwieweit in Fällen aktiver Korruption in der Wirtschaft individuelle oder organisationale Devianz gegeben ist. Es wurden hierzu 20 Verfahrensakten analysiert, die den Schluss zuließen, dass die Korruptionsdelikte von den Firmeninhabern veranlasst wurden, so dass von einer „organisationalen Devianz“ von oben gesprochen werden könne. Allerdings könne nicht ausgeschlossen werden, dass auch das individuelle Interesse der verurteilten Angeklagten eine Rolle gespielt habe.

Ein weiterer Beitrag stellt Studienergebnisse zur Akzeptanz und Wirksamkeit des Einsatzes von Bodycams der bayerischen Polizei vor. Suttererbescheinigt dem Pilotversuch eine hohe Akzeptanz bei den beteiligten Polizisten. Die Erwartungen an die präventive und repressive Wirksamkeit der Bodycam seien eingangs hoch gewesen. Die Befragungen ergaben, dass aus Sicht der Beamten unbeteiligte Bürger den Einsatz der Bodycam akzeptierten. Die beteiligten Dienststellen gaben darüber hinaus an, dass durch die Bodycam die Bürgerbeschwerden zurückgegangen wären. Statistisch signifikant belegbar war dies aber nicht. Die Polizisten fühlten sich durch die Kamera selbst stärker geschützt. Die präventive Wirkung in Bezug auf Gewalt gegen Vollstreckungsbeamte wurde zwar von erfahrenen Bodycam-Beamten bejaht, allerdings nicht mehrheitlich. Eskalation würde durch die Bodycam aber nicht provoziert. Die Wirksamkeit der Bodycam hänge auch von den Rahmenbedingungen der jeweiligen Einsatzsituation ab. Auch die repressiven Möglichkeiten wurden von den befragten Bodycam-Beamten regelmäßig betont, da sich ein strittiger Sachverhalt leichter klären lasse.

Das dritte Kapitel enthält facettenreiche Beiträge zum großen Thema „Strafe und Strafzumessung“. Nach einem grundlegenden Beitrag zu den Straftheorien von Eser reflektiert aus der Sicht des Jubilars, folgen Ausführungen zur Todesstrafe im Gesamtüberblick von Schabas und bezogen auf China von Yue. Weigend geht der Frage schuldangemessener Strafzumessung im Völkerstrafrecht nach. Die Aufgabe, bei der Bestrafung völkerrechtlicher Verbrechen für eine relative Gerechtigkeit zu sorgen, stelle die Richter internationaler Strafgerichtshöfe vor fast unüberwindbare Schwierigkeiten, da in den maßgeblichen Rechtsvorschriften keine brauchbaren Maßstäbe für die Strafzumessung im Einzelfall zu finden seien. Denn die Fälle lassen sich kaum miteinander vergleichen. Dennoch seien die Richter bemüht, die Schuld jedes einzelnen Angeklagten in ein Strafmaß umzusetzen. Daher sollte die internationale Strafrechtswissenschaft versuchen, durch fortlaufende kritische Beobachtung der Rechtsprechung die faktisch maßgeblichen Faktoren herauszuarbeiten, um so für eine größere Gleichmäßigkeit der Strafmaßentscheidungen beizutragen.

Frisch macht in seinem Aufsatz Optimierungsvorschläge für einen Weg zu einer einheitlicheren Strafzumessung. So könne eine ausführliche Information über Strafzumessungsentscheidungen durch eine Dokumentation in einer Datenbank so wie in Japan zu einer Erleichterung und Vereinheitlichung der Strafzumessung beitragen. Zudem werden Optimierungsmöglichkeiten revisionsgerichtlicher Bemühungen um Rechtseinheit in der Strafzumessung aufgezeigt. Die BGH-Rechtsprechung im Bereich der Revision in Steuerstrafsachen leiste hier einen wichtigen Beitrag und es sei wünschenswert, wenn diese Bemühungen um eine Vereinheitlichung der Strafzumessung nicht auf den Bereich der Steuerstraftaten beschränkt blieben.

