„Wenn die Strafe zweimal droht – Übertragung von Strafverfahren und Jurisdiktionskonflikte“ – Tagungsbericht zum 14. EU-Strafrechtstag vom 3. September 2022 in Bonn

von Florian Fütterer

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Die aktuelle Initiative der EU-Kommission zur Übertragung von Strafverfahren[1] bot Anlass genug dieses Thema auf das Tapet der 14. EU-Strafrechtstagung zu bringen. Ca. 40 Teilnehmer:innen aus Anwaltschaft, Wissenschaft und verschiedenen Justizbehörden folgten der Einladung der Strafverteidigervereinigung-NRW e.V. und RA’in Dr. Anna Oehmichen (Oehmichen International, Berlin) in den Königshof nach Bonn. Bei Blick auf Rhein und Siebengebirge wurde neben der Übertragung von Strafverfahren auch über eine anstehende IRG-Reform und die Rolle von Europol und Eurojust in Kryptoverfahren diskutiert. Auch wenn die Strafverteidigungspraxis nicht immer in einem europarechtlichen Kontext steht, zeigen Verfahren wie die zu EncroChat die Relevanz der europäischen Regelungen, sobald ein Sachverhalt grenzüberschreitende Anknüpfungspunkte aufweist.

Prof. Dr. Michael Lindemann (Universität Bielefeld) eröffnete den EU-Strafrechtstag mit der Vorstellung des Forschungsprojektes „Transfer of criminal proceedings in the European Union“, der Erasmus Universität Rotterdam in Kooperation mit der Universität Bielefeld und anderen Einrichtungen. Das Forschungsnetzwerk führte Experteninterviews in neun EU-Mitgliedstaaten durch, um einen Ausgangsbefund zur Praxis der Verfahrensübertragung zu erstellen und einen potentiellen Regelungsbedarf auszumachen. Bei der Evaluation habe sich erwiesen, dass sich die Strafverfolgungspraxis mit dem fehlenden einheitlichen Rechtsrahmen in Europa[2] arrangiere und Strafverfahren nicht nur bei organisierter grenzüberschreitender Kriminalität, sondern auch bei leichteren Delikten, bspw. durch Grenzgänger, übertragen werden. Die Herausforderungen dabei seien die Ungewissheit über die Vorgehensweise, den besten Zeitpunkt der Übertragung, die zur Verfügung zu stellenden Informationen und die zu konsultierenden Akteure. Daneben würden Fristen fehlen, die eine effektivere Zusammenarbeit bewirken könnten.

Diese praktische Ebene, die den Bedarf einer europaweit einheitlichen Regulierung bereits aufzeigt, wird begleitet von bestehenden Rechtsproblemen. Hierzu ging Lindemann auf die sich ergebenden Jurisdiktionskonflikte ein. Zu deren Beilegung müsse eine verbindliche Bestimmung getroffen werden, die dem Doppelbestrafungsverbot Rechnung trage und durch eine Regelung zu einer subsidiären Gerichtsbarkeit ergänzt werden könne. Zudem müsse die mögliche Divergenz von Legalitäts- und Opportunitätsprinzip in den betroffenen Staaten berücksichtigt werden, da sich das jeweils geltende Prinzip auf den Umgang des Staates mit der Übertragung auswirke. Richtigerweise wies Lindemann auf die Rechte der Beschuldigten und Geschädigten hin, die de lege lata nicht existieren würden. Es habe sich gezeigt, dass Beschuldigte das Recht besitzen sollten, gegen die Übertragungsentscheidung vorzugehen, über die geplante Übertragung rechtzeitig informiert zu werden und eine Stellungnahme abzugeben.

