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Skizze eines neuen § 64 StGB – Alternativen und Ergänzungen zum Reformvorschlag der Bund-Länder-Arbeitsgruppe

von Dr. Jan Querengässer, Dr. Alexander Baur und Dörte Berthold

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Abstract
Mehrere Fachverbände und eine eigens dazu eingesetzte Bund-Länder-Arbeitsgruppe haben sich in den letzten Monaten mit der Neugestaltung des § 64 StGB befasst. Mitte Mai 2022 brachten die Unionsparteien einen darauf gestützten Gesetzentwurf in den Bundestag ein. Ziel aller Regelungsvorschläge ist es, den rasanten Anstieg an Unterbringungsanordnungen zu bremsen oder umzukehren. Die vorliegenden Regelungsentwürfe enthalten ohne Zweifel zielführende Ansätze; sie setzen jedoch aus Sicht der Autoren falsche Schwerpunkte oder gehen nicht weit genug. Der Reformvorschlag der Bund-Länder-AG belässt weiterhin große Anordnungsspielräume, die dazu führen könnten, dass das Ziel, die Anordnungszahlen nachhaltig zu verringern, abermals verfehlt werden könnte. Auf Basis des im Februar 2022 in dieser Zeitschrift publizierten Vorstoßes „Vom gesetzlichen Anspruch und den Grenzen der gutachterlichen Möglichkeiten – Plädoyer für die Streichung der ‚Behandlungsprognose‘ aus § 64 StGB“ wird im vorliegenden Beitrag ein konkreter alternativer Regelungsvorschlag formuliert, welcher neben der Reduktion der Anordnungszahlen auch das Ziel verfolgt, die regionalen Unterschiede in der Anordnungspraxis abzuschwächen. Im Zentrum dieses Vorschlags stehen Konkretisierungen der drei Eingangsvoraussetzungen des § 64 StGB – also des „Hangs“ zum Substanzmittelkonsum im Übermaß, des Zusammenspiels von „Hang“ und Legalverhalten und der Behandlungsprognose.

Several professional associations and an official federal working group set up specifically for this purpose have been working on the redrafting of Section 64 of the German Criminal Code (StGB) in recent months. In mid-May, the CDU/CSU parties introduced a bill based on this into the German parliament. The aim of all the proposed regulations is to slow down or reverse the rapid increase in placement orders. The present draft regulations undoubtedly contain targeted approaches; however, in the view of the authors, they set the wrong priorities or do not go far enough. The reform draft of the official federal working group continues to leave a great deal of decision-making leeway, which could lead to a further failure to achieve the goal of sustainably reducing the number of placement orders. Based on an article called „On the legal claim and the limits of the expert’s possibilities – A plea for the deletion of the ‘treatment prognosis’ from § 64 StGB” published in this journal in February 2022, the present paper formulates a concrete alternative regulatory proposal that, in addition to reducing the number of orders, also aims to mitigate regional differences in ordering practices. At the heart of this proposal are concretizations of the three entry requirements of Sect. 64 StGB – i.e., the addiction to substance use in excess, the interaction of addiction and legal behavior, and the treatment prognosis.

 I. Vorbemerkungen

Im Nachgang zu dem in dieser Zeitschrift im Februar publizierten Vorstoß „Vom gesetzlichen Anspruch und den Grenzen der gutachterlichen Möglichkeiten – Plädoyer für die Streichung der ‚Behandlungsprognose‘ aus § 64 StGB“[1] wurden wir gebeten, dieses Plädoyer doch einmal in Form eines konkreten Alternativentwurfs auszuformulieren – zumal es offensichtlich bei einigen Adressaten zu dem Missverständnis gekommen ist, die geforderte ersatzlose Streichung der Behandlungsprognose gehe mit dem Wegfall der Möglichkeit einher, eine laufende Unterbringung gem. § 64 StGB mangels hinreichend konkreter Erfolgsaussicht für erledigt zu erklären (§ 67d Abs. 5 StGB). Dies wäre jedoch nicht zwangsläufig die Folge, wie wir deutlich machen wollen. Wir greifen die Bitte nach einer Ausformulierung auch deswegen dankbar auf, weil sie uns die Möglichkeit gibt, den im Januar 2022 veröffentlichten Abschlussbericht der Bund-Länder-Arbeitsgruppe (BL-AG)[2] zur Reform des § 64 StGB aus unserer Perspektive kritisch zu bewerten. Die in diesem Bericht vorgeschlagenen Änderungen wurden am 10. Mai 2022 in fast unveränderter Form als Gesetzentwurf von den Unionsparteien CDU/CSU in den Bundestag eingebracht.[3] Da auch die Begründung des Gesetzentwurfes dem Abschlussbericht der BL-AG fast in Gänze entspricht, gehen wir im Verlauf nicht gesondert auf diesen Gesetzentwurf ein.

