Jan Christoph Bublitz/Jochen Bung/Anette Grünewald/Dorothea Magnus/Holm Putzke/Jörg Scheinfeld (Hrsg.): Recht – Philosophie – Literatur. Festschrift für Reinhard Merkel zum 70. Geburtstag

von Prof. Dr. Anja Schiemann

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2020, Duncker & Humblot, ISBN: 978-3-428-15566-8, zwei Teilbände, insg. S. 1672, Euro 299,90.

Die monumentale, in zwei Teilbänden erschienene Festschrift für den Jubilar Merkel deckt vielfältigste Facetten ab, die Recht, Philosophie und Literatur zu bieten haben. Im Vorwort wird die Vita Merkels kurz nachgezeichnet, bevor, wen würde es wundern, „Literarisches“ den Auftakt der Festschrift macht. Gleich zwei der sechs Beiträge dieses Kapitels, nämlich die von Bung und Scheichl widmen sich Karl Kraus und tragen somit der Tatsache Rechnung, dass sich Merkel in seiner sehr umfangreichen Dissertation ebenfalls mit „Strafrecht und Satire im Werk von Karl Kraus“ auseinandergesetzt hat. Bung legt den Schwerpunkt seiner Ausarbeitung nicht nur auf Kraus, sondern auch seinen Interpreten Adorno, um hier zudem „das spannungsvolle Verhältnis Sexualität und Strafrecht“ zu vermitteln (S. 4). Schleichl spürt den Prozessakten als Quellen des Wirkens von Karl Kraus am Beispiel des Prozesses Pisk gegen Kraus nach.

Das zweite Kapitel ist der politischen Philosophie und Rechtsphilosophie gewidmet und vereint Beiträge mit sehr unterschiedlichen Blickrichtungen. Zabel bspw. wirft in seinem Aufsatz „Handeln, Entscheiden, Zurechnen. Wie der Einsatz intelligenter Technik die deontologische Deutung des Rechts verändert“ (S. 271) durchaus auch einen Blick auf kriminalpolitische Implikationen. (Rechts-)Probleme identifiziert er, soweit entweder aufgrund der komplexen Technik des Fahrzeugs die Verantwortungsbereiche nicht mehr präzise abgrenzbar sind oder Kausalitäts- und Verantwortungsbeiträge durch die Selbstlernfähigkeit autonomer Systeme neutralisiert werden. Denkbar sei hier eine neue Ausgestaltung der Produkt- oder Produzentenhaftung, eine Halter-Gefährdungshaftung oder an den Stand der Technik angepasste Versicherungslösungen. Darüber hinaus käme die Konstruktion einer elektronischen Person mit eingeschränkten Rechten und Pflichten in Betracht. Das Konstrukt eines solchen Zurechnungsadressaten hätte den Effekt, dass Haftungssummen durch die beteiligten Akteure gebündelt und Ansprüche direkt gegenüber der ePerson geltend gemacht werden könnten (S. 284).

Es ist kein Zufall, dass im Kapitel zu den Grundlagen des Strafrechts gleich 8 Beiträge der Willensfreiheit und Schuld gewidmet sind. Denn auch Merkel hat sich intensiv mit diesen Fragen beschäftigt – seine Schrift „Willensfreiheit und rechtliche Schuld. Eine strafrechtsphilosophische Untersuchung“ wurde 2008 sogar als eines der „Juristischen Bücher des Jahres“ ausgezeichnet. Im ersten Aufsatz dieses Kapitels geht Walde dem normativen Charakter menschlicher Freiheit und der Frage nach dem objektiven Fundament des Schuldprinzips nach (S. 317 ff.). Es folgt ein Beitrag von Fahl zum schlechten Gewissen des Strafrechtlers und der Willensfreiheit (S. 335 ff.). Hier wird der Disput zwischen Merkel und Herzberg aufgegriffen, um anschließend den eigenen Standpunkt des Verfassers zu verdeutlichen. Fahl hält weder eine Uminterpretation im Hinblick auf ein deterministisches Weltbild für geboten, noch sieht er Anlass, § 20 StGB umzuformulieren. Allerdings gibt er Merkel insofern recht, dass das derzeitige Model strafrechtlicher Verantwortlichkeit bedeutet, einen Menschen für etwas verantwortlich zu machen und zu bestrafen, zu dem er im strikten Sinne (vielleicht) nichts konnte (S. 350).