Der Frage um eine einheitlichere und transparentere Strafzumessung durch Strafzumessungsrichtlinien geht Ambos nach. Zunächst werden die Hauptkritikpunkte der gegenwärtigen Strafzumessungspraxis zusammengetragen und dann die englischen Strafzumessungsrichtlinien (Sentencing Guidelines) vorgestellt. Am Beispiel der vollendeten Körperverletzung wird die grundsätzliche Überlegenheit des englischen Ansatzes im Hinblick auf die Vorhersehbarkeit bzw. Bestimmbarkeit der konkreten Strafe und Nachvollziehbarkeit des Strafzumessungsaktes verdeutlicht. So ermögliche das englische Modell eine systematische und logische Subsumtion unter einen bestimmten Strafzumessungssachverhalt anhand der einschlägigen Deliktsrichtlinie schon vor Aburteilung über eine leicht zugängliche Webseite des Sentencing Council.

„Strafrechtliche Sozialkontrolle und Sanktionen“ heißt das 4. Kapitel und vereint sehr unterschiedliche Beiträge. Dünkel stellt in seinem Aufsatz kriminologische und kriminalpolitische Überlegungen zur elektronischen Überwachung in Europa an. Hierzu wird zunächst die Ausweitung der elektronischen Überwachung von Beschuldigten und Verurteilten in den europäischen Kriminaljustizsystemen sowie die unterschiedlichen Orientierungen nach Zielen und Zielgruppen im europäischen Kontext beschrieben. In Studien bezogen auf 17 Europäische Länder konnten sich nur sehr wenige Fälle bzw. Indizien dafür finden, dass die elektronische Überwachung auch zu einer Reduktion der Gefangenenraten beigetragen hat. Insgesamt sei die elektronische Überwachung weder ein Allheilmittel zur Reduzierung von Gefangenenraten noch zur Reduzierung der Rückfälligkeit bzw. Förderung der sozialen Integration von Straftätern. Insofern sei es Aufgabe kritischer empirischer Begleitforschung herauszufinden, unter welchen Bedingungen und bei wem die elektronische Überwachung eine konstruktive Rolle bei der Erreichung der von seinen Befürwortern propagierten Ziele spielen kann. Es wird dafür plädiert, die elektronische Überwachung nur in den Fällen gesetzlich einzusetzen, bei denen anderenfalls eine unbedingte Freiheitsstrafe unvermeidlich wäre und andere, weniger eingriffsintensive Alternativen zur Freiheitsstrafe nicht geeignet erscheinen. Außerdem müsse der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ernst genommen werden, so dass die elektronische Überwachung nur in wenigen Fällen Anwendung finden könne. Bei einem richtigen verfassungsrechtlichen Verständnis der elektronischen Überwachung könne diese nicht über ein Nischendasein hinausgelangen. Daher tue die Politik gut daran, eine Kriminalpolitik mit Augenmaß zu betreiben und gewissenhaft abzuwägen anstatt populistische „Schnellschüsse“ zu treffen.

Heinz geht in seinem Beitrag der Staatsanwaltschaft als „der“ kriminalpolitischen Akteurin im System strafrechtlicher Sozialkontrolle nach. Er stellt hierfür die Erledigungsstrukturen und deren Entwicklungen vor und kommt zu dem Schluss, dass die Staatsanwaltschaft empirisch betrachtet keine Anklage- sondern eine Einstellungsbehörde ist. Dabei gehe eine konstante Erledigungspraxis im jeweiligen Landesdurchschnitt einher mit erheblichen Unterschieden zwischen den Ländern. Diese Unterschiede seien Ausdruck regional unterschiedlicher Justizkulturen. Eine solche systematisch kriminalpolitische Akzentsetzung im Bereich der den Betroffenen besonders belastenden Strafverfolgung sei aber durch die grundgesetzliche Kompetenzerteilung nicht gedeckt. Der Anschein einer grundgesetzwidrigen Handhabung könne laut Heinz nur durch eine nach Tat- und Tätermerkmalen differenzierende Beschuldigtenstatistik der Staatsanwaltschaft widerlegt werden. Diese wurde schon wiederholt gefordert und sei auch in der beim BMJV eingerichteten Bund-Länder-Arbeitsgruppe „Strafrechtspflegestatistikgesetz“ diskutiert worden. Insofern ist es auch nach Ansicht der Rezensentin an der Zeit, eine solche Statistik einzuführen.

