Yannic Hübner: Rechtsstaatswidrig aber straflos? Der agent provocateur-Einsatz und seine strafrechtlichen Konsequenzen

von Prof. Dr. Anja Schiemann 

Beitrag als PDF Version

2020, Nomos, ISBN: 978-3-8487-6763-2, S. 400, Euro 76,00.

Im Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung steht das Versprechen, in der StPO das grundsätzliche Verbot der Tatprovokation zu regeln (Koalitionsvertrag, S. 106).[1] Insofern ist die Dissertation von Hübner – auch wenn sie nur die Rechtsprechung, Literatur und rechtspolitische Entwicklung bis März 2020 nachzeichnet – durchaus aktuell und kann bei der Frage danach, ob und wie die Tatprovokation rechtlich verankert werden sollte, herangezogen werden. Zudem wurde sie mit dem Dissertationspreis des Deutschen Strafverteidiger e.V. und dem Werner Pünder-Preis 2020 ausgezeichnet. Zur Notwendigkeit und Ausgestaltung einer gesetzlichen Regelung der Tatprovokation im deutschen Strafprozess findet sich im Übrigen auch ein Aufsatz von Hübner, den dieser mit seinem Doktorvater Prof. Dr. Jahn verfasst hat.[2]

Zunächst wird in der Dissertation in die Terminologie, das kriminalistische Bedürfnis und die Ausgangslage des agent provocateur-Einsatzes eingeführt. Hübner bezeichnet die Tatprovokation abstrakt als „verleitende Einwirkung auf den Tatentschluss“, während bei den Begriffen des agent provocateur und des Lockspitzels eine „Personifizierung desselben Verhaltens“ zugrunde läge (S. 24). Der Begriff der Tatprovokation wird dann dezidierter in Kapitel B anhand der BGH– und EGMR-Rechtsprechung abgesteckt. Danach wird festgestellt, dass beide Gerichte bei der Bestimmung tatprovozierenden Verhaltens bereits auf Aspekte der Zulässigkeit der Maßnahme abstellen. Allerdings wiesen beide Begriffsbestimmungen beträchtliche Divergenzen auf. Der Verfasser resümiert, dass letztlich beide Definitionsbemühungen wenig zu einer Konkretisierung tatprovozierenden Verhaltens als „Plus“ gegenüber schlichten Formen informationsausforschender Untergrundfahndung beitragen könnten, weil beide Definitionen auf die Rechtmäßigkeit des Einsatzes ausgerichtet seien (S. 47). Daher wird eine eigene Begriffsbestimmung anhand der Tatbeteiligungsformen der §§ 25-27 StGB vorgenommen. Nach sehr differenzierter Untersuchung kommt Hübner zu dem Ergebnis, dass das Spektrum möglicher Provokationshandlungen sich von den Tatbegehungsformen des StGB löst. So sei die Tatprovokation sowohl denkbar in Gestalt von Anstiftungshandlungen, als auch durch Verhaltensweisen, die als Beihilfe,

Mittäterschaft oder unmittelbare Täterschaft zu qualifizieren seien. Daneben könnten tatbestandslose Deliktsverursachungen ebenfalls eine Tatprovokation darstellen. Abschließend formuliert der Verfasser folgende Definition: „Tatprovokation ist das staatliche Hervorrufen eines Tat-entschlusses mit dem Zweck, den Betroffenen wegen der veranlassten Straftat zu überführen“ (S. 66).