Beginnen möchten wir diesen Beitrag mit einer eigenen, auf dem Vorschlag der BL-AG aufbauenden Skizze, wie ein „neuer“ § 64 StGB aussehen könnte. Auch wenn das System strafrechtlicher Sanktionen im Bereich der Maßregeln der Besserung und Sicherung mittlerweile an mehreren Stellen zu Wertungswidersprüchlichkeiten und Dysfunktionalitäten neigt und reformbedürftig ist, begnügen wir uns vorliegend mit einem Ansatz, der sich auf die Unterbringung in der Entziehungsanstalt nach § 64 StGB beschränkt. Denn es scheint (trotz anderslautender Absichtserklärungen im Koalitionsvertrag) gegenwärtig politisch kaum durchsetzbar, grundlegende Änderungen im Bereich des Maßregelrechts anzustoßen. Insofern gilt es aus unserer Sicht nun, den gewählten reformerischen Ansatz möglichst zu optimieren. Damit grenzen wir uns auch von den kürzlich vorgelegten Vorschlägen zweier psychiatrischer Fachgesellschaften ab. Etwas verkürzt ausgedrückt setzt der Ansatz der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) das Selbstbestimmungsrecht des Patienten absolut;[4] die Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie (DGSP) schlägt vor, die freiheitsentziehenden Maßregeln samt der Schuldfähigkeitsregelung ganz abzuschaffen.[5]

II. Vorschlag für eine Neuformulierung des § 64 StGB

Unser Vorschlag für einen novellierten § 64 StGB, auf den wir im weiteren Text immer wieder rekurrieren werden, lautet folgendermaßen:

§ 64 StGB Unterbringung in einer forensischen Klinik für Abhängigkeitserkrankungen

Hat eine Person eine substanzbezogene Abhängigkeitserkrankung, infolge derer eine dauernde und schwerwiegende Beeinträchtigung der Lebensgestaltung, der Gesundheit, der Arbeits- oder der Leistungsfähigkeit eingetreten ist und fortdauert, und wird sie wegen einer rechtswidrigen Tat, die überwiegend auf diese Erkrankung zurückgeht, verurteilt oder nur deshalb nicht verurteilt, weil ihre Schuldunfähigkeit erwiesen oder nicht auszuschließen ist, so soll das Gericht die Unterbringung in einer forensischen Klinik für Abhängigkeitserkrankungen anordnen, wenn die Gefahr besteht, dass sie infolge ihrer Erkrankung erhebliche rechtswidrige Taten begehen wird.

Die Anordnung verfolgt das Ziel, die substanzbezogene Abhängigkeitserkrankung der Person durch die Behandlung in einer forensischen Klinik für Abhängigkeitserkrankungen innerhalb der Frist nach § 67d Absatz 1 Satz 1 oder 3 zu lindern und die Person damit über eine erhebliche Zeit von der Begehung erheblicher rechtswidriger Taten abzuhalten, die auf ihre Erkrankung zurückgehen.

Aufgrund des darin verwirklichten Wegfalls der Behandlungsprognose (dazu später mehr), regen wir auch eine Anpassung des § 67d Abs. 5 StGB an, der dann wie folgt lautet:

§ 67d StGB – Dauer der Unterbringung

[…]

5) Das Gericht erklärt die Unterbringung in einer forensischen Klinik für Abhängigkeitserkrankungen für erledigt, wenn keine hinreichend konkrete Aussicht mehr vorliegt, das in § 64 Satz 2 genannte Anordnungsziel zu erreichen. Mit der Entlassung aus dem Vollzug der Unterbringung tritt Führungsaufsicht ein.

[…]

Weiterer (redaktioneller) Anpassungsbedarf ergibt sich durch die vorgeschlagene Änderung der Begrifflichkeit auch in einigen weiteren Regelungen des StGB und der StPO, die auf § 64 StGB Bezug nehmen. Wir verzichten aus Platzgründen auf eine detaillierte Darstellung.

III. Zielsetzung(en) der anstehenden Novelle des § 64 StGB

Der Entwurf der BL-AG macht deutlich, dass es dem Gesetzgeber (erneut bzw. diesmal erst recht) sehr ernst ist, das Ziel einer nachhaltigen Reduktion der Unterbringungsanordnungen (UAO) gem. § 64 StGB zu erreichen.[6] Auch aus unserer Sicht ist dieses Ziel durchaus sinnvoll. Die Zahl der UAO übersteigt seit langem das Angebot deutlich. Überbelegung in den Kliniken, Wartelisten und teils monatelange Organisationshaft vor Verlegung in den MRV sind dadurch inzwischen vielerorts zu einem Normalzustand geworden.[7] Überbelegung und die darin immanente Überforderung der Behandelnden gehen jedoch immer auf Kosten der Behandlungsqualität. Dies führt dazu, dass das Behandlungssystem zurzeit nicht das zu leisten imstande ist, was es eigentlich leisten könnte.

Dennoch greift das Ziel der Reduktion der UAO nach unserem Dafürhalten als alleinige Stoßrichtung der Reform zu kurz. Denn es verkennt einen Umstand, der mindestens ebenso kritisch zu werten ist und der die Diskussionen rund um § 64 StGB seit Jahren gewissermaßen überwölbt: die drastischen rechtspraktischen Unterschiede zwischen Regionen, Bundesländern und sogar auf der Ebene einzelner Landgerichtsbezirke. Mit Zahlen lässt sich dieses Phänomen am besten in den Inzidenzunterschieden zwischen den Bundesländern beschreiben. So wurden in Brandenburg zwischen 2007 und 2016 im jährlichen Durchschnitt 1,01 UAO je 100.000 der strafmündigen Wohnbevölkerung ausgesprochen.[8] In Bayern waren es im selben Zeitraum 7,09.[9] Dieser Unterschied ist weder mit Abweichungen in der Kriminalitätsbelastung in den einzelnen Bundesländern noch mit einem unterschiedlichen Konsumverhalten bzw. der Suchtepidemiologie hinreichend erklärbar.[10]

Einzig regional unterschiedliche Anwendungsformen, man könnte auch von „rechtspraktischen Subkulturen“ sprechen, können derartige Diskrepanzen erklären. Denn es handelt sich hierbei um die Anwendung derselben bundesweit einheitlichen Anordnungsvoraussetzungen und nicht um Phänomene, die auf eine länderspezifische Ausgestaltung des Vollzugs zurückgehen.[11]

