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Versammlungsfreiheit und Notwehr – Dogmatische Betrachtungen an der Schnittstelle von Verfassungsrecht und Strafrecht am Beispiel von Straßenblockaden durch Klimaaktivisten

von Prof. Dr. Christian Ernst 

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Abstract
Straßenblockaden von Klimaaktivisten stellen in aller Regel Versammlungen gemäß Art. 8 GG dar. Gehen dadurch beeinträchtige Verkehrsteilnehmer gegen die Versammlungsteilnehmer vor, wird eine Einordnung als Notwehr nach § 32 StGB diskutiert. Der Beitrag untersucht das Verhältnis zwischen den Voraussetzungen der Notwehr und den versammlungsrechtlichen Befugnissen der Versammlungsbehörde. Ob es sich beim Versammlungsgeschehen um eine Nötigung handelt, hängt von den Umständen des Einzelfalls ab. Insgesamt zeigt sich bei diesen Betrachtungen, dass das Instrument der Notwehr strukturelle Defizite aufweist, die es als nicht geeignet für die verfassungsrechtlichen Anforderungen an einen Grundrechtsausgleich erscheinen lassen.

Roadblocks by climate activists generally constitute assemblies under Article 8 of the German Basic Law. When affected road users take action against the assembly participants, a classification as self-defence according to § 32 StGB (German Criminal Code) is discussed. The article examines the relationship between the prerequisites of self-defence and the powers of the assembly authorities under assembly law. Whether an assembly constitutes a case of coercion under § 240 StGB (German Criminal Code) depends on the circumstances of the individual case. Overall, these considerations show that the instrument of self-defence under § 32 StGB (German Criminal Code) has structural deficits and therefore appears unsuitable for balancing fundamental rights as required by the constitution.

I. Einleitung 

Nach Art. 8 Abs. 1 GG haben alle Deutschen das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln. Die Inanspruchnahme dieser grundrechtlichen Freiheit kann auf vielfältige Weise mit der Rechtsausübung Dritter in Konflikt geraten. Dies geschieht aktuell in erheblichem Maße in solchen Situationen, in denen sich Klimaaktivisten zum Protest gegen ihrer Ansicht nach ausbleibende Maßnahmen zum Klimaschutz auf Straßen festkleben. Immer wieder lässt sich beobachten, dass dadurch beeinträchtigte Verkehrsteilnehmer sich selbst helfen und mit Gewalt gegen die blockierenden Versammlungsteilnehmer vorgehen. In der allgemeinen politischen Diskussion hat dies die Frage aufgeworfen, ob Notwehr gegen Straßenblockaden zulässig ist.[1] Dieser Beitrag versucht auf diese Frage eine Antwort zu geben, die auch die verfassungsrechtlichen Grundlagen und Wertungen adäquat berücksichtigt.

II. Grundlagen der grundrechtlichen Versammlungsfreiheit

Bei der Versammlungsfreiheit des Art. 8 GG handelt es sich um ein klassisch individuelles Grundrecht, das aber auch Elemente demokratischer Mitwirkung enthält.[2] Ebenso wie die Meinungsfreiheit gehört auch die Versammlungsfreiheit zu den Kommunikationsgrundrechten.[3] Nach dem BVerfG ist die Versammlungsfreiheit „für eine freiheitliche demokratische Staatsordnung konstituierend“, „zählt zu den unentbehrlichen Funktionselementen demokratischen Gemeinwesens“ und stellt ein „wesentliches Element demokratischer Offenheit“ dar.[4]

Die Anwendung der Versammlungsfreiheit setzt voraus, dass diejenigen, die ihren Schutz beanspruchen, körperlich zusammenkommen.[5] Das bedeutet zwangsläufig, dass die Ausübung der grundrechtlichen Freiheit von Natur aus mit einer körperlichen Präsenz einhergeht, in der auch ein gewisses Macht- oder sogar Aggressionspotenzial zum Ausdruck kommen kann.[6] Nicht alleine aus diesem Grund ist der Umgang mit Versammlungen selbst ein Indikator für den gesellschaftlich-politischen Zustand eines Gemeinwesens; dies betrifft sowohl die Themen von Versammlungen aber ebenso auch die Reaktionen durch Behörden, Gesellschaft und Politik.[7] Die Versammlungsfreiheit dient deshalb auch gerade dem Schutz von Minderheiten.[8] Es darf nicht unterschätzt werden, in welch erheblichem Ausmaß die Diskussion über Versammlungen in sozialen Netzwerken und die klassische Berichterstattung in den Medien den Blick auf Versammlungen beeinflussen kann und einzelne Positionen dadurch in der öffentlichen Wahrnehmung überrepräsentiert werden können.[9] Dies kann dazu führen, dass die Stimmung im Umgang mit Versammlungen in erheblichem Maße gereizt ist; die öffentliche Auseinandersetzung mit den oben schon angesprochenen Versammlungen von Klimaaktivisten mag davon zeugen. Bei der Versammlungsfreiheit handelt es sich deshalb um eines der Grundrechte, bei dem die Bewertung seiner Ausübung im Einzelfall erheblich von solchen Eindrücken und der eigenen Position zum Anliegen geprägt ist.