Der Frage, ob Unrecht Schuld voraussetzt, spürt Kindhäuser in seinem Aufsatz nach, während Herzberg das Anderskönnen in der strafrechtlichen Schuldlehre betrachtet. Letzterer grenzt seine Auffassung von derjenigen von Merkel und Burkhardt ab, um „zu guter Letzt“ mit folgender „These zu provozieren“: „Im Sinne indeterministischer Freiheit verstanden, ist die Freiheit der Willensbildung gerade nicht Voraussetzung des Schuldvorwurfs, sondern das, was ihn verböte. Nicht das indeterministische – das deterministische Menschenbild ist die allein tragfähige Grundlage unseres Strafrechts“ (S. 393).

Fischer geht in seinem Beitrag der Frage nach, wieviel Selbstreferentialität die Schuld verträgt und untersucht hierzu das Schuldmerkmal der schweren seelischen Abartigkeit, das mittlerweile in schwere seelische Störung umbenannt wurde, ohne dass damit eine inhaltliche Korrektur erfolgt wäre (BT-Dr. 19/19859, S. 47). Der Verfasser identifiziert am Beispiel sexueller Devianz unter dem Gesichtspunkt der Erheblichkeit „vielfach, wenn nicht überwiegend“ selbstreferentielle Formeln (S. 406). Er kommt zu dem Ergebnis, dass es keine genuin rechtliche Dimension von Persönlichkeitsstörung in Abgrenzung zur „Ungestörtheit“ gibt, sondern viel eher ein soziales Bedürfnis, eine solche Grenze zu bestimmen. Die Fragen, die sich am Übergang zum Sein zum Sollen, von der Krankheit zur Unschuld stellen, seien mit den üblichen Postulaten nicht zufriedenstellend zu beantworten (S. 412).

In seinem Aufsatz zur „Schuldfähigkeit als Fertigkeit“ nimmt Haas zunächst das Jugendstrafrecht in den Blick, um daraus Erkenntnisse auch für das Erwachsenenstrafrecht zu gewinnen. Während in der jugendstrafrechtlichen Literatur das soziale Normenlernen durchaus Beachtung findet und Sozialisationsmängel Indikatoren für eine nicht hinreichend entwickelte Schuldfähigkeit sein könnten, werde eine Diskussion im Erwachsenenstrafrecht darüber, ob auch Sozialisationsstörungen oder -defizite unter das Eingangsmerkmal der schweren seelischen Störung fallen, nicht geführt (S. 416 f.). Haas regt an, weitere Forschung – auch unter Einbeziehung der Neurowissenschaften – zu initiieren, um die Bedeutung des sozialen Normenlernens für die Schuldfähigkeit besser zu erfassen (S. 421).

Wohlers geht in seinem Beitrag der Frage nach, ob es sich beim tradierten Schuldstrafrecht um ein Auslaufmodell handelt (S. 423 ff.). Er benennt zunächst die Herausforderungen des Schuldstrafrechts durch die Erkenntnisse der modernen Hirnforschung, um dann über die Reformulierung des Schuldbegriffs nachzudenken und den Schuldbegriff im Spannungsfeld von Ontologie und Normativität zu verorten. Die Herausforderungen des Schuldstrafrechts sieht er weniger in der kaum geführten Grundlagendiskussion im Zusammenhang mit der Einführung der Unternehmensstrafbarkeit, sondern viel eher in der Frage nach der Strafbarkeit von mit künstlicher Intelligenz ausgestatteten Robotern und Softwareprogrammen (S. 439). Einen gangbaren Weg für eine strafrechtliche Lösung sieht der Autor in einem funktionsanalogen Pendants zu dem, was bei Menschen die als Schuld etikettierte und für die Legitimität des Tadels unverzichtbare Vorwerfbarkeit ausmacht. Während man im Bereich des Unternehmensstrafrechts über eine Betriebs- oder Organisationsschuld nachdenken könne, greife dies bei künstlicher Intelligenz nicht. Hier werde man verlangen müssen, dass intelligente Agenten das Ansinnen, das in der Strafe liegt, nachvollziehen können, da anderenfalls der mit der Institution der Strafe verbundene Tadel ins Leere gehe (S. 441).