IV. Exkurs: Intendierter und nicht intendierter Auslegungsspielraum

Sicherlich gibt es nicht den einen einzigen Grund zur Erklärung der erstaunlichen Beharrungstendenz der Steigungswerte der jährlichen UAO einerseits und der regionalen Differenzen andererseits. Es dürfte vielmehr – wie so oft – eine komplexe Interaktion aus Interessen und Motiven der beteiligten Institutionen vorliegen, auf die wir hier nicht weiter eingehen können. Worauf wir an dieser Stelle hingegen unseren Fokus legen wollen, ist die Beobachtung, dass sich gerade in der aktuellen Formulierung des Gesetzestextes großer nicht intendierter Auslegungsspielraum offenbart. Darunter verstehen wir Passagen oder Begrifflichkeiten, die „ungewollt“ oder auch „zufällig“ breiter ausgelegt und verstanden werden können, als es auf den ersten Blick scheint. Unserer Beobachtung und Analyse nach geschieht genau dies sehr oft in der Anwendung des § 64 StGB. Der nicht intendierte Spielraum bereitet gewissermaßen erst das Fundament, auf dem je nach Bundesland unterschiedliche Gebäude errichtet werden und auf dem im Laufe der Jahre immer größere Häuser entstanden sind.[12]

Konkret tut sich derartiger nicht (oder zumindest nicht in diesem Umfang) intendierter Auslegungsspielraum an drei Punkten im Regelungsgefüge des § 64 StGB auf: 1) an der Begrifflichkeit der zugrundliegenden Suchtproblematik, 2) am Zusammenhang zwischen Delinquenzneigung und der Suchtproblematik sowie 3) an der geforderten hinreichend konkreten Erfolgsaussicht der Unterbringung. Diese Vielzahl an Spielräumen und deren teils komplexe Beziehung zueinander können auch erklären, wieso es so schwierig ist, durch obergerichtliche Rechtsprechung eine Einheitlichkeit herzustellen und die Auslegungsvarianten „einzufangen“.[13]

V. Änderungsbedarf und -vorschläge zur Einschränkung des Auslegungsspielraums

Der angesprochene Auslegungsspielraum begünstigt sicherlich beide als kritisch erachteten Phänomene. Im Umkehrschluss kann daher angenommen werden, dass eine Einschränkung des Spielraums gleichermaßen einen Lösungsansatz für beide Probleme darstellt. Die folgende Diskussion der Änderungsvorschläge der BL-AG und Vorstellung eigener Ergänzungen und Alternativen erfolgt somit unter dem übergeordneten Zweck, nicht intendierte Auslegungsspielräume des § 64 StGB einzuschränken, um beide Ziele (also Reduktion der UAO in der Breite sowie Harmonisierung der Anwendungspraxis) zu erreichen.

1. Begrifflichkeit der zugrundeliegenden Suchtproblematik 

Das erste Eingangskriterium des § 64 StGB lautet bisher: „Hang, alkoholische Getränke oder andere berauschende Mittel im Übermaß zu sich zu nehmen“. Unter dem Eindruck einer „Entgrenzung“ des Hangbegriffs, also einer zunehmend weiten Auslegung desselben, mehrten sich in den letzten Jahren die Stimmen, den juristischen Hangbegriff näher an den medizinischen Sprachgebrauch anzulehnen oder durch medizinische Termini zu ersetzen. Diese Diskussion wurde auch in der BL-AG geführt.

Doch scheint diese Diskussion in einen Kompromiss gemündet zu sein. Jedenfalls sieht der Reformentwurf vor, dass sich an der Formulierung des „Hang[es], alkoholische Getränke oder andere berauschende Mittel im Übermaß zu sich zu nehmen“ in § 64 S. 1 StGB nichts ändert. Wohl aber fügt die BL-AG dem ersten (Haupt-)Satz einen erläuternden Nachsatz hinzu. Dieser lautet: „der Hang erfordert eine Substanzkonsumstörung, infolge derer eine dauernde und schwerwiegende Beeinträchtigung der Lebensgestaltung, der Gesundheit, der Arbeits- oder der Leistungsfähigkeit eingetreten ist und fortdauert.“ Dieser Nachsatz nun hat es in der Tat in sich: Denn er „definiert“ den Hang-Begriff gewissermaßen en passant neu. Aus unserer Sicht ist es positiv zu vermerken, dass erstmals versucht wird, klare und objektivierbare Kriterien zu nennen, die für die Annahme eines Hanges im Sinne des § 64 StGB erfüllt sein müssen. Dies wird den Auslegungsspielraum in Bezug auf die Begrifflichkeit der zugrundeliegenden Suchtproblematik sicherlich deutlich und nachhaltig einschränken. Gleichwohl wirkt die gefundene Lösung kompliziert, was uns fürchten lässt, dass es im Zusammenspiel zwischen erkennendem Gericht und gutachterlichen Sachverständigen zu noch mehr Abstimmungs- und Übersetzungsbedarf kommen wird.

