Yanik Bolender: Das neue Widerstandsstrafrecht. Eine strafrechtsdogmatische Untersuchung der §§ 113, 114, 115 und 323c Abs. 2 StGB vor dem Hintergrund des 52. StÄG

von Prof. Dr. Anja Schiemann

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2021, Ergon – Nomos, ISBN: 978-3-95650-813-4, S. 373, Euro 98,00.

Das 52. Strafrechtsänderungsgesetz und insbesondere die Änderungen der Widerstandsdelikte waren schon vor Verkündung zahlreicher Kritik in der Literatur ausgesetzt. Neben rechtstatsächlich, empirische und dogmatischen Bedenken standen primär die faktisch aufgegebene Privilegierungsfunktion der Vorschriften im Vordergrund der Diskussion. Die Dissertation von Bolender greift diese Diskussion vor allem aus strafrechtsdogmatischer Perspektive auf, um insbesondere künftige Auslegungsfragen auszuleuchten (S. 32). Dazu wird die Arbeit in zwei Teile gegliedert, wonach zuerst der Frage eines „Widersetzens gegen die Staatsgewalt“ und anschließend der Bewertung eines „Behinderns von Rettungshandlungen“ als strafbare Handlung nachgegangen wird.

Im ersten Teil nimmt der Verfasser eine historische Genese der Widerstandsdelikte mit besonderem Blick auf die Entwicklung des Verhältnisses zur allgemeinen Nötigung vor, die insoweit interessant ist – als sie jenseits der gängigen Auseinandersetzungen bereits viel früher zurückreicht und frühe Entwicklungen bis hin zur Kodifizierung im Reichsstrafgesetzbuch erfasst. Auch die Regelungen im Reichsstrafgesetzbuch und anschließende Reformentwürfe werden nachgezeichnet, bevor die Strafrechtsangleichungsverordnung von 1943 sowie Reformentwürfe zur Zeit der frühen Bundesrepublik und die neuen Regelungen durch das 3. StrRG angesprochen werden. Bolender hält fest, dass über die Jahre beachtliche Argumente gegen eine Privilegierung des § 113 StGB vorgebracht wurden, die sich nie durchsetzen konnten – vielmehr wurde § 113 StGB dogmatisch von Lehre und Rechtsprechung als Privilegierung zu § 240 StGB angesehen. Eine Positionierung, warum diese Sicht der Privilegierung denn so falsch sein sollte, erfolgt aber nicht.

Schließlich wird der Diskurs über eine Reform der Widerstandsdelikte Anfang der 2000er Jahre und das 44. StÄG aufgegriffen. Resultat dieser Reformen war, dass § 113 und § 240 StGB einen gleichen Strafrahmen aufwiesen und das gefährliche Werkzeug als zweite Alternative im Katalog der Regelbeispiele des § 113 Abs. 2 S. 2 Nr. 1 StGB aufgenommen wurde. Außerdem wurden über § 114 Abs. 3 StGB nun ausdrücklich auch Hilfskräfte von Feuerwehr, Katastrophenschutz und Rettungsdienste vom Schutz des § 113 StGB miterfasst.

Anschließend zeichnet der Verfasser die Reformdiskussion und die entsprechenden Änderungen durch das 52. StÄG nach. In der Diskussion im Anschluss an das 44. StÄG erkennt Bolender eine erste Abkehr von der Privilegierungstheorie.

In der Diskussion im Anschluss an das 52. StÄG sieht der Verfasser dann die endgültige Abkehr von der Privilegierungstheorie. Nach dem 52. StÄG könne nicht mehr von einer Ausrichtung des § 113 StGB als Privilegierung zu § 240 StGB ausgegangen werden.

Nach dieser historischen Perspektive schließen sich strafrechtsdogmatische Untersuchungen der Auswirkungen auf § 113 StGB aufgrund der Änderungen durch das 52. StÄG an. Der Verfasser ist der Meinung, dass in Abkehr vom bisherigen Konkurrenzverhältnis prinzipiell Tateinheit zwischen § 113 und § 240 StGB gegeben ist. Dies steht der h.M. in Literatur und Rechtsprechung entgegen, die weiterhin Gesetzeseinheit in Form von Spezialität oder Exklusivität annimmt. Auch im Verhältnis zu anderen Delikten sei nach dem 52. StÄG in Abkehr von der bisherigen Auslegungspraxis stets Tateinheit anzunehmen. Der Verfasser gibt aber zu, dass nach h.M. das Konkurrenzverhältnis auf seinem Stand von vor dem 52. StÄG bleibt (S. 160).