Art. 8 GG garantiert ein Selbstbestimmungsrecht für die Veranstalter, die über Zeit, Ort und Modalitäten der Versammlung selbst entscheiden können.[10] Ein numerus clausus erlaubter Versammlungsformen existiert nicht, vielmehr ist das Grundrecht durch Typenfreiheit gekennzeichnet.[11] Eine Genehmigung oder Erlaubnis setzt die selbstbestimmte Ausübung der Versammlungsfreiheit ausweislich des Wortlauts nicht voraus.[12] Der Schutz des Grundrechts setzt aber voraus, dass die Versammlung friedlich und ohne Waffen stattfindet. Greift der Schutz der Versammlungsfreiheit ein, können behördliche Einschränkungen für versammlungsspezifische Maßnahmen nur noch über das einfache Versammlungsrecht (im Folgenden wird auf das Versammlungsgesetz des Bundes abgestellt) erfolgen. Der Grundsatz der Polizeifestigkeit lässt Eingriffe, die auf andere Rechtsgrundlagen gestützt werden, nicht zu.[13] Als spezielles Ordnungsrecht verdrängt das einfache Versammlungsgesetz andere Eingriffsgrundlagen.[14] Das bedeutet, dass Versammlungen so lange von den Behörden nur mit den Mitteln des Versammlungsgesetzes adressiert werden können, wie sie nach einfachem Recht nicht verboten oder aufgelöst sind. Letzteres erfolgt über § 15 Abs. 1, 3 VersG (Verbot im Vorfeld: Abs. 1, Auflösung einer laufenden Versammlung: Abs. 3). Die relevanteste Tatbestandsvariante dieser Ermessensvorschrift setzt voraus, dass die öffentliche Sicherheit oder Ordnung bei Durchführung der Versammlung oder des Aufzuges unmittelbar gefährdet ist. Im Falle von sog. Eil- und Spontanversammlungen (Entschluss zur Durchführung weniger als 48 Stunden bzw. weniger als 24 Stunden vor der Durchführung getroffen) ändert sich diese Systematik nicht.

III. Notwehr gegen Versammlungsteilnehmer – Straßenblockaden

1. Schutz der Versammlungsfreiheit in Fällen der Straßenblockade

Das sitzende Sich-Versammeln auf der Straße zum Zweck des Protests gegen die aktuelle Klimaschutzpolitik stellt sich in aller Regel als eine Versammlung i.S.d. Art. 8 GG dar. Nach dem engen Versammlungsbegriff, den das BVerfG zugrunde legt, ist eine Versammlung eine örtliche Zusammenkunft mehrerer Personen zwecks gemeinsamer Willensbildung und -äußerung mit dem Ziel der Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung.[15] Diese Voraussetzungen sind typischerweise bei den fraglichen Straßenblockaden erfüllt. Die Kritik an der aktuellen Klimaschutzpolitik stellt sich als eine gemeinsame Willensäußerung dar, die durch Transparente und Äußerungen Dritten mitgeteilt wird und so an der öffentlichen Meinungsbildung teilhaben soll. Die konkrete Gestaltung des Protests durch Sitzen auf einer öffentlichen Straße ist Ausdruck des Selbstbestimmungsrechts und der inhaltlichen Offenheit der Versammlungsfreiheit.