Zunächst ist es schade, dass der Entwurf den überholten Begriff des „berauschenden Mittels“ nicht antastet – in anderen Kontexten ist der Gesetzgeber da schon weiter.[14] Gerade da in dem Entwurf der BL-AG der Begriff „Rausch“ gestrichen wird (s.u.), wäre es angebracht auch den ebenso antiquierten Terminus „berauschend“ zu ändern. Unsere Kernkritik bezieht sich aber auf den künftig erforderlichen Dreischritt: Erstens (primär vonseiten der gutachterlichen Sachverständigen) ist zu prüfen, ob bei der Person eine Substanzkonsumstörung diagnostiziert werden kann; zweitens ist zu prüfen, ob aufgrund dieser eine „dauernde und schwerwiegende Beeinträchtigung der Lebensgestaltung, der Gesundheit, der Arbeits- oder der Leistungsfähigkeit eingetreten ist und fortdauert“; drittens muss auf dieser Grundlage der Rechtsbegriff des Hanges bejaht werden können. Wenn nun aber dieser Rechtsbegriff erst dann erfüllt ist, wenn beides andere vorliegt (der Hang „erfordert“ diese Form der Störung) und keine weitere Option zur Bejahung des Hanges denkbar ist – weshalb wird der „Hang“ dann überhaupt noch benötigt? Schließlich könnte durch die Reform sämtliches bisheriges Schrifttum zum „alten“ Hangbegriff nicht mehr als Referenz herangezogen werden. Erschiene es da nicht wesentlich konsequenter, den ohnehin problematischen Hangbegriff ganz aufzugeben? Sinnvoll, den Hang-Begriff zu erhalten, wäre es, wenn dieser direkt durch die genannten objektivierbaren Kriterien mit Leben gefüllt worden wäre. Im vorliegenden Entwurf wird jedoch die Substanzkonsumstörung als medizinisch-psychiatrische „Zwischendiagnose“ eingefügt – die zugleich verschärft und konkretisiert wird durch die erforderliche(n) Beeinträchtigung(en), die über die diagnostischen Anforderungen an die Stellung einer entsprechenden Diagnose noch hinausgehen. Aus dem Begriff der Substanzkonsumstörung wiederum ergibt sich ein weiterer Kritikpunkt. Eine Substanzkonsumstörung wird im gegenwärtigen psychiatrischen Klassifikationssystem DSM-5 klar definiert. Auch das in wenigen Jahren in Kraft tretende (und für die deutsche Versorgungslandschaft dann verbindliche) System des ICD-11 wird diesen Begriff aller Voraussicht nach so einführen. Es handelt sich somit um einen Begriff, der durch international gültige Klassifikationssysteme eindeutig definiert ist und auf die der deutsche Gesetzgeber keinen Einfluss hat. Zugleich ist es sehr wohl möglich, dass in späteren Klassifikationssystemen dieser Begriff wieder durch einen anderen ersetzt wird und aus dem medizinischen Sprachgebrauch verschwindet. Was dann? Muss dann das Strafgesetzbuch angepasst werden? Vermutlich war es dieser Umstand, der die BL-AG dazu veranlasste, den Hangbegriff nicht durch einen andernorts definierten medizinischen Begriff zu ersetzen.

Wir teilen das Ziel, sich nicht von internationalen Klassifikationssystemen abhängig zu machen, und sehen die Vorteile der vorgeschlagenen klaren und objektivierbaren Kriterien. Im Sinne einer deutlichen Herabsetzung der Komplexität schlagen wir jedoch vor, eine „substanzbezogene Abhängigkeitserkrankung, infolge derer eine dauernde und schwerwiegende Beeinträchtigung der Lebensgestaltung, der Gesundheit, der Arbeits- oder der Leistungsfähigkeit eingetreten ist und fortdauert“, als erstes Eingangskriterium zu formulieren.

Der überkommene Hang-Begriff würde dabei durch den Begriff der substanzbezogenen Abhängigkeitserkrankung ersetzt. Dabei handelt es sich um einen Terminus, der zwar in den einschlägigen Klassifikationssystemen nicht verwendet wird (und somit weder extern definiert ist noch aus den Systemen getilgt werden kann), der im medizinischen Sprachgebrauch aber doch weit verbreitet ist und zugleich als ein neuer Rechtsbegriff ausgestaltet werden kann.[15] Durch die Verbindung zu dem von der BL-AG vorgeschlagenen Nachsatz, der von uns ohne Änderung als Relativsatz übernommen wird, handelt es sich zudem um einen relativ klar objektivierbaren Terminus, der in seiner Gesamtheit nur einen geringen Auslegungsspielraum offenlassen dürfte.[16] Die daraus resultierende Eingrenzung, dass nicht jede Form einer substanzbezogenen Abhängigkeitserkrankung als Eingangskriterium im Sinne der Maßregel genügt, ist in folgender Überlegung begründet: Es gibt Formen von Abhängigkeitserkrankungen, die ausschließlich auf körperlich-medizinischen bzw. intrapsychischen Symptomen beruhen und die das soziale Funktionsniveau der betroffenen Personen nicht oder nur marginal beeinträchtigen.[17] Da das Strafrecht jedoch ein Regulativ (deviant) sozialenVerhaltens darstellt und keine Regelungsgrundlage für eine individuell-medizinische Behandlungsbedürftigkeit ist, erscheint es auch uns sinnvoll, den Aspekt eines beeinträchtigten sozialen Funktionsniveaus als Eingangsvoraussetzung aufzugreifen.

2. Konnexität zwischen Suchtproblematik und Delinquenzbegehung

Im aktuell geltenden Recht wird der Zusammenhang zwischen Suchtproblematik bzw. Hang und Straftat definiert als „rechtswidrige Tat, die sie [die Person] im Rausch begangen hat oder die auf ihren Hang zurückgeht“. Da ein Rausch (mithin ein Zustand der Intoxikation durch psychoaktive Substanzen) weder eine hinreichende noch eine notwendige Voraussetzung für die zugrundeliegende Suchtproblematik darstellt, ist es nachvollziehbar und richtig, dass der Vorschlag der BL-AG diesen Passus ersatzlos streicht und stattdessen als zweite Eingangsvoraussetzung eine „rechtswidrige Tat, die überwiegend auf ihren Hang zurückgeht“ erfordert.[18] Durch das neu hinzugefügte Adjektiv „überwiegend“ soll der geforderte Zusammenhang essentieller sein bzw. auf einem gedachten Kontinuum zwischen bloßer Koinzidenz und klarer Monokausalität zum letztem Pol hin verschoben werden.