In seinem Aufsatz zu Einstellungen gegen Geldauflage, Verwarnungen mit Strafvorbehalt und Geldstrafe im Vergleich gibt Kinzig zunächst einen empirischen Überblick, um dann die Kriterien für die Auswahl vorzustellen. Zusammenfassend werden verschiedene Thesen aufgestellt. Eine davon beinhaltet einen de lege ferenda Vorschlag, nach dem das Verhältnis zwischen § 153a StPO und § 59 StGB (mindestens) neu zu justieren besser aber noch § 153 a StPO zu präzisieren oder sogar ganz abzuschaffen sei.

Die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 StGB analysiert Tetal in ihrem Beitrag. Nach einem kurzen Blick auf die aktuelle Rechtslage wird die Datenlage ausgewertet. Während die Zahl der Anordnungen der Unterbringung gem. § 63 StGB im Zeitraum zwischen 2007 bis 2016 abnahm, nahmen die Bestandszahlen der im Maßregelvollzug Untergebrachten bis zum Jahr 2013 zu. Dies weist auf eine deutliche Zunahme der Unterbringungsdauer hin. Insbesondere zeige sich seit 2004 keine Veränderung im Anteil der Personen mit langen Unterbringungszeiten. Leider trifft der Aufsatz noch keine Aussagen für den Zeitraum seit der Gesetzesänderung 2016. Hier wird nur darauf verwiesen, dass die Unterbringungsdauer im Maßregelvollzug weiter mit Längsschnittdaten untersucht werden solle, um zu überprüfen, ob die Gesetzesänderung zu Veränderungen der Unterbringungsdauer geführt hat.

Im Aufsatz zu der Sanktionierung von Vergewaltigungsdelikten stellt Grundies u.a. regionale Differenzen in der Sanktionspraxis fest. Bei minder schweren Fällen sei aber bspw. der Differenzierungsgrad der Strafen geringer, als dies nach der Gesetzeslage möglich wäre.

Vor dem Hintergrund der sich – auch durch die Erklärungen im Koalitionsvertrag der neuen Regierungsparteien –  abzeichnenden Legalisierung von Cannabis für Erwachsene in Deutschland sind die Beiträge von Derenčincovič/Kalac zur kroatischen Drogenpolitik, von Palermo zu regulierten Cannabismärkten in den USA und in Uruguay sowie der Aufsatz von Glonti zur Entkriminalisierung der Drogendelikte in Georgien interessant und lesenswert.

Das fünfte Kapitel beschäftigt sich mit Jugendkriminalität und Jugendkriminalrecht. Auch dieses enthält neben einem Blick auf die Lage in Deutschland Aufsätze zur Jugenddelinquenz und dem Jugendstrafrecht in Griechenland (Lambropoulou sowie Pitsela), in China (Lin) und der Tschechischen Republik (Válková). Für Deutschland geht Naplava auf den Rückgang der Kriminalität junger Menschen im Kontext des Wandels der Jugendphase ein. Der Rückgang der Jugendkriminalität gehe einher mit äußeren und strukturellen Veränderungen der Jugendphase in Bezug auf Familie, Bildung und Freizeit, aber auch innerer Haltungen wie Leistung, Qualifikation und Eigenverantwortung. Insofern könne der Rückgang der Jugendkriminalität in den Kontext gesellschaftlicher Veränderungen hin zu einer Ökonomisierung des gesellschaftlichen Lebens gestellt werden. Daraus folge eine ausgeprägte Optimierung der eigenen Biographie bei gestiegenen Anforderungen an die individuelle Selbstkontrolle. Dieses Ergebnis spräche für eine stärkere Verzahnung von allgemeiner Jugendforschung im Kontext gesellschaftlichen Wandels und der kriminologischen Forschung zur Jugenddelinquenz.