Die körperliche Anwesenheit der Teilnehmer am Versammlungsort führt zwangsläufig dazu, dass andere den Veranstaltungsort zur selben Zeit nicht nutzen können. Bei dieser tatsächlichen Ausschlusswirkung, die im Falle einer Massendemonstration auf einer Straße ebenso eintreten kann wie beim Ankleben einer Handvoll von Personen, handelt es sich um eine immanente und zwangsläufige Folge einer Versammlung i.S.d. Art. 8 GG, weil diese die körperliche Zusammenkunft voraussetzt.[16] Einem grundrechtlichen Schutz steht dies nicht entgegen. Nach dem BVerfG ist aber nicht nur diese faktisch zwangsläufige Blockade, die potenziell bei jeder Versammlung entstehen kann, sondern auch die zielgerichtete Behinderung Dritter legitimer Ausdruck der Versammlungsfreiheit, solange eine passive Resistenz gewahrt bleibt.[17] Dies wird auch grundsätzlich nicht in Frage gestellt, wenn eine Blockade unter Zuhilfenahme von physischen Hindernissen erfolgt, solange sich die beteiligten Personen auf Passivität beschränken, keine aggressiven und erheblichen physischen Einwirkungen erzeugen und kein Hindernis mit Zwangswirkung durch eine körperliche Kraftentfaltung errichtet wird.[18] Das reine Ankleben und passive Verbleiben an diesem Ort kann zwar als physisches Hindernis eingeordnet werden, die Grenze der Passivität ist damit aber nicht überschritten; es besteht insofern keine Parallelität zwischen dem Ausschluss der grundrechtlichen Gewährleistung nach Art. 8 Abs. 1 GG und dem Gewaltbegriff des § 240 StGB.[19] Das Ankleben und der Klebstoff können mangels Schutzwirkung auch nicht als „Schutzwaffe“ eingeordnet werden, wobei es ohnehin recht fraglich ist, ob solche Schutzwaffen dem Waffenbegriff des Art. 8 GG unterfallen. Solange also keine Auflösung der Straßenblockade nach § 15 VersG erfolgt ist, handelt es sich bei den Sitzblockaden regelmäßig um eine zulässige Ausübung der Versammlungsfreiheit.[20]

2. Strafrechtliche Notwehr als Schranke der Versammlungsfreiheit

Die Frage, ob gegen eine Versammlung i.S.d. Art. 8 GG Notwehr gemäß § 32 StGB geübt werden kann, hängt in einem ersten Schritt davon ab, ob die mit einer Versammlung einhergehenden Handlungen einen rechtswidrigen Angriff auf rechtlich geschützte Interessen derjenigen Person, die sich verteidigen möchte, darstellt. Die folgenden Überlegungen sollen nicht auf die rechtlich geschützten Interessen, die möglicherweise verletzt sind, gerichtet werden, sondern stattdessen die Rechtswidrigkeit des möglichen Angriffs, also der Versammlung, in den Blick nehmen. Ein Angriff kann als rechtswidrig eingeordnet werden, wenn er objektiv im Widerspruch zur Rechtsordnung steht, auf das Erfüllen eines strafrechtlichen Tatbestands kommt es nicht an.[21] Bis zu der Auflösung einer Versammlung handelt es sich, wie gesehen, um eine zulässige Grundrechtsausübung. Im Ausgangspunkt spricht dies erst einmal gegen die Annahme eines rechtswidrigen Angriffs.

a) Rechtswidriger Angriff gemäß § 32 Abs. 2 StGB und Tatbestandsvoraussetzungen Versammlungsauflösung nach § 15 VersG

aa) Rechtswidrigkeit nach § 32 Abs. 2 StGB bei Vorliegen der Auflösungsvoraussetzungen des § 15 VersG?

Denkbar wäre es aber, dass sich die Rechtswidrigkeit i.S.d. § 32 Abs. 2 StGB eines Versammlungsgeschehens dadurch ergibt, dass die tatbestandlichen Voraussetzungen der Auflösung einer Versammlung nach § 15 Abs. 3 VersG gegeben sind. Das würde bedeuten, dass dann, wenn eine Behörde eine Versammlung auflösen könnte (unabhängig davon, ob das tatsächlich geschieht), zugleich auch die Voraussetzungen der Rechtswidrigkeit               
gemäß § 32 Abs. 2 StGB bestehen würden. Angesetzt wird damit an einem Konkurrenzverhältnis zwischen privaten Notwehrbefugnissen und dem staatlichen Eingriffsregime, das, soweit ersichtlich, bislang kaum diskutiert oder praktisch relevant wurde.[22]

Im Rahmen des Tatbestands des § 15 Abs. 3 VersG kommt zuvörderst eine Auflösung aufgrund fehlender Anmeldung der Versammlung in Betracht. Zwar fehlt es bei den fraglichen Protesten von Klimaaktivisten regelmäßig an einer Anmeldung nach § 14 VersG. Deswegen wird sich etwa auf die Institute der Eil- oder Spontanversammlung berufen. Mittlerweile ist aber anerkannt, dass allein eine fehlende Anmeldung für das Auflösen einer Versammlung nicht ausreicht und der Wortlaut des § 15 Abs. 3 VersG an dieser Stelle verfassungskonform auszulegen ist.[23] Der Umstand einer fehlenden Anmeldung kann deshalb schon von vornherein keine Notwehrbefugnisse begründen.