Ohne zu verkennen, dass die Verbindung zwischen Sucht und Delinquenz in der Regel komplex und vieldimensional ist, erscheint uns dies dennoch ganz im Sinne der Verengung des Auslegungsspielraumes, sodass auch in unserem Vorschlag die Formulierung der BL-AG übernommen wird – mit der einzigen Änderung, dass wir (konkludent zur ersten Eingangsvoraussetzung) den Begriff Hang durch die substanzbezogene Abhängigkeitserkrankung ersetzen. Vorgeschlagen wird daher, das Vorliegen einer „rechtswidrigen Tat, die überwiegend auf diese Erkrankung zurückgeht“ als zweites Eingangskriterium zu formulieren.

3. Erfolgsaussicht einer Behandlung im Maßregelvollzug

Der zweite Satz des § 64 StGB ist derjenige, der unserer Erfahrung nach den größten nicht intendierten Spielraum für Auslegungen lässt. Wie schon in dem bereits angesprochenen Aufsatz aus Februar 2022 ausführlich dargelegt, kann die in § 64 S. 2 StGB formulierte Forderung nach einer „hinreichend konkrete[n] Aussicht“ auf Behandlungserfolg aus empirischer Sicht nicht valide erfüllt werden.[19] Es gibt schlicht keine bzw. zu schwache Prädiktoren, die zum Zeitpunkt der Begutachtung eine tragfähige Prognose über den später zu erwartenden Behandlungserfolg zulassen.[20] Gerade die daraus resultierende „Schwammigkeit“ öffnet den Verfahrensbeteiligten Tür und Tor, sich das Prognoseerfordernis für ihre Interessen zunutze zu machen.[21]

Wir plädieren aus diesem Grund für eine ersatzlose Streichung der Behandlungsprognose als viertes Eingangskriterium für eine UAO gem. § 64 StGB. Denn die von der BL-AG vorgeschlagene Umformulierung, statt einer „hinreichen konkreten Aussicht“ nun „tatsächliche Anhaltspunkte“ für Behandlungserfolg zu fordern, ändert nichts daran, dass es nach wie vor Aufgabe der Sachverständigen bliebe, eine Behandlungsprognose zu erstellen. Uns ist bewusst, dass das BVerfG bereits 1994 in einer viel zitierten Entscheidung,[22] die Rechtmäßigkeit einer Unterbringung gem. § 64 StGB „nur auf Probe“ verneint hat. Daraus wurde das Erfordernis einer hinreichend konkreten Erfolgsaussicht abgeleitet und 2007 in § 64 StGB übernommen. Doch erscheint uns die Urteilsbegründung einerseits nicht frei von Widersprüchen und andererseits in weiten Teilen auch nicht mehr kongruent zum empirischen Kenntnisstand.[23] Wir bleiben daher bei der Einschätzung, das Prognoseerfordernis als Unterbringungsvoraussetzung aus dem Gesetzestext zu streichen.

Dies bedeutet aber nicht – und hier liegt das eingangs angesprochene Missverständnis – dass der gesamte zweite Satz des § 64 StGB gestrichen werden sollte. Denn dies würde ein Folgeproblem mit sich bringen, was die Möglichkeit angeht, eine Unterbringung gem. § 64 StGB wegen nicht mehr hinreichend konkreter Erfolgsaussicht für erledigt zu erklären (gem. § 67d Abs. 5 StGB). Und auch wenn aus empirischer Sicht jede Erledigungsentscheidung eine zu viel ist, weil sie einen zusätzlichen Risikofaktor für eine ungünstige Legalbewährung darstellt,[24] wird es als Korrektiv wichtig sein, die Möglichkeit für eine solche Beendigung der Unterbringung zu erhalten. Wenn nun aber zum Begutachtungszeitpunkt keine Aussage getroffen werden kann über den erwartbaren Behandlungserfolg, wieso soll dies dann später gelingen und eine Erledigung rechtfertigen? Dies hängt damit zusammen, dass empirische Forschung sehr wohl Prädiktoren des Behandlungserfolges ermittelt hat, dass sich diese aber überwiegend erst während des Behandlungsverlaufs manifestieren und erkennen lassen. Insofern wäre eine entsprechende Änderung die Anpassung des normativ Geforderten an das empirisch Mögliche.

Vor diesem Hintergrund sprechen wir uns dafür aus, die bisher indirekt in Satz 2 verborgene Zielsetzung, was mit einer Unterbringung gem. § 64 StGB erreicht werden soll, explizit als Zielvorgabe zu benennen. Auf diese Weise kann in § 67d Abs. 5 StGB nach wie vor eine Erledigung vorgesehen bleiben, die dann eintritt, wenn das vorgegebene Ziel nicht mehr erreichbar erscheint.