In dem Beitrag von Oberwittler/Gerstner wird die Entwicklung der Jugenddelinquenz nach den MPI-Schulbefragungen 1999 und 2011 vorgestellt. Datengrundlage war eine zweimalige Befragung in Köln und Freiburg sowie Gemeinden des Landkreises Breisgau-Hochschwarzwald bzw. Köln und Mannheim. Es zeigte sich ein starker Rückgang der selbstberichteten Delinquenz. So verzeichnete Köln einen rechnerischen Rückgang der von Jugendlichen begangenen Gewaltdelikte um ca. 60% und bei den schweren Eigentumsdelikten um ca. 70%. Die Studie legte einen Fokus auf die sozialräumliche Dimension des Kriminalitätsrückgangs bei Jugendlichen. Die Schulbefragung zeigte, dass die Dynamik der zeitlichen Veränderungen im straffälligen Verhalten von Jugendlichen räumlich sehr stark auf die sozial benachteiligten Stadtviertel der Großstädte konzentriert war. Die Autoren resümieren, dass es sich für die weitere Forschung lohne zu untersuchen, welche spezifischen sozialen Bedingungen an diesen sozialen Orten dazu beigetragen haben, dass Jugenddelinquenz seltener geworden ist.

Spiess beschäftigt sich in seinem Aufsatz mit der Rechtswirklichkeit jugendstrafrechtlicher Sanktionspraxis und stellt im Titel die provokante Frage: Jugend als Strafschärfungsgrund? Die Befunde scheinen diesen Verdacht zu bestätigen. So wird trotz des überwiegenden Bagatellcharakters jugendtypischer Rechtsbrüche nach dem JGG seltener als in Verfahren gegen Erwachsene folgenlos eingestellt. Als zweites Fazit stellt der Verfasser fest, dass nicht die Anwendung des JGG die Heranwachsenden begünstige, sondern allenfalls die Nicht-mehr-Anwendbarkeit des JGG und damit des Jugendarrests nach Vollendung des 21. Lebensjahres. Konstatiert wird drittens, dass die erzieherischen Reaktionsmöglichkeiten des JGG kaum ausgeschöpft werden, so dass der Erziehungsgedanke zu einem Rechtfertigungsinstrument unangemessener Ahndung verkommen sei. Kriminalpolitisch wird – meines Erachtens zu Recht – die Abschaffung des Jugendarrests gefordert.

Das letzte Kapitel ist den Folgewirkungen von Strafe und Strafvollzug gewidmet. In dem einleitenden Aufsatz von Kilchling werden die strafrechtlichen und nichtstrafrechtlichen Zusatzsanktionen in Deutschland überblicksartig vorgestellt. Vor dem Hintergrund, dass nach dem aktuellen Koalitionsvertrag das Sanktionensystem mit dem Ziel von Prävention und Resozialisierung überarbeitet werden soll (S. 106), sicher ein lesenswerter Beitrag, der ausblickend zu dem Schluss kommt, dass Deutschland über einen komplexen Mix deliktsbezogener Zusatzsanktionen verfügt, die einen kohärenten konzeptionellen Rahmen vermissen ließen.

Ein weiterer Aufsatz von Dessecker verdeutlicht die rechtlichen und sozialen Folgen von Strafen. Gerade das unübersichtliche Feld der Kollateralfolgen von Strafen lasse erahnen, dass schon die rechtlichen Auswirkungen strafrechtlicher Verurteilungen weit über den Regelungsgehalt des Strafgesetzbuches hinausreichen können. Zudem sei über die sozialen Folgen von Strafen wenig bekannt. Es fehle an systematischen Erhebungen über die Lebenslagen ehemaliger Strafgefangener in Deutschland, obwohl soziale Integration als Ziel strafrechtlicher Interventionen Verfassungsrang besitze. Insofern identifiziert hier Dessecker zu Recht Forschungsbedarf.