Zulässigkeit und Grenzen tatprovozierender Einflussnahme werden im Kapitel C aufgezeigt. Die Grenzen werden anhand bestimmter Zulässigkeitskriterien konkretisiert. So habe sich bspw. der Verdacht in mehrfacher Hinsicht als unüberwindbare rechtsstaatliche Schranke der Tatprovokation herausgestellt. Auch sei es generell angezeigt, den agent provocateur-Einsatz nur unter Wahrung strenger Subsidiarität zu gestatten. Das Verbot des Quantensprungs solle verdächtige Zielpersonen vor einem extensiven Exzess der Ermittler schützen, während mit Blick auf die Provokationshandlungen die Grenzen intensiver Exzesse in den Vordergrund rückten. Hierbei gäbe es absolute und relative Grenzen der Einwirkungsintensität. Auch sei die Frage zu stellen, ob solche Maßnahmen wegen ihrer Grundrechtsintensität in einem ersten Schritt unter den Vorbehalt richterlicher Anordnung zu stellen seien. Erst in einem zweiten Schritt könnten mögliche Besonderheiten bei Gefahr in Verzug in den Blick genommen werden. Darüber hinaus sei zu gewährleisten, dass die Staatsanwaltschaft als Kontroll- und Überwachungsinstanz fortwährend an der Maßnahme beteiligt wird. Jedes dieser Kriterien bildet nach Auffassung des Verfassers eine notwendige Voraussetzung zulässiger Tatprovokation (S. 146).

In Kapitel D werden die rechtlichen Folgen des agent provocateur-Einsatzes für den Tatprovozierten geschildert. Zunächst werden die rechtlichen Folgen des Einsatzes ohne hinreichende gesetzliche Grundlage veranschaulicht. Eine sachgerechte Folge einer Tatprovokation ohne hinreichende gesetzliche Grundlage bilde nach Hübner die Einstellung des Verfahrens wegen eines Verfahrenshindernisses (S. 151). Setze man voraus, dass der Gesetzgeber eine verfassungskonforme Regelung für den agent provocateur-Einsatz schaffe, läge die Beurteilung der Rechtsfolgen anders. Differenziert werden müsse zwischen zulässiger Tatprovokation und einer solchen, die die Grenzen eines fairen, rechtsstaatlichen Verfahrens überschreite. Bei letzterer sei ebenfalls ein Verfahrenshindernis anzunehmen. Das Strafprozessrecht sei hier der richtige Anknüpfungspunkt rechtlicher Konsequenzen. Hingegen könne die Strafzumessungslösung nicht überzeugen, da nicht klar werde, auf welchem dogmatischen Weg die rechtsstaatswidrige Ausführung einer Tatprovokation zu einer Milderung der Strafe führen solle. Der Schritt von einer unzulässigen Ermittlungsmaßnahme hin zur Strafmilderung vermische das materielle Strafrecht und das Strafprozessrecht auf unerklärliche Weise (S. 186 f.).

Während die rechtsstaatswidrige Tatprovokation dazu führen müsse, dass das Verfahren gegen den Täter wegen eines Verfahrenshindernisses einzustellen ist, könne bei einer Tatprovokation nach den zu schaffenden gesetzlichen Vorgaben die Strafe des Täters im Ermessen des Gerichts gemildert werden (S. 189).

Im nächsten Kapitel E geht der Verfasser ausführlich den rechtlichen Folgen des agent provocateur-Einsatzes für den agent provocateur nach. Er kommt zu dem Ergebnis, dass eine Strafbarkeit des agent provocateur ungeachtet der materiell-rechtlichen Beurteilung seiner Handlung ausscheide, soweit er sich bei seinem Einsatz innerhalb der strafprozessual gesteckten Grenzen halte. Als „doppelfunktionelle Prozesshandlung“ wirke die zulässige Tatprovokation in materieller Hinsicht als Rechtfertigungsgrund. Die Ausnahme von der Strafbarkeit gelte aber de lege lata nicht, da die derzeitige Rechtspraxis des Rückgriffs auf die Ermittlungsgeneralklausel der §§ 161, 163 StPO für den agent provokateur-Einsatz nicht mit dem Grundsatz vom Vorbehalt des Gesetzes vereinbar sei.