So kompliziert dies auf den ersten Blick klingen mag, wird es doch klarer, wenn man sich unseren vorgeschlagenen Gesetzestext vor Augen hält. So regen wir an, dass in § 64 S. 2 StGB das Vollzugsziel folgendermaßen benannt wird: „Die Anordnung verfolgt das Ziel, die substanzbezogene Abhängigkeitserkrankung der Person durch die Behandlung in einer forensischen Klinik für Abhängigkeitserkrankungen […] zu lindern und die Person damit über eine erhebliche Zeit von der Begehung erheblicher rechtswidriger Taten abzuhalten, die auf ihre Erkrankung zurückgehen.“ Entsprechend dazu regen wir an, § 67d Abs. 5 StGB so umzuformulieren, dass eine Erledigung dann vorgesehen ist, „wenn keine hinreichen konkrete Aussicht mehr vorliegt, das in § 64 S. 2 benannte Anordnungsziel zu erreichen.“

Zwei weitere Änderungsvorschläge unserer Skizze beziehen sich direkt auf die Zielsetzung einer Unterbringung gem. § 64 StGB. Bisher ist als Ziel formuliert, „die Person durch die Behandlung in einer Entziehungsanstalt […] zu heilen oder über eine erhebliche Zeit vor dem Rückfall in den Hang zu bewahren und von der Begehung erheblicher rechtswidriger Taten abzuhalten, […]“ Aus therapeutischer Perspektive erscheint es wichtig, den Begriff der Heilung aus dem Gesetzestext zu streichen. Bei Suchterkrankungen ist eine Heilung im medizinischen Sinne nicht möglich.[25] Stattdessen sollte von einer Linderung oder einer Remission im Sinne von Besserung oder Reduktion von Krankheitssymptomen gesprochen werden; unter diesen Begriff ließe sich auch die bisherige Formulierung „vor dem Rückfall in den Hang zu bewahren“ subsumieren. Aus normativer Sicht bemisst sich der Erfolg der Unterbringung primär an der Gefährlichkeitsreduktion. Unter dem Vorzeichen des Maßregelrechts stellt die Behandlung (und damit der „medizinische“ Behandlungserfolg) das Mittel zum Zweck (ebenjener Gefährlichkeitsreduktion) dar. Dies sollte auch aus der Formulierung des Gesetzestextes klarer hervorgehen, weshalb wir anregen, das Wort „damit“ einzufügen. So würde klar, dass durch die Linderung der Abhängigkeitserkrankung die Gefährlichkeitsreduktion erreicht werden soll.

4. Weitere Änderungsvorschläge 

Abschließend gehen wir an dieser Stelle noch kurz auf den Titel des § 64 StGB ein, dessen Änderung wir ebenso begrüßen würden. Wenn schon die überkommenen Begriffe „Rausch“ und „berauschende Mittel“ aus dem Gesetzestext gestrichen werden sollen, erscheint es nur folgerichtig, auch den Begriff der Entziehungsanstalt, der ebenfalls weder dem aktuellen Sprachgebrauch noch der Behandlungspraxis entspricht,[26] zu ersetzen. Was einen zeitgemäßen Alternativbegriff angeht, halten wir den Vorschlag der DGPPN,[27] nämlich von „forensischen Kliniken für Abhängigkeitserkrankungen“ zu sprechen, für den passendsten. Zumal sich hierin eine direkte Korrespondenz zu dem neu einzuführenden Rechtsbegriff der Abhängigkeitserkrankung innerhalb des Paragraphen ergibt.

Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass wir die von der BL-AG vorgeschlagenen Änderungen an „§ 67 StGB Reihenfolge der Vollstreckung“ und „§ 463 StPO Vollstreckung von Maßregeln der Besserung und Sicherung“ hinsichtlich der Erschwernis einer Halbstrafenentlassung und hinsichtlich der Berechnung des Vorwegvollzugs anhand des Zwei-Drittel-Zeitpunkts jedenfalls für vertretbar erachten.

VI. Diskussion

Alle Zeichen deuten darauf hin, dass es in allernächster Zukunft zu einer Reform des § 64 StGB kommen wird. Auch wenn sich im dafür erstellten Bericht der Bund-Länder-Arbeitsgruppe viele zielführende Ansätze wiederfinden, geht dieser Entwurf aus unserer Sicht nicht weit genug, um wenigstens den drängendsten Herausforderungen der Unterbringungspraxis zu begegnen: den rasant steigenden Anordnungszahlen und den drastischen regionalen Unterschieden.

Hierzu erscheint es uns vielmehr notwendig, die drei o.g. Eingangsvoraussetzungen des § 64 StGB (Hangbegriff, Konnexität und Behandlungsprognose) klarer zu fassen. Die Hoffnung wäre, dass weniger (vom Gesetzgeber mutmaßlich nicht so vorgesehener) Auslegungsspielraum verbleibt und sich dadurch auch die Unterbringungspraxis in den Ländern angleicht. Dafür wird es jedoch wichtig sein, an allen drei Punkten die Spielräume einzuschränken. Eine unverändert hohe Nutzung der verbleibenden Spielräume würde jedenfalls mit hoher Wahrscheinlichkeit eintreten, wenn der Entwurf der BL-AG ohne Änderungen so umgesetzt und verabschiedet wird. Konkret befürchten wir, dass die Behandlungsprognose nach wie vor als Hintertüre genutzt wird, um „den 64er doch irgendwie möglich zu machen“. Unserer Erfahrung nach wird die Behandlungsprognose (zumindest in Einzelfällen) nämlich dazu genutzt, bei „uneindeutigen“ Sachverhalten hinsichtlich der ersten beiden Eingangskriterien eine Anordnung dennoch zu legitimieren. Denn unter der Annahme, dass der Angeklagte ja sicherlich von einer Unterbringung gem. § 64 StGB profitieren würde (worauf auch immer dies dann gestützt ist), lässt sich gerne hinwegsehen, dass es sich möglicherweise nur um einen rudimentären „Hang“ bei unklarem Zusammenhang zur Delinquenzneigung handelt. Wir gehen davon aus, dass die Streichung der Behandlungsprognose dazu führen würde, dass Sachverständige und Gerichte gezwungen würden, mehr Wert auf eine reliable und klare Prüfung der ersten beiden Eingangsvoraussetzungen zu legen. Dies hätte dann paradoxerweise sogar den Effekt, dass die Abschaffung einer der (ursprünglich ebenfalls als Filter gedachten) Eingangsvoraussetzungen die Filterfunktion der anderen fördert.