In seinem Aufsatz „Das Strafrecht einer fragmentierten Gesellschaft“ (S. 528 ff.) widmet sich Kubiciel auch der Kriminalpolitik. Zunächst stellt er die Frage, ob der Gesetzgeber weiterhin der Erwartung gerecht werden kann, dass seine Gesetze in Form und Inhalt rational und vernünftig sind (S. 537). Lobend erwähnt er die Reform des Korruptionsstrafrechts und die Neuordnung des Vermögensabschöpfungsrechts, bevor er eine „unsystematisch-sprunghafte Rechtspolitik“ kritisiert, die zu „kleinräumigen Änderungen des Strafrechts“ führe (S. 538). Beispielhaft werden hier u.a. die Böhmermann-Affäre oder die Kölner Silvesternacht benannt. Als wesentlichen Grund für diese Tendenz zur Einzelfallgesetzgebung nennt der Verfasser, dass diese mehr Aufmerksamkeit bei potenziellen Wählern generieren würde und sich so leichter parlamentarische Mehrheiten finden ließen als für größere Reformvorhaben. Allerdings sieht Kubiciel in dieser „Zerfaserung des Strafrechts“ auch den gespiegelten Zustand der Gesellschaft (S. 538). Des Weiteren wird angenommen, dass die Strafrechtspolitik der Stabilisierung von Institutionen diene, um Institutionen die notwendige gesellschaftliche Anerkennung nach außen und innen zu vermitteln. Zudem sei eine Tendenz zur Stabilisierung tradierter oder neu entstandener Sittlichkeitsvorstellungen zu erkennen. Der Autor prognostiziert, dass die Bedeutung von Wirtschaftsethik, Sexual- und Sozialmoral für die Kriminalpolitik weiter zunehmen werde. Die Kriminalpolitik der kommenden Jahre werde sich vermutlich durch ein Nebeneinander von systematisch angeleiteter und einzelfallorientierter Gesetzgebung auszeichnen. Daher werde die Wissenschaft lernen müssen, mit Fragmenten zu arbeiten.

Das vierte Kapitel widmet sich dem allgemeinen Teil des Strafrechts und bildet das letzte Kapitel im ersten Teilband der Festschrift. Kudlich geht in seinem Aufsatz „Die Expansion des Strafrechts durch § 9 II 2 StGB“ den „Problem-Dimensionen“ und Lösungsbedarfen nach (S. 634). Er stellt die Frage, warum akzessorischer Rechtsgüterschutz gewährt werden muss, wenn ein Verhalten am Tatort nicht unter Strafe steht. Diese kriminalpolitische Grundsatzentscheidung sei aber zumindest dann hinnehmbar, soweit es „nur“ um eine Strafbarkeit inländischer Teilnahmehandlungen nach Maßgabe von § 9 Abs. 2 S. 1, 2 StGB gehe. Anders könne dies zu beurteilen sein, wenn es sich um eine kriminalpolitisch ohnehin fragwürdige Strafdrohung handele. Zwar hat sich das von Kudlich gewählte Beispiel des § 217 StGB durch die vom BVerfG festgestellte Verfassungswidrigkeit inzwischen aufgelöst, die Grundaussage ist geblieben. Denn für fragwürdige Strafdrohungen könne es zum einen legitime, zumindest aber nachvollziehbare Gründe dafür geben, warum das Ausland aufgesucht werde. Zum anderen könnte sich der Haupttäter im Ausland bei einer als Anstiftung oder Beihilfe in Betracht kommenden vorhergehenden Teilnahmehandlung in Deutschland zumindest mittelbar zum Schutz im Interesse des potenziellen Teilnehmers gedrängt sehen, sein Verhalten zu unterlassen, obwohl dieses nach seiner Heimatrechtsordnung erlaubt sei.