Sollte aber der Gesetzgeber eine spezialgesetzliche Grundlage für den Eingriff schaffen, so würde die Rechtfertigung des Einsatzes nach dem sog. strafrechtlichen Rechtmäßigkeitsbegriff sogar eine Ausweitung erfahren. Denn dann würde ausreichen, dass die Eingriffsgrundlage die vorgenommene Maßnahme grundsätzlich rechtfertige, der Ermittler sachlich und örtlich zuständig sei, die wesentlichen Förmlichkeiten der Maßnahme wahre, bei der Prüfung der sachlichen Voraussetzungen das ihm zukommende Ermessen pflichtgemäß ausübe und seine Handlungen danach ausrichte. Anders sei aber die Situation zu werten, wenn der agent provokateur aus den Grenzen der Zulässigkeit ausbräche und den Täter rechtsstaatswidrig zur Vornahme einer Straftat bestimme. Die kategorisch angenommene Straflosigkeit der derzeit herrschenden Auffassung sei in diesem Fall abzulehnen. Eine strafbare Anstiftung sei nur dann abzulehnen, wenn der agent provokateur nur zur Vornahme eines Verletzungsdelikts anrege, dann aber einer tatsächlichen Rechtsgutsverletzung entgegenwirke. Bestimme er die Zielperson aber zur Vornahme eines abstrakten Gefährdungsdelikts, das auch vollendet werde, mache sich der agent provokateur wegen Anstiftung zu diesem Delikt strafbar. Rechtsstaatswidrige Tatprovokation würde also im Bereich der Betäubungsmittelkriminalität eine Bestrafung des agent provokateur nach sich ziehen.

Für die Beihilfe seien die Erwägungen ebenfalls gültig. Anders sei es bei der Beurteilung täterschaftlicher Tatprovokation, denn hier hänge die Beurteilung von der Prüfung der objektiven und subjektiven Tatbestandsmerkmale im Einzelfall ab. Das Ergebnis der Strafbarkeit des agent provokateurs gehe konform mit dem rechtsethischen Unwerturteil des Verfahrenshindernisses, das die rechtsstaatswidrige Tatprovokation auf strafprozessualer Ebene erfahre. Strafprozess- und materielles Strafrecht stünden in gegenseitiger Abhängigkeit, seien aufeinander bezogen und funktional miteinander verbunden, so dass sie eine Sinneinheit im strafrechtlichen Normensystem bildeten. Insoweit dürfe die Strafbarkeit des rechtsstaatswidrig handelnden agent provocateur auch als Ausdruck positiver Generalprävention verstanden werden. Außerdem expliziere sie das Recht auf ein faires, rechtsstaatliches Verfahren als fundamentale Norm unserer Gesellschaft.

Abschließend macht Hübner noch einen de lege ferenda Vorschlag zur Regelung des agent provocateur-Einsatzes. Verortet wird er systematisch in § 110d StPO-E. Aufgrund ihrer gesteigerten professionellen Zuverlässigkeit wird sich auf Verdeckte Ermittler als agent provocateur beschränkt. Perspektivisch erscheint es aber für den Verfasser nicht ausgeschlossen, die Regelung für nicht offen ermittelnde Polizeibeamte oder Vertrauenspersonen zu öffnen oder sich zumindest hieran zu orientieren. Hübner ist der Auffassung, dass eine spezialgesetzliche Eingriffsermächtigung aus Gründen des Gesetzesvorbehalts verfassungsrechtlich geboten sei. Es bestehe dringender gesetzgeberischer Handlungsbedarf (S. 264). Daher wird folgender Vorschlag eines neu einzufügenden § 110d StPO unterbreitet:

„(1) Verdeckte Ermittler dürfen eine Tat provozieren, wenn zureichende tatsächliche Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass eine Straftat von erheblicher Bedeutung 

    1. auf dem Gebiet des unerlaubten Betäubungsmittel- oder Waffenverkehrs, der Geld- oder Wertzeichenfälschung oder
    2. gegen ein sonstiges Allgemeinrechtsgut
      a) gewerbs- oder gewohnheitsmäßig oder
      b) von einem Bandenmitglied oder in anderer Weise organisiert

begangen worden ist und die Gefahr der Wiederholung besteht. Die Maßnahme ist nur zulässig, soweit die Verfolgung der Anlasstat oder einer Wiederholungstat ansonsten aussichtslos oder wesentlich erschwert wäre.