Nedopil beschreibt in seinem Beitrag das Risikomanagement bei Straftätern als interdisziplinäre Aufgabe. Rückfallprävention und soziale Reintegration gelänge dort am besten, wenn sie speziell auf die Risikomerkmale ausgerichtet sei, die sich als deliktsrelevant erwiesen hätten. Es sei eine multidisziplinäre Herangehensweise erforderlich, um gemeinsam die Aufgaben zu erfüllen, nämlich für die Sicherheit der Allgemeinheit und das Wohlbefinden und die Wahrung individueller Rechte der Betroffenen zu sorgen. Eine interdisziplinäre Zusammenarbeit gelänge aber nur, wenn ein gemeinsames Grundverständnis zwischen den Akteuren gefunden wird und diese die Sichtweisen, Aufgaben und Grenzen der unterschiedlichen Akteure in den Grundzügen verstehen. Zwar erkennt der Autor hier eine mittlerweile funktionierende interdisziplinäre Zusammenarbeit an. Jedoch sieht er noch Optimierungspotenzial bei den Juristen. Interdisziplinäre Aus- und Weiterbildung gäbe es hier kaum. Dies ist sicher richtig. So sind nach Auffassung der Rezensentin nicht nur im Bereich des Risikomanagements, sondern auch zuvor bei der Entscheidung über bestehende Gefährlichkeit des Täters oder noch weiter im Vorfeld bei Fragen der Schuldfähigkeit Schulungen von Juristen und eine Weitung des Blicks auf andere Disziplinen dringend geboten.

Sehr dezidiert gibt der Aufsatz von Obergfell-Fuchs die Entwicklung des Strafvollzugs in Deutschland seit der Jahrtausendwende wieder. Auch wenn die Entwicklung hin zu sinkenden Gefangenenzahlen sehr erfreulich ist, so verschärft sich die Situation doch im Hinblick auf die deutlich steigenden Zahlen nichtdeutscher Gefangener. Hier stünden die Vollzugsanstalten vor der Herausforderung, sprachlichen Limitierungen, aber auch kulturellen und religiösen Besonderheiten Rechnung zu tragen. Hinzu komme, dass es einen Trend hin zu einem älter werdenden, schwierigeren und in Freiheit vielfach gescheiterten Klientel gäbe. Hier sei es Aufgabe, eine wirksame Vollzugspolitik umzusetzen. Der Verfasser fordert kriminologische Analysen langer Zeitreihen und eine Beobachtung von Entwicklungen mit Augenmaß.

Diese Auswahl an Aufsätzen ist, wie schon eingangs betont, lediglich dem Interesse der Rezensentin und vor allem dem Schwerpunkt der KriPoZ geschuldet. Der Fokus lag also auf Beiträgen mit einem – eventuell auch nur leichten – kriminalpolitischen Einschlag und zudem auf empirischen Studien ganz im Sinne der immer wieder geforderten evidenzbasierten Kriminalpolitik.

Zu resümieren bleibt, dass es nicht nur ein haptisches Vergnügen ist, die voluminöse Festschrift aus dem Hause Duncker & Humblot in der Hand zu nehmen, sondern auch ein inhaltliches. Durch den nicht nur nationalen, sondern auch internationalen Blick auf die 6 Themenschwerpunkte wird die Festschrift ihrem im Titel gestellten Anspruch „Exploring the World of Crime und Criminology“ in jeder Hinsicht gerecht.

 

Unsere Webseite verwendet sog. Cookies. Durch die weitere Verwendung stimmen Sie der Nutzung von Cookies zu. Informationen zum Datenschutz

Die Cookie-Einstellungen auf dieser Website sind auf "Cookies zulassen" eingestellt, um das beste Surferlebnis zu ermöglichen.
Wenn Sie diese Website ohne Änderung der Cookie-Einstellungen verwenden oder auf "Akzeptieren" klicken, erklären Sie sich damit einverstanden.

Weitere Informationen zum Datenschutz entnehmen Sie bitte unserer Datenschutzerklärung. Hier können Sie der Verwendung von Cookies auch widersprechen.

Schließen