Bolender widmet sich dann dem neu gefassten § 114 StGB. Primär geht er der Frage nach, ob eine (neue) Auslegung der objektiven Tatbestandsmerkmale geboten ist. Er kommt mit der – m.E. herrschenden Meinung in der Literatur – zu dem Ergebnis, dass der tätliche Angriff nun restriktiv auszulegen ist, also nur noch konkrete Verhaltensweisen von gewisser Erheblichkeit erfasst, die grundsätzlich geeignet sind, die körperliche Integrität zu beeinträchtigen. Eine rechtsgutsbezogene, systematische und mit dem Schuldprinzip zu vereinbarende Auslegung der Norm zwinge den Gesetzesanwender dazu (S. 229). Auch wenn dem zuzustimmen ist, so hat sich doch der BGH anderweitig positioniert und an der ursprünglichen Auslegung des Begriffs festgehalten (BGH, KriPoZ-RR-45/2020).

Hinsichtlich des subjektiven Tatbestands ergeben sich laut Verfasser auch Besonderheiten, da ein Überschreiten der Erheblichkeitsschwelle auch vom Vorsatz in Form eines dolus eventualis in Kauf genommen werden müsse. In diesen Fällen müsse also explizit der subjektive Tatbestand bzgl. der zusätzlich zu fordernden möglichen Beeinträchtigung der körperlichen Integrität herausgearbeitet werden (S. 232).

Schließlich kritisiert Bolender, dass der Vorschrift des § 114 StGB eine eigene Irrtumsvorschrift vergleichbar mit derjenigen des § 113 Abs. 4 fehlt. Der Irrtum über die Rechtswidrigkeit  einer  allgemeinen  Diensthandlung  sei für die Bewertung der Strafbarkeit irrelevant. Lediglich sofern eine Vollstreckungshandlung bejaht wäre, seien die Irrtumskonstellationen des § 113 StGB anwendbar.

Ausführlich widmet sich die Dissertation dann auch den Konkurrenzverhältnissen. Hier positioniert sich der Verfasser teilweise gegen die h.M. und geht bspw. davon aus, dass die einfache Körperverletzung von einem tätlichen Angriff auf Vollstreckungsbeamte nach § 114 StGB im Wege der Gesetzeseinheit in Form von Konsumtion verdrängt wird. Dies gelte aber nicht für eine qualifizierte Form der Körperverletzung.

Auch plädiert der Verfasser dafür, dass bei einem tätlichen Angriff auf Vollstreckungsbeamte ein Täter-Opfer-Ausgleich bzw. eine Schadenswiedergutmachung bei Vorliegen der Voraussetzungen nicht grds. ausgeschlossen sein sollte und im Verfahren zu beachten seien (S. 274).

Weiterhin widmet sich die Dissertation der strafrechtsdogmatischen Untersuchung des wieder eingeführten § 115 StGB durch das 52. StÄG. Hier kommt Bolender zu dem Ergebnis, dass § 115 Abs. 1, 2 StGB zwar weiterhin nur eine unselbstständige Gleichstellungsklausel ohne eigene Tatbestandsqualität darstellt, sich nun aber stimmig(er) in die Struktur der §§ 113 ff. StGB einfüge. Systematische Unstimmigkeiten seien – insbesondere in Bezug auf § 240 StGB – aufgelöst, so dass von einer wirklichen Erweiterung des strafrechtlichen Schutzes gesprochen werden könne. Ähnliches gelte für § 115 Abs. 3 StGB. Der eigenständige Tatbestand habe sich auch nach der Reform in Struktur und Tatbestandsvoraussetzungen nicht verändert. Allerdings sei auch § 115 Abs. 3 StGB restriktiver auszulegen. Außerdem stehe der Absatz nunmehr in Tateinheit und nicht mehr in Gesetzeseinheit mit anderen Normen (S. 300). Was nicht mehr in die Dissertation einfließen konnte, war die Erweiterung des Personenkreises durch das Gesetz zur Bekämpfung des Rechtsextremismus und der Hasskriminalität vom 3.4.2021, durch das Hilfeleistende eines ärztlichen Notdienstes und einer Notaufnahme erfasst wurden.