Uns ist klar, dass die zahlreichen Probleme und Herausforderungen rund um § 64 StGB nicht alle durch unsere Skizze gelöst werden können.[28] Dies wird nach unserer Einschätzung aber ohne eine ganz grundlegende Überarbeitung des Sanktionenrechts sowieso nicht gelingen. Ohnehin bedarf es auch spürbarer Veränderungen in der Behandlungs- und Begutachtungspraxis. Dennoch sind wir überzeugt, dass der vorliegende Entwurf eine tragfähige Alternative zum Entwurf der Bund-Länder-Arbeitsgruppe darstellt und bis auf Weiteres einige Probleme abfedern könnte – zumindest so lange, bis es eines Tages tatsächlich zu einer grundlegenden Revision des deutschen Sanktionssystems kommt. 

VII. Anhang 

Zur leichteren Verständlichkeit werden nachfolgend die in unserer Skizze vorgeschlagenen Gesetzesänderungen in konsolidierter Form (bezogen auf den gegenwärtig gültigen Gesetzestext) wiedergegeben:

§ 64 StGB Unterbringung in einer Entziehungsanstalt forensischen Klinik für Abhängigkeitserkrankungen

Hat eine Person den Hang, alkoholische Getränke oder andere berauschende Mittel im Übermaß zu sich zu nehmen, eine substanzbezogene Abhängigkeitserkrankung, infolge derer eine dauernde und schwerwiegende Beeinträchtigung der Lebensgestaltung, der Gesundheit, der Arbeits- oder der Leistungsfähigkeit eingetreten ist und fortdauert, und wird sie wegen einer rechtswidrigen Tat, die sie im Rausch begangen hat oder dieüberwiegend auf ihren Hang diese Erkrankung zurückgeht, verurteilt oder nur deshalb nicht verurteilt, weil ihre Schuldunfähigkeit erwiesen oder nicht auszuschließen ist, so soll das Gericht die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt forensischen Klinik für Abhängigkeitserkrankungen anordnen, wenn die Gefahr besteht, dass sie infolge ihres Hanges ihrer Erkrankung erhebliche rechtswidrige Taten begehen wird. Die Anordnung ergeht nur, wenn eine hinreichend konkrete Aussicht besteht, die verfolgt das Ziel, die substanzbezogene Abhängigkeitserkrankung der Person durch die Behandlung in einer Entziehungsanstalt forensischen Klinik für Abhängigkeitserkrankungen innerhalb der Frist nach § 67d Absatz 1 Satz 1 oder 3 zu heilen oder über lindern und die Person damit eine erhebliche Zeit vor dem Rückfall in den Hang zu bewahren und von der Begehung erheblicher rechtswidriger Taten abzuhalten, die auf ihren Hang ihre Erkrankung zurückgehen.

 

§ 67d StGB Dauer der Unterbringung

[…]

5) Das Gericht erklärt die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt forensischen Klinik für Abhängigkeitserkrankungen für erledigt, wenn die Voraussetzungen des § 64 Satz 2 nicht mehr vorliegen keine hinreichend konkrete Aussicht mehr vorliegt, das in § 64 Satz 2 genannte Anordnungsziel zu erreichen. Mit der Entlassung aus dem Vollzug der Unterbringung tritt Führungsaufsicht ein.

[…]

 

 

*    Dörte Berthold ist wissenschaftliche und psychotherapeutische Mitarbeiterin im MRVZN Bad Rehburg. Ihr obliegt die Auswertung der bundesweiten Stichtagserhebung zu § 64 StGB. Dr. jur. Alexander Baur ist Habilitand an der Universität Augsburg. Dr. rer. nat. Jan Querengässer ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am LVR-Institut für Versorgungsforschung mit Sitz in Köln und am Institut für Qualitätsmanagement des Maßregelvollzugs in Bayern (IfQM) mit Sitz in Regensburg. Er nahm in beratender Funktion an einigen Sitzungen einer Unterarbeitsgruppe der Bund-Länder-AG teil, die sich mit dem Hangbegriff befasste.