Der Beitrag von Seelmann wirft die Frage nach der „Zurechnung zu künstlicher Intelligenz?“ auf und ist inhaltlich eng verknüpft mit dem Beitrag von Wohlers, zumal er auch zu einem ähnlichen Ergebnis kommt. Nach Benennung der gewöhnlichen Zurechnungserfordernisse wird herausgestellt, dass eine Reihe von Voraussetzungen, die für die Zurechnung zum menschlichen Handeln vorliegen müssen, im Fall von künstlicher Intelligenz nicht gegeben sind (S. 701). Zwar stehe es dem Recht frei, für die Zurechnung andere, weniger weitgehende Anforderungen fruchtbar zu machen, wie dies bei der juristischen Person bereits geschehen und für die ePerson, insbesondere die künstliche Intelligenz, auch teilweise gefordert werde. Sinnvoll wäre eine solche Ausweitung des Zurechnungsadressaten aber nicht. Eine künstliche Intelligenz müsse vielmehr die bei Menschen üblichen Zurechnungsvoraussetzungen aufweisen, wenn man sie zu einem Zurechnungsadressaten machen wollte (S. 706).

Schlehofer widmet sich in seinem Aufsatz strafbarkeitseinschränkenden Alternativen zur hypothetischen Einwilligung im Arztstrafrecht. Die Rechtsprechung habe hier auf vielfältigste Fragen keine klaren Antworten gegeben, so dass der Autor verschiedenen Alternativen nachspürt, bevor er sich im Fazit für eine als systemkonform identifizierte Strafbarkeitsalternative zum Konstrukt der hypothetischen Einwilligung entscheidet: „die Beschränkung der einwilligungshindernden Irrtümer auf Irrtümer über entscheidungsrelevante rechtsgutsbezogene Umstände und die Ergänzung des Strafunrechtsausschlusses bei Irrtümern über entscheidungsirrelevante rechtsgutsbezogene Umstände durch ein erlaubtes Risiko“ (S. 760).

Auch Beck geht in ihrem Aufsatz „Fiktion vs. Realität“ der hypothetischen Einwilligung auf den Grund. Nachdem die Debatte nachgezeichnet und analysiert wird, werden verschiedene Fallgruppen unterschieden. Die Verfasserin differenziert nach drei Fallgruppen: „1) Die nachträgliche Klarstellung der tatsächlich abgegebenen Einwilligungserklärung, 2) Die nachträgliche, explizite Genehmigung des Rechtsgutseingriffs und 3) Die Fiktion einer nie erklärten Einwilligung“ (S. 777). Das vermeintlich „Hypothetische“ der hypothetischen Einwilligung nach Fallgruppe 3 könne sich im Strafrecht nicht wiederfinden, denn relevant seien nur tatsächliche Erklärungen, nicht aber Hypothesen und Fiktionen.

In seinem Beitrag „Nothilfe für Tiere als Anthropozentrik“ geht Keller neben einer Auslegung des § 32 StGB zumindest überblicksartig Grundlagenproblemen wie der Bedeutung der Unterscheidung Mensch/Tier, ihrer ethischen Legitimität und sozialen Implikationen und Konsequenzen nach. Er kommt zu dem Ergebnis, dass die Menschenähnlichkeit von Tieren nicht so weit gegeben ist, dass sich daraus im Kontext des § 32 StGB ein subjektives Recht, von Quälerei verschont zu bleiben, ergäbe. Denn den Tieren fehle die Fähigkeit, Recht zu verstehen und sich entsprechend verantwortlich zu verhalten. Insoweit würde mit der Nothilfe für Tiere ein menschliches Allgemeininteresse in unangemessener Weise geschützt und die Eigenart der Tiere ignoriert. Die Abwendung von Tierleid durch Private sei durch § 34 StGB angemessener möglich als durch § 32 StGB (S. 790).

Hoven stellt in ihrem Aufsatz „Tötung im Notstand?“ Überlegungen zur Reichweite des Notstandsrechts und hier insbesondere im Völkerstrafrecht an. Sie kritisiert die in Art. 31 Abs. 1 lit. d ICC-Statut normierte Notstandsregelung aufgrund ihrer Unbestimmtheit und der fehlenden Differenzierung zwischen Rechtfertigung und Schuld. Die Verfasserin macht deutlich, dass nicht nur das Völkerstrafrecht auf die Frage nach dem Umgang mit Notstands-tötungen keine überzeugende Antwort gefunden hat, sondern auch das deutsche Recht keine klaren Vorgaben hierfür bereithält. Stattdessen werde hier die Entscheidung über die Grenzen des Notstandsrechts einer kaum mehr überschaubaren wissenschaftlichen Diskussion überantwortet. Es sei daher Aufgabe des Normsetzers, sowohl im Völkerstrafrecht als auch im nationalen Recht durch ausdrückliche Regelungen für Klarheit zu sorgen (S. 884). Erste Vorschläge für eine solche Normgestaltung des Notstandsrechts macht die Verfasserin in ihrem Beitrag.