(2) Tatprovokation ist das staatliche Hervorrufen eines Tatentschlusses mit dem Zweck, den Verdächtigen wegen der veranlassten Straftat zu überführen. Der Unrechtsge-halt der provozierten Tat muss in einem angemessenen, deliktsspezifischen Verhältnis zum Tatverdacht stehen. Die zulässige Intensität der Einflussnahme richtet sich nach der Stärke des bestehenden Tatverdachts. Ergänzend kann berücksichtigt werden, inwiefern die Zielperson zur Tat bereit ist, in welchem Maße sie eigene, nicht fremdgesteuerte Aktivitäten entfaltet und welchem weiteren Zweck die Maßnahme dient. Der agent provokateur darf sich keiner unlauteren Mittel bedienen.

(3) Die Tatprovokation ist erst nach vorheriger schriftlicher Zustimmung der Staatsanwaltschaft und des Gerichts zulässig. Bei Gefahr im Verzug genügt die schriftliche Zustimmung der Staatsanwaltschaft. Die Maßnahme ist zu beenden, sofern nicht das Gericht binnen drei Werktagen zustimmt.

(4) Wurde ein Täter im Sinne dieser Vorschrift zur Tat provoziert, kann das Gericht die Strafe nach seinem Ermessen mildern (§ 49 Abs. 2 Strafgesetzbuch). Im Falle rechtsstaatswidriger Tatprovokation ist das Verfahren gegen den Täter wegen eines Verfahrenshindernisses einzustellen.“ (S. 265).

Dieser de lege ferenda Vorschlag steht als „Epilog“ am Ende der Dissertation. Erläutert wurde er nicht, allerdings ergibt sich der Inhalt und die Begründung aus den vorherigen dezidierten Ausführungen des Verfassers. Während es im Koalitionsvertrags der 19. Legislaturperiode lediglich bei einem Prüfauftrag hinsichtlich des gesetzgeberischen Handlungsbedarfs einer Rechtsgrundlage für die Tatprovokation blieb, enthält der Koalitionsvertrag der 20. Legislaturperiode ein klares Bekenntnis zur Regelung des grundsätzlichen Verbots der Tatprovokation. Wie dieses Verbot formuliert und für welche Fälle es ausgestaltet ist, bleibt einem neuen Gesetzentwurf vorbehalten. Insofern geht es jetzt nicht um eine Diskussion um das Ob einer Regelung, sondern darum, wie diese Regelung konkret gefasst werden soll. Hübner liefert hierfür einen Diskussionsbeitrag. Daneben hat auch Schmidt in ihrer Dissertation bereits im Jahr 2016 einen de lege ferenda Vorschlag vorgelegt (Rezension in KriPoZ 2018, 187). Insofern sollte jetzt bereits vor einem entsprechenden Referentenentwurf die rechtswissenschaftliche Debatte einsetzen, wie eine ausgewogene und wirksame Rechtsgrundlage aussehen sollte. Die Dissertation von Hübner bietet – ebenso wie die von Schmidt – eine hervorragende Diskussionsbasis.

 

[1]      Abrufbar unter: https://www.spd.de/fileadmin/Dokumente/Koalitionsvertrag/Koalitionsvertrag_2021-2025.pdf (zuletzt abgerufen am 2.2.2022).
[2]      Nachzulesen in StV 2020, 207 ff.

 

Unsere Webseite verwendet sog. Cookies. Durch die weitere Verwendung stimmen Sie der Nutzung von Cookies zu. Informationen zum Datenschutz

Die Cookie-Einstellungen auf dieser Website sind auf "Cookies zulassen" eingestellt, um das beste Surferlebnis zu ermöglichen.
Wenn Sie diese Website ohne Änderung der Cookie-Einstellungen verwenden oder auf "Akzeptieren" klicken, erklären Sie sich damit einverstanden.

Weitere Informationen zum Datenschutz entnehmen Sie bitte unserer Datenschutzerklärung. Hier können Sie der Verwendung von Cookies auch widersprechen.

Schließen