Bei Straßenblockaden wird aber grundsätzlich eine unmittelbare Gefährdung der öffentlichen Sicherheit nach § 15 Abs. 3 i.V.m. Abs. 1 VersG bestehen. Dies hängt zwar von der Anwendung der unbestimmten Rechtsbegriffe „Gefahr“ und „öffentliche Sicherheit“ im Einzelfall ab, doch kann sich eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit in solchen Fällen etwa schon durch das Blockieren auf der Straße und die damit verbundene Beeinträchtigung des Verkehrs ergeben. Dass Straßenblockaden nach dem oben Gesagten zugleich dem sachlichen Schutzbereich der Versammlungsfreiheit unterfallen, steht dem nicht entgegen; bei einer Auflösung nach § 15 Abs. 3 i.V.m. Abs. 1 VersG handelt es sich um eine gesetzlich vorgesehene Einschränkung der Versammlungsfreiheit.

Es gibt aber gewichtige Gründe dafür, dass das Vorliegen dieser Tatbestandsvoraussetzungen nicht zugleich die Rechtswidrigkeit gemäß § 32 Abs. 2 StGB begründet. Eine rechtmäßige Versammlungsauflösung setzt auch eine rechtmäßige Ermessensausübung voraus. Dabei unterliegt das behördliche Ermessen besonderen Anforderungen, die von Privaten nicht zu berücksichtigen sind.[24] Von entscheidender Bedeutung sind dabei die Grundrechtsbindung der öffentlichen Gewalt und das Prinzip der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung. Nach dem BVerfG ist es deshalb gerade die behördliche Entscheidung, welche die Rechte und Pflichten der Versammlungsteilnehmer konkretisiert. Diese Entscheidung basiert auf einem Verfahren, das im Gegensatz zur Entscheidung eines privaten Notwehrübenden bestimmten rechtsstaatlichen Anforderungen entsprechen muss.[25] Es stellt daher zur Grundrechtssicherung der Versammlungsteilnehmer erhöhte Anforderungen an den Abwägung- und Begründungsprozess der Entscheidungsträger.[26]

Wollte man hingegen das Vorliegen der tatbestandlichen Auflösungsvoraussetzungen für die Ausübung der Notwehr ausreichen lassen, würde den Notwehrausübenden damit die Befugnis zugesprochen werden, Versammlungen faktisch aufzulösen – die Ausübung der Notwehr in Fällen der Straßenblockade würde bei realistischer Betrachtung einem selbstbestimmten Fortbestand der Versammlung entgegenstehen. Das wiederum könnte zum widersprüchlichen Ergebnis führen, dass eine Versammlungsbehörde eine Auflösung nicht vornehmen dürfte, weil die Auflösung unverhältnismäßig oder sonst ermessensfehlerhaft und damit rechtswidrig wäre, hingegen eine private Auflösung durch Ausübung von Notwehr zulässig wäre. Nicht nur würden dann die Befugnisse der Privaten, die sich auf Notwehr berufen, weiter gehen als die Befugnisse der Behörde. Der Rechtsrahmen für Versammlungen könnte den Anspruch, politisch motivierte Gewalt auf oder durch Versammlungen zu verhindern, nicht mehr einlösen. Im Konflikt zwischen Versammlungsteilnehmern und Notwehrausübenden wären die Behörden dann außerdem im Widerspruch gefangen und handlungsunfähig – ein Einschreiten gegen die Versammlungsteilnehmer wäre wegen der zulässigen Grundrechtsausübung rechtswidrig, die Ausübung der rechtmäßigen Notwehr könnte aber auch nicht unterbunden werden. Das Bestehen der tatbestandlichen Auflösungsvoraussetzungen kann deshalb keinen rechtswidrigen Angriff i.S.d. Notwehrrechts begründen.

bb) Strenge versammlungsrechtliche Akzessorietät – Ausdehnung der Polizeifestigkeit der Versammlung auf das Notwehrrecht?