„Roboterprogrammierung im Dilemma“ lautet der Aufsatz von Kuhli, der nach einer Begriffsbestimmung und einem Blick auf rechtsgutsrelevante Entscheidungen die Frage aufwirft, ob es neuer Verhaltensnormen für tödliche Notstandssituationen mit Unbeteiligten bedarf. Er kommt zu dem Ergebnis, dass die Kontexte, in denen ein Roboterprogrammierer und ein Weichensteller – insofern Bezug nehmend auf das Konstrukt von Engischund den präzisierenden Sachverhalt von Welzel – im Hinblick auf Notstandssituationen nicht signifikant voneinander abweichen. Die Unterschiede lägen in der zeitlichen Vorverlagerung der Programmierung sowie dem Umstand, dass der Weichenstellerfall eine Panikreaktion implizieren könne, was beim Programmierer in der Regel nicht der Fall sei. Die Verhaltensnormen seien aber die gleichen. Neue Herausforderung für Straf- und Strafprozessrecht begründe das Programmieren von Robotern gleichwohl. Die erste Herausforderung gelte den normativen Anforderungen an die Sorgfaltspflichten bei der Programmierung, die zweite beträfe die Frage der Beweisbarkeit von Roboterprogrammierungen. Die dritte Herausforderung läge in Aspekten der Internationalisierung und Globalisierung, da der grenzüberschreitende Einsatz von Robotern es notwendig mache, die Rechtmäßigkeit einer Programmierentscheidung in jedem betroffenen Land sicherzustellen (S. 907).

Im letzten Aufsatz dieses 4. Kapitels stellt Rönnau die Frage, ob es sich bei der Haftungsfreistellung des Whistleblowers nach § 5 Nr. 2 GeschGehG um eine gelungene Regelung handelt. Er verneint dies, nachdem er zunächst den Geschäftsgeheimnisschutz „im neuen Gewande“ (S. 911) vorgestellt und die Voraussetzungen des § 2 Nr. 1 GeschGehG umrissen hat. Die eingehende Analyse des § 5 Nr. 2 GeschGehG macht deutlich, dass dieser Ausnahmetatbestand mit vielen Unsicherheiten behaftet ist, so dass die Sorge begründet ist, diese Regelung werde Hinweisgeber eher davon abhalten, Missstände aufzudecken.

Teilband 2 beginnt mit dem fünften Kapitel zum Strafrecht Besonderer Teil; auch hier finden sich wieder sehr unterschiedliche Beiträge, wobei ein leichter Schwerpunkt beim Thema Sterbehilfe zu verzeichnen ist.

Stuckenberg geht in seinem Beitrag der Frage nach, ob der im Juni 2016 von Hessen eingebrachte Gesetzentwurf zum digitalen Hausfriedensbruch in Form eines neuen § 202e StGB-E Gesetz werden sollte. Bislang konnte sich ein solcher Vorschlag nicht durchsetzen und auch der Verfasser lehnt eine Neuregelung ab. Es sei kein gesetzgeberischer Handlungsbedarf zu erkennen. Zudem sei der vorgeschlagene Tatbestand „unbestimmt, überbreit und unstimmig“ (S. 949).

Der Aufsatz von Wolters nimmt das gesetzliche Merkmal „gegen den erkennbaren Willen“ in der Neufassung des § 177 Abs. 1 StGB in den Blick. Der Beitrag möchte „einen forensisch greifbaren Beitrag zur rechten Auslegung eines Tatbestandsmerkmals“ leisten (S. 971). Nach ausführlicher Analyse kommt er zu dem ernüchternden Ergebnis, dass die praktische Bedeutung eher gering ist, da Fälle reiner Passivität seitens des Täters eine sehr seltene Ausnahme bleiben werden.