[1]      Querengässer/Berthold, KriPoZ 2022, 8 (14).
[2]      Bund-Länder-Arbeitsgruppe zur Prüfung des Novellierungsbedarfs im Recht der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt gemäß § 64 des Strafgesetzbuches (StGB), Abschlussbericht vom 22.11.2021. Online abrufbar unter: https://www.bmj.de/SharedDocs/Artikel/DE/2022/0113_BMJ_Bericht_Massregelvollzug.html. (zuletzt abgerufen am 26.1.2022).
[3]      BT-Drs. 20/1723.
[4]      Müller/Böcker/Eusterschulte/Koller/Muysers/Pollmächer, Nervenarzt 2021, 1155 (1162).
[5]      Feißt/Lewe/Kammeier, online abrufbar unter: https://www.dgspev.de/fileadmin/user_files/dgsp/pdfs/Stellungnahmen/2022/Plaedoyer_fuer_eine_Transformation_der_Massregel.pdf (zuletzt abgerufen am 12.5.2022).
[6]      Schon in der letzten substanziellen Novelle 2007 des § 64 StGB wurde dieses Ziel bemüht. Die Zielerreichung lässt sich indes an zwei Zahlen illustrieren: 2007 erfolgten bundesweit 1.812 UAO gem. § 64 StGB, 2020 waren es mit 3.515 fast doppelt so viele (Quelle: Strafverfolgungsstatistik des statistischen Bundesamtes).
[7]      Vgl. dazu jüngst auch zum Vollzug einstweiliger Unterbringungen in der Untersuchungshaft Schwarz/Radorn, NStZ 2022, 270 ff.
[8]      Querengässer/Traub, R&P 2021, 19 (27).
[9]      A.a.O. Fn. 8.
[10]    Auch die soziologisch an sich zutreffende Feststellung, gerade bei den genannten Bundesländern handele es sich um strukturell sehr unterschiedliche, greift zu kurz. Große Inzidenzunterschiede finden sich auch zwischen diesbezüglich vergleichbaren Bundesländern, z.B. zwischen Bayern und Hessen, die um den Faktor 4,2 differieren.
[11]    Diese spielen allenfalls bei den unterschiedlich langen Verweildauern eine maßgebliche Rolle.
[12]    Gewiss sieht der Gesetzgeber durch die Soll-Formulierung des § 64 StGB auch einen intendierten Auslegungsspielraum vor, doch kann dieser allein die Zunahme der UAO und die regionalen Unterschiede nicht in Gänze erklären. Denn dazu ist der Spielraum, den eine Soll-Regelung lässt, eigentlich zu eng.
[13]    Ob dazu überhaupt ein Wille vorhanden ist, ist eine andere Frage.
[14]    So etwa im Neue-psychoaktive-Stoffe-Gesetz (NpSG).
[15]    Und der breiter verstanden werden kann, als die Begriffe „Abhängigkeit“ bzw. „Abhängigkeitssyndrom“, die sich wiederum in ICD und DSM finden. Insofern würde auch ein (durch den folgenden Relativsatz) qualifizierter Missbrauch bzw. schädlicher Gebrauch unter Umständen als Eingangskriterium genügen und die Voraussetzung wäre nicht an eine exklusive Diagnose gebunden.
[16]    Natürlich wird es auch hierzu zahlreiche Urteile benötigen, ehe klar ist, was konkret unter einer „dauernde[n] und schwerwiegende[n] Beeinträchtigung“ zu verstehen ist. Dennoch erscheint dieser Terminus schon expressis verbis klarer, als der bisherige Hang zum Substanzkonsum im Übermaß.
[17]    So lässt sich nach ICD-10 ein Abhängigkeitssyndrom diagnostizieren, wenn die Person die Kriterien Toleranzentwicklung hinsichtlich des Suchtmittels, Craving und Entzugssymptome aufweist.
[18]    Gleichwohl bleibt offen, wieso im Entwurf der BL-AG zwar der Begriff „Rausch“ verschwindet, der ebenso antiquierte Begriff „berauschende Mittel“ jedoch bestehen bleibt.
[19]    A.a.O. Fn. 1.
[20]    Auch die BL-AG erkennt dies einerseits an, indem sie darlegt: „Zwar ist es selbst nach aktueller Studienlage schwierig, zuverlässige Prädiktoren für den Erfolg der Behandlung in der Maßregel nach § 64 StGB zu identifizieren […]“, direkt danach wird jedoch behauptet: „Erkenntnisse aus der Praxis und die Ergebnisse verschiedener Katamnese-Studien legen jedoch verschiedene Zusammenhänge nahe“. Wer nun aber eine Aufzählung dieser Zusammenhänge erwartet, sieht sich stattdessen mit dem Verweis auf eine einzige Studie konfrontiert, in der der Grad der sozialen Integration mit der Legalbewährung nach Entlassung zusammenhing. Bei allen anderen in der Folge aufgezählten Phänomenen (unzureichende Sprachkenntnisse, Therapieunwilligkeit, langjähriger Rauschmittelkonsum oder dissoziale Charakterstruktur) handelt es sich nicht etwa um „tatsächliche Anhaltspunkte“ für Therapieerfolg, sondern um mehr oder weniger empirisch belegte Anhaltspunkte dagegen. A.a.O. Fn. 2, S. 27.
[21]    In manchen Verfahren wird sogar offen darüber gesprochen, ob nicht die Behandlungsprognose eine „Hintertüre“ öffnet, im konkreten Fall doch noch einen „64er“ zu verhängen – oder im umgekehrten Fall zu verhindern.
[22]    BVerfG, Beschl. V. 16.3.1994 – 2  BvL 3/90 u.a.
[23]    Ausführlich dazu siehe Querengässer/Berthold, Fn 1.
[24]    Querengässer/Bulla/Hoffmann/Ross, Nervenarzt 2018, 71 (77).
[25]    Dies wird verständlich, wenn man sich die Pschyrembel-Definition des Begriffs Heilung als eine „vollständige Wiederherstellung der Gesundheit (bzw. des Ausgangszustands) nach einer Erkrankung“ vor Augen führt.
[26]    In Maßregelvollzugskliniken gem. § 64 StGB findet weit mehr statt als eine reine „Entziehung“ von der psychoaktiven Substanz.
[27]    A.a.O. Fn. 4.
[28]    Als Übersicht über die aktuellen Herausforderungen forensischer Suchtbehandlung siehe Bezzel/Schlögl/Janele/Querengässer, MSchrKrim 2022, 65 (73).

 

 

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