Ausgehend von dieser empirischen Untersuchung stellte Tania Schröter (GD Justiz, EU-Kommission) die aktuellen Kommissionspläne zur Regulierung von Verfahrensübertragungen vor. Deren Bedeutung liege darin, das Strafverfahren in dem am besten geeigneten Mitgliedstaat betreiben zu können, ohne dass die Gefahr von Parallelverfahren bestünde. Indes führe der bestehende, lückenhafte Rechtsrahmen im Falle einer Übertragung zu Kostensteigerungen und zeitlicher Verzögerung. Mit der Initiative solle daher den Mitgliedstaaten zu einem effizienteren Strafverfahren, das Rechtssicherheit und Beteiligtenrechte gewährleistet, verholfen werden. Hierfür sollen die Kriterien einer Übertragung festgelegt, die Kommunikation zwischen den zuständigen Behörden in digitalisierter Form geregelt, notwendige Übersetzungsleistungen sowie Bearbeitungsfristen vorgegeben und die Rechtsfolgen einer Übertragung klargestellt werden. Da die Kommission gerade eine Folgenabschätzung erarbeite, bestünde intern noch keine abschließende Klarheit über die Fragen der Bindung einer Übertragungsanfrage, der konkreten Ausgestaltung der Beteiligtenrechte und einer möglichen subsidiären Gerichtsbarkeit. Bezüglich der Bindungswirkung erscheine sowohl eine freiwillige Ausgestaltung mit Zustimmungserfordernis als auch eine Annahmepflicht, mit mehr oder weniger eng gefassten Ablehnungsgründen möglich. Auch die Beteiligtenrechte könnten von einem Vorschlags- bis zu einem bloßen Anhörungsrecht reichen. In Frage stehe auch die Ausgestaltung des Umfangs der anwaltlichen Vertretung und des Rechtsschutzes. Diese Fragen stellte Schröter zur Debatte und leitete zur anschließenden Podiumsdiskussion über.

Nach Eingangsstatements von Dr. Sebastian Trautmann (Deleg. Europäischer Staatsanwalt, Köln), Dr. Sofia Mirandola (Eurojust) und Avv. Nicola Canestrini (canestriniLex, Rovereto, Italien) erklärte Mirandola die Rolle von Eurojust de lege lata als eine den Mitgliedstaaten assistierende Behörde zur praktischen Durchführung einer Übertragung. Eurojust helfe bei der Entscheidung, ob eine Übertragung sinnvoll ist, bis hin zur Frage über die Kostenverteilung zwischen den Mitgliedstaaten. Laut Mirandola entscheide eine frühzeitige Konsultation von Eurojust maßgeblich über die Erfolgsaussichten.

Beginnend mit einem Einblick in die Arbeitsweise der Europäischen Staatsanwaltschaft stellte Trautmann die Mechanismen der EUStA-VO[3] zur Lösung von Jurisdiktionskonflikten vor. Beispielhaft nannte er zwei praktische Fälle, in denen Anknüpfungspunkte in mehreren Mitgliedstaaten bestanden und in denen die zuständige Kammer[4] das Verfahren dem Staat zugewiesen hatte, in dem der Schwerpunkt der strafbaren Handlung bzw. der gewöhnliche Aufenthaltsort des Beschuldigten lag. Trautmann zeigte damit auf, dass die EUStA-VO bei der Lösung von Jurisdiktionskonflikten beispielgebend sein kann. Canestrini demonstrierte dagegen, dass die Verfahrensübertragung aus Sicht der Verteidigung bisweilen arbiträr stattfinde. Er plädierte für ein bindendes Rechtsinstrument, das neben der Wirksamkeit und Effizienz auch die nationalen Schutzgarantien und Grundrechte des Beschuldigten berücksichtige, etwa zur (Wieder-)Herstellung der Waffengleichheit, indem das Verfahren immer in den Mitgliedstaat übertragen werde, in dem der Beschuldigte sich am besten verteidigen könne. Dieser Vorschlag wurde aus der Reihe der Teilnehmer aufgegriffen und um eine subsidiäre Gerichtsbarkeit ergänzt, wodurch eine praxistaugliche Regelung, die die Beschuldigteninteressen ausreichend im Blick behält, geschaffen würde.

Die weitere Diskussion ergab, dass es klarer Vorschriften über den weiteren Verlauf des im ersuchten Staat begonnenen Verfahrens bedarf. Neben dem Rechtsschutz gegen Übertragungsentscheidungen müsse Beschuldigten auch das Recht zur Beantragung eine Übertragung eingeräumt werden.

Mit dem Vortragsthema „Lichtblick der IRG-Reform: Regulierung diplomatischer Zusicherungen“ wandte sich Anna Oehmichen dem Auslieferungsrecht zu und stellte die Ergebnisse ihrer Arbeitsgruppe als Teil der Reformbemühungen des BMJ vor. Oehmichen verdeutlichte die Ambivalenz im Zusammenhang mit Zusicherungen: Jene setze der ersuchende Staat ein, wenn der ersuchte Staat den Verdacht eines Auslieferungshindernisses hege, um seinerseits das Vertrauen zu begründen, dass dem Verdacht die Grundlage fehle. Der ersuchte Staat besitzt dann aber bereits ein gewisses Misstrauen, sodass die Zusicherung gerade des ersuchenden Staates das notwendige Vertrauen nicht herstellen könne. Erschwerend komme hinzu, dass kein Rechtsrahmen für die Praxis der Zusicherungen existiert. Den erarbeiteten Regelungsvorschlag ihrer Arbeitsgruppe für eingehende Ersuchen im Zusammenhang mit Zusicherungen hielt Oehmichen daher für einen wesentlichen Fortschritt. Vorgeschlagene Neuerungen beinhalten eine Fristenregelung zur Abgabe der Zusicherung, eine Informationspflicht gegenüber der betroffenen Person und Kriterien, die vorliegen müssen, damit die Zusicherung hinreichend belastbar ist. Laut Oehmichen wäre zusätzlich eine Justiziabilität der Nichteinhaltung und eine obligatorische Überwachung der Zusicherung, die die Einhaltungspraxis offenlegen könnte, notwendig.