Roxin spürt dann einer weiteren Modifizierung durch das 50. Strafrechtsänderungsgesetz nach, nämlich der Neueinführung des § 184j StGB. Er zeichnet die sich mit der Vorschrift befassenden widerstreitenden Positionen nach, bevor er selbst feststellt, dass er einen realen Strafwürdigkeitsgehalt einer ohne eigene Deliktsbegehung vollzogenen Mitwirkung an einer bedrängenden Gruppe kaum erkennen kann (S. 978). Daher hält er die Vorschrift für dogmatisch und kriminalpolitisch verfehlt und wegen Verstoßes gegen das Schuldprinzip sogar für verfassungswidrig (S. 981).

Den Auftakt zu der Reihe von Aufsätzen zu Sterbehilfe und Selbsttötung bildet der Beitrag „Menschenwürde und Sterbehilfe“ von von der Pfordten. Nach einem Blick auf die verschiedenen Teilbegriffe der Menschenwürde, geht der Verfasser der Frage nach, ob dies Folgerungen für die Beurteilung der Tötung auf Verlangen und der Beihilfe zum Suizid impliziert. Er kommt zu dem Ergebnis, dass der Schutz der Menschenwürde in ihren typischen Konstellationen weder eine Begründung noch eine Kritik der Tötung auf Verlangen des Sterbenden oder der Beihilfe zum Suizid rechtfertigen kann (S. 1042).

Ethischen Fragen der Selbsttötung angesichts der aktuellen deutschen Situation um ärztliche Sterbehilfe und um Sterbehilfevereine geht Gethmann in seinem Aufsatz nach. Er identifiziert Grenzen der Selbstbestimmung, bevor er sich Strebehilfevereinen und ärztlich assistierten Selbsttötungen zuwendet. Saliger beschäftigt sich mit der prozeduralen Regelung der Freitodhilfe. Auch wenn § 217 StGB mittlerweile aufgehoben wurde, so hat der Aufsatz des Verfassers nichts an Aktualität verloren, da er sich mit der Frage beschäftigt, was der Gesetzgeber im Falle der Verfassungswidrigkeit des § 217 StGB veranlassen sollte (S. 1063). Er lehnt eine strafgesetzliche Verfahrenslösung ab. Bei einer einheitlichen Regelung für alle Freitodhelfer plädiert er für ein eigenständiges Freitodhilfegesetz, seien nur Teilregelungen politisch durchsetzbar, so sei eine Verortung im BGB vorzugswürdig (S. 1077).

Hillenkamp fragt in seinem Beitrag nach abgestuften Anforderungen an selbstbestimmtes Sterben und identifiziert drei Stufen. Das dreistufige Gefälle reiche von einer nur ohne Exkulpationsgründe, Einwilligungs- und Ernstlichkeitsmängeln begründbaren Freiverantwortlichkeit des Suizidenten oder seine Tötung Verlangenden über eine durch Nachfragen und bei ärztlicher Beteiligung durch Aufklärung stabilisierbare Entscheidung eines aktuell entscheidungsfähigen Verweigerers bis hin zu einem tödlichen Veto in einer Patientenverfügung. Zu bevorzugen sei aber, die Abstufungen zugunsten einer Wirksamkeit aller lebensbeendenden Entscheidungen nach einer einem einheitlichen Maßstab entsprechenden Vorgabe aufzugeben (S. 1105).

Während Sowada die Tatherrschaft als Zurechnungsinstrument im Spannungsfeld von Selbst- und Fremdtötung beleuchtet, geht Weigend der Frage nach, ob man die Teilnahme am Suizid in Fällen eingeschränkter oder fehlender Entscheidungsfreiheit nicht in ein Strafgesetz gießen sollte. Er unterbreitet hierzu auch einen konkreten Gesetzesvorschlag, der wie folgt lautet:

„(1) Wer eine Person, deren Entscheidungsfreiheit aufgrund ihres jugendlichen Alters, einer psychischen Erkrankung, eines Irrtums über die für den Entschluss zur Selbsttötung relevanten Sachlage oder aus einem anderen Grund erheblich beeinträchtigt ist, dazu bestimmt, sich selbst zu töten, wird mit Freiheitsstrafe nicht unter drei Jahren bestraft. Der Versuch ist strafbar.

(2) Wer einer im Sinne von Abs. 1 in ihrer Entscheidungsfreiheit erheblich eingeschränkten Person bei dem Vorhaben, sich selbst zu töten, Hilfe leistet, wird, wenn sich die Person getötet hat, mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.