Im zweiten Teil widmet sich der Verfasser der Strafbarkeit des Behinderns von Rettungshandlungen Dritter. Auch hier wird zunächst eine historische Genese der Regelungen zur Sanktionierung des Behinderns von Rettungshandlungen Dritter vorgenommen und die Entwicklung der Rechtslage bis zur Einführung des 52. StÄG vorgenommen. Auch dies bietet neue Perspektiven und ist durchaus erhellend im Rahmen einer ganzheitlichen Einordnung. Anschließend wird die Einführung des 52. StÄG und die darauffolgende Diskussion präzise nachgezeichnet, um darauf aufbauend den Möglichkeiten zur Sanktionierung des Behinderns von Rettungshandlungen Dritter nach derzeitiger Rechtslage nachzuspüren. Der Verfasser positioniert sich klar und bekennt sich für eine Strafbarkeit, erkennt aber auch, dass dies vor dem Hintergrund des derzeitigen Wortlauts nicht „gänzlich unproblematisch“ ist (S. 320).

Es folgt die strafrechtsdogmatische Untersuchung des neu eingeführten § 323 c Abs. 2 StGB, um letztlich festzustellen, dass eine Vielzahl an rechtlichen Möglichkeiten besteht, um eine Behinderung von Rettungshandlungen Dritter zu ahnden. Allerdings konstatiert der Verfasser, dass es auch schon vor der Einführung des Abs. 2 möglich war, ein Behindern von Rettungshandlungen zu sanktionieren (S. 345). Allerdings wurde mit den schon bisher bestehenden Sanktionsmöglichkeit nunmehr eine ausdrückliche Strafbarkeit eingeführt (S. 346).

Besondere Aufmerksamkeit verdienten laut Verfasser die sog. Gafferfälle. Diese seien nach wie vor nicht unproblematisch, besonders dann, wenn gerade kein Behinderungserfolg oder Vorsatz festgestellt werde. Insofern müsse auch weiterhin das Verwaltungs- oder Ordnungswidrigkeitenrecht im Blick behalten werden (S. 349).

In 3. Teil kommt Bolender zu einer Zusammenfassung und Würdigung. Er stellt fest, dass der Gesetzgeber sein Ziel, eine vereinfachte, härtere und sichtbare Sankionierung über die §§ 113, 114, 115, 323c Abs. 2 StGB zu ermöglichen, erreicht hat, auch wenn es an manchen Stellen der Restriktion bedürfe, um unverhältnismäßige Ergebnisse zu verhindern. Insofern wird das 52. StÄG als „zielführend und schlüssig bewertet … Von einer reinen „Symbolpolitik“ ist daher in diesem Kontext nicht zu sprechen“ (S. 357). Dieses Ergebnis zeigt, wie limitiert doch die Aussagen sind, wenn man kiminologische und kriminalpolitische Perspektiven von vornherein ausklammert (S. 354), können doch rein rechtsdogmatische Erwägungen nichts an dem faden Beigeschmack der Wirkungslosigkeit solcher Symbolgesetzgebung ändern.

Die Überzeugung von den Normen aus strafrechtsdogmatischer Sicht (S. 360), zu der der Verfasser kommt, ist auf vielfältige Kritik gestoßen. Hier wäre es ggf. zielführender gewesen, etwas tiefer zu schürfen und sich mit ebendieser Kritik dezidierter auseinanderzusetzen. Großes Manko der Arbeit ist sicherlich, die rechtstatsächliche Seite ganz aus dem Blick zu nehmen. Auch wenn dies ausgeschlossen wurde, hätte diese Perspektive doch auch für vielfältigste dogmatische Limitierungen fruchtbar gemacht werden können.

Was aber den Wert der Arbeit ausmacht, ist der historische Blick, um dem Verständnis der Reformbestrebungen und deren Wandel auf die Spur zu kommen. Auch liegt eine Arbeit vor, die angesichts der differenzierten Auseinandersetzung mit den Tatbestandsmerkmalen zur Diskussion anregt. Insofern mag man zwar – wie die Rezensentin – die Auffassung Bolenders nicht teilen. Gleichwohl regt sie zur Diskussion an. Dogmatische Ansätze sind in Relation zu setzen mit empirischen Erkenntnissen, um zu eruieren, ob die Intention der Reform zum Tragen kommt. Nach Auffassung der Rezensentin tun sie das gerade nicht.

 

 

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