In der anschließenden Diskussion zeigte sich, dass das Erfordernis der Belastbarkeit der Zusicherung, das als Zulässigkeitsvoraussetzung auszulegen und vom ersuchenden Staat ausführlich zu begründen wäre, nicht hinreichend bestimmt ist. Auch wurde angemerkt, dass aus Sicht des Betroffenen die Zusicherung Bestandsschutz genießen und diesem Rechtsschutz zustehen müsse.

Intensiv diskutierten schließlich RA Christian Lödden, LL.M. (Lödden & Barczyk Rechtsanwälte, Krefeld) und StA’in Vera Rogusch(Staatsanwaltschaft Münster) über die Rolle von Europol und Eurojust in Kryptoverfahen, wie bspw. EncroChat, an denen beide beteiligt waren.Lödden thematisierte, dass der Beschuldigte und sein Verteidiger in diesen Ermittlungsverfahren einer intransparenten Strafverfolgung ausgesetzt seien, die eine effektive Verteidigung verhindere. Etwa in EncroChat-Verfahren sei unklar, ob die Datenerhebung durch Infiltration des EncroChat-Servers oder der einzelnen Benutzerhandys erfolgte. Da an entscheidender Stelle Europol und Eurojust eingebunden waren, seien gerade die deutschen Vertreter dieser Behörden Schlüsselfiguren, um im Prozess die Ermittlungen nachvollziehen zu können. Jedoch bestünde keine Möglichkeit das Personal als Zeugen zu vernehmen, da die notwendige Aussagegenehmigung kaum erteilt werde. Daneben stelle sich die Frage, ob die Beweise ihre Qualität als Zufallsfunde verlieren müssten, wenn die deutschen Vertreter von diesen Kenntnis erlangen.
Rogusch stellte klar, dass Europol und Eurojust Koordinierungsstellen sind, die lediglich unterstützend tätig werden dürfen. Folglich habe der deutsche Vertreter keine Prüfungskompetenz hinsichtlich der Rechtsmäßigkeit der Maßnahmen.

In der Diskussion waren die Referenten uneins, ob die Datenauswertung tatsächlich zur Gefahrenabwehr erfolgte. Jedenfalls sei die Einschaltung der europäischen Ebene laut Rogusch eine Bereicherung. Sofern sie aber gleichzeitig so viele Bedenken auf Seiten der Verteidigung hervorruft, wie es sich in der Diskussion darstellte, besteht Anlass für die EU ihre Rechtsrahmen zu überdenken.

Mit einem „Blitzlicht“ zu den aktuellen Entwicklungen des EU-Strafrechts, ließ Prof. Dr. Dominik Brodowski, LL.M. (Universität des Saarlandes) den 14. EU-Strafrechtstag ausklingen und gab sicher allen Teilnehmer:innen einen Denkanstoß mit auf den Heimweg.

Der 15. EU-Strafrechtstag wird voraussichtlich am 27./28.10.2023 in Bonn stattfinden.

 

[1]      „Leistungsfähige Justiz – gemeinsame Bedingungen für die Übertragung von Strafverfahren zwischen EU-Ländern“, online abrufbar unter: https://ec.europa.eu/info/law/better-regulation/have-your-say /initiatives/13097-Leistungsfahige-Justiz-gemeinsame-Bedingungen-fur-die-Ubertragung-von-Strafverfahren-zwischen-EU-Landern_de (zuletzt abgerufen am 5.9.2022).
[2]      Das Europäische Übereinkommen über die Übertragung der Strafverfolgung von 1972 des Europarates (SEV Nr. 073), als bisher einziges umfassendes Rechtsinstrument, wurde von lediglich 25 Staaten ratifiziert.
[3]      VO (EU) 2017/1939, ABl. EU 2017 Nr. L 283/1.
[4]      S. Art. 10 EUStA-VO.

 

 

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