(3) Wer rechtlich für die Erhaltung des Lebens einer anderen Person einzustehen hat, wird mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft, wenn er es unterlässt, die Selbsttötung einer solchen Person, deren Entscheidungsfreiheit im Sinne von Abs. 1 erheblich eingeschränkt ist, abzuwenden. Die Strafe kann nach § 49 Abs. 1 gemildert werden. (S. 1139 f.).

Rogall betrachtet in seinem Beitrag § 219a StGB in neuer Gestalt und zeichnet zunächst die Entstehung des § 219a StGB nach, um sich dann dem Umfang der Strafbarkeit nach neuem Recht zu widmen. Er sieht verfassungsrechtliche Einwände bezüglich der alten Fassung als nicht zutreffen an und kritisiert seine Neufassung (S. 1198 ff.). Vorgeworfen wird dem Gesetzgeber, er habe einen Einzelfall (Hänel) zum Gesetzgebungsmotiv erhoben. § 219a StGB a.F. sei nicht nur mit dem GG vereinbar gewesen, im Gegenteil wäre seine vollständige Streichung aus dem StGB verfassungsrechtlich problematisch gewesen (S. 1201). Genau eine solche Streichung wird im neuen Koalitionsvertrag der derzeitigen Bundesregierung gefordert (Koalitionsvertrag 2021, S. 116) und ist durch einen entsprechenden Referentenentwurf umgesetzt worden. Insofern darf die weitere rechtswissenschaftliche und kriminalpolitische Diskussion mit Spannung erwartet werden.

Das sechste Kapitel der Festschrift trägt die Überschrift „Strafverfahrensrecht“ und enthält lediglich 4 Beiträge. Davon beschäftigen sich 2 Aufsätze mit der DNA-Analyse. So stellt Gaede das Konzept des § 81g StGB vor und beschreibt die materiellen und formellen Anordnungsvoraussetzungen. Der Verfasser lobt die Norm auf der einen Seite dafür, dass sie den expliziten Regelungs- und Einschränkungsbedarf erkennt und anstrebt, die Eingriffe im Wege eines Grundrechtsschutzes durch Verfahren zu begrenzen. Kritisiert wird die Vorschrift auf der anderen Seite dafür, dass die als verfehlt bewertete Praxis aktuell „ohne Not kein rechtliches Gehör gewährt“ (S. 1296). Außerdem existiere zwar formal eine Zweckbindung, die das Recht auf informationelle Selbstbestimmung auch verlange. Allerdings erscheine der Sinn dieser Grenze ad absurdum geführt, weil die Daten für jedes spätere Verfahren und für jede Gefahrenabwehr einschließlich der internationalen Rechtshilfe verfügbar seien (S. 1297). Insofern weise § 81g StPO einen überdehnten Anwendungsbereich auf und tauge nur sehr eingeschränkt als Vorbild für eine freiheitsrechtlich angemessene Strafverfolgungsvorsorge (S. 1299).

Auch Rosenau/Dorneck widmen sich in ihrem Beitrag der Rolle der forensischen Molekulargenetik im Strafprozess. Nach einem kurzen Blick auf die geltenden Rechtsvorschriften werden die Grenzen molekulargenetischer Untersuchung im Strafverfahren aufgezeigt. Sie sprechen sich gegen eine Ausdehnung der molekulargenetischen Untersuchung auf die biogeographische Herkunft aus und melden hier verfassungsrechtliche Bedenken an (S. 1317 ff.).

Kapitel 7 der Festschrift befasst sich mit dem Völkerrecht und wird durch einen Aufsatz von Kreß zu den Anfängen des Völkerstrafrechts im Spiegel von Reinhard Merkels Völkerstrafverständnis eingeleitet. „Von den trüben Quellen und seichten Mündungen des Völkerstrafrechts“ (1361) schreibt Schünemann. Die trüben Quellen verortet er in der Siegerjustiz des Versailler Vertrags. Die heutige Rechtswirklichkeit sei sowohl von einer gleichmäßigen als auch von einer residual effektiven Rechtsanwendung noch weit entfernt (S. 1374).

Bock geht der Frage individueller Verantwortlichkeit für staatliche Angriffshandlungen nach und stellt Überlegungen zum Verbrechen der Aggression an, dessen Straftatbestand erst mit Wirkung zum 17.7.2018 als Art. 8bis IStGH-Statut in Kraft getreten ist. Sie stellt fest, dass das Verbrechen der Aggression durch eine besonders enge Verzahnung von staatlicher und individueller Verantwortlichkeit geprägt sei, die die Erfassung und Bewertung einzelner Tatbeiträge erschwere. Zu Recht beschränke das IStGH-Statut die Strafbarkeit auf die Führungsebene. Dass sich die „leadership clause“ auf alle Beteiligungsformen erstrecke, sei allerdings dogmatisch nicht zwingend und führe zu bedenklichen Strafbarkeitslücken (S. 1451).

„Recht und Ethik der Medizin und Biowissenschaften“ lautet die Überschrift des achten Kapitels. Hier finden sich u.a. auch vier englischsprachige Aufsätze von Harris „Gene Editing in Humans“, Persson/Savulecu „No Matter, Never Mind: The Bodily Basis of Mental Integrity, Levy „Nudge, Nudge, Wink, Wink: Nudging is Giving Reasans“ und Glover „Privacy, Neuroscience and the Inner Life. Duttge setzt sich in seinem Beitrag kritisch mit der modernen Pränataldiagnostik auseinander. Er sieht es als durchaus legitim an, hinsichtlich der Optionen moderner Pränataldiagnostik von Diskriminierung oder gar Selektion zu sprechen (S. 1485).

Die Diskussion um die Widerspruchsregelung bei der Leichenorganspende greifen Putzke/Scheinfeld in ihrem Aufsatz auf. Auch wenn sich in Deutschland die Widerspruchsregelung im Gegensatz zu anderen Ländern wie Österreich oder Spanien bislang nicht durchgesetzt hat, wäre sie doch ein wirksamer Weg, um die Steigerung von Organspenden zu verbessern (S. 1580). Die Verfasser halten nach eingehender Analyse die Widerspruchslösung für verfassungsrechtlich unbedenklich. Sie sei auch ethisch vorzugswürdig, weil auf Seiten der Organspender niemand ein Interesse von Gewicht aufopfern müsse und weil auf der anderen Seite der organbedürftigen Schwerkranken existenzielle Interessen geschützt werden (S. 1601).

Der Aufsatz von Knoepffer, der sich ebenfalls mit der Widerspruchsregel bei der Organspende befasst, kommt zu einem im Wesentlichen gleichen Ergebnis. Allerdings differenziert er danach, ob man das Hirntodkriterium als Todeskriterium anerkenne oder nicht. Wer dies nämlich nicht tue, stehe vor einer neuen Entscheidungssituation. Zu berücksichtigen sei allerdings, dass das Hirntodkriterium nach medizinischer Ansicht aller großen Ärzteorganisationen greife. Dann gäbe es gute Gründe, sich für eine Widerspruchslösung zu entscheiden (S. 1615).

Kapitel 9 bildet mit der Überschrift „Varia“ und zwei Aufsätzen von Höfling zur Zensur und Filmkontrolle in der frühen Bundesrepublik Deutschland und dem Aufsatz von Neumann „Von der Formung des Rechts auf Weltanschauungsfreiheit“ den Abschluss der fulminanten Fülle an Beiträgen.

95 Aufsätze können im Rahmen einer Rezension nicht besprochen werden. Die hier getroffene Auswahl ist rein den Interessen der Rezensentin geschuldet und mit keiner inhaltlichen Wertung verbunden. Dass die in der Festschrift behandelten Themen vielschichtig sind und auf zahlreiches Interesse stoßen, lässt sich schon der Tatsache entnehmen, dass für Februar 2022 eine kostengünstigere Zweitauflage angekündigt ist. Die inhaltliche Bandbreite aller Beiträge kann dem auf der Homepage des Verlages veröffentlichten Inhaltsverzeichnis entnommen werden (https://www.duncker-humblot.de/buch/recht-philosophie-literatur-9783428155668/?page_id=1). Nicht nur inhaltlich, auch haptisch besticht die in der gewohnten Güte des Hauses Duncker & Humblot erschienene zweibändige Festschrift. Sie lädt immer wieder dazu ein, in die Hand genommen zu werden und sich vertieft mit den vielfältigsten Facetten des Rechts, der Philosophie und Literatur auseinanderzusetzen.

 

 

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