Das Verhältnis von Auflösungsbefugnis nach § 15 VersG und Notwehrrecht gemäß § 32 StGB könnte dann dahingehend aufzulösen sein, dass eine Notwehr erst dann in Betracht kommt, wenn die Versammlung behördlich aufgelöst wurde.[27] Dies wurde in der Vergangenheit unter dem Topos der Verwaltungsrechtsakzessorietät diskutiert, allerdings bezogen auf das Verhältnis von staatlicher Gewalt und Versammlungsteilnehmern, nicht aber unter Einbeziehung privater Dritter, die Notwehr üben. Mit dieser Form der Akzessorietät wäre die Polizeifestigkeit, also der Vorrang des Versammlungsrechts, auch auf die private Notwehrausübung ausgedehnt. Notwehr könnte so lange nicht geübt werden, wie die Versammlung nicht behördlich aufgelöst wäre. Das Notwehrrecht würde damit praktisch leerlaufen, weil eine Auflösung ohnehin die Anwesenheit der zuständigen Versammlungsbehörde voraussetzt, die dann auch selbst die Auflösung gegebenenfalls vollstrecken könnte. Eine private Notwehrausübung wäre auf Situationen beschränkt, in denen eine Versammlung schon im Vorfeld verboten worden ist, aber dennoch stattfindet.

Dies ist nicht das einzige Argument, das gegen eine solche strenge Akzessorietät des Notwehrrechts zur versammlungsrechtlichen Rechtslage vorgebracht werden kann. Die Kollision von Versammlungsfreiheit und (Grund-) Rechten Dritter ist unter Berücksichtigung beider Positionen auszugleichen. Wollte man diesen Ausgleich aber alleine der Auflösungsbefugnis der Versammlungsbehörde überlassen, wäre auch zu berücksichtigen, dass es Fälle in der Praxis geben mag, in denen behördliche Hilfe nicht zu erhalten ist; hiervon zeugt das Institut des polizeilichen Notstands. Dies ist zwar für Straßenblockaden im Berufsverkehr unrealistisch, es blieben aber, zumindest theoretisch, Konstellationen denkbar, in denen eine Beeinträchtigung durch eine Versammlung dauerhaft bestehen würde, weil mit der Versammlungsbehörde der einzige Akteur zum Interessenausgleich praktisch nicht verfügbar ist. Mit einer versammlungsrechtlichen Akzessorietät wäre deshalb nicht gesichert, dass in jedem Kollisionsfall ein möglichst schonender Ausgleich der widerstreitenden Rechte stattfindet, vielmehr stünde ein Ausgleich von (Grund-)Rechten unter dem Vorbehalt der praktischen Verfügbarkeit der Versammlungsbehörde. Hier würde – wenn auch nur in besonderen Ausnahmesituationen – eine unverhältnismäßige Einschränkung der Rechte Dritter drohen. Aus dem Grund kommt auch der Zuordnung einer Versammlung zum Schutzbereich keine pauschale oder abschließende Wirkung zu.[28] Die Frage einer solchen Akzessorietät wäre anders zu bewerten, wenn jeder Versammlung stets eine behördliche Genehmigung vorausgeht. Dies ist aber nicht der Fall, weil es die strukturelle Besonderheit des Versammlungsrechts ist, dass Versammlungen von vornherein und auch ohne behördliches Zutun stets erst einmal zulässig sind. Entscheidend ist deshalb, wer eine gesetzlich vorgesehene Einschränkung des grundrechtlich geschützten Verhaltens aktualisieren darf – Behörde oder Private.

Außerdem ist zu berücksichtigen, dass der Grundsatz der Polizeifestigkeit Ausdruck der vorrangigen spezialgesetzlichen Regelungen des Versammlungsrechts ist, das z.B. unterschiedliche Gefahrenschwellen für unterschiedliche Arten von Versammlungen berücksichtigt. Die Polizeifestigkeit ist damit ein Element der grundrechtlichen Schrankensystematik und richtet sich deshalb direkt nur an die grundrechtsverpflichtete Ausübung staatlicher Gewalt. Die Ausübung von Notwehrbefugnissen durch Private findet auf einer anderen Ebene statt.

cc) Zwischenergebnis

Die Ausübung von Notwehr ist weder immer dann möglich, wenn die Tatbestandsvoraussetzungen für eine behördliche Auflösung vorliegen, noch nur dann, wenn eine Versammlung auch schon tatsächlich aufgelöst ist. Eine strenge versammlungsrechtliche Akzessorietät oder eine formale Übertragung der Polizeifestigkeit von Versammlungen auf die Ausübung des Notwehrrechts lässt sich nicht begründen.

b) Primat des Versammlungsrechts

Dieser Befund darf aber nicht so verstanden werden, dass öffentlich-rechtliche Befugnisse und Notwehrrecht völlig losgelöst voneinander und eigenständig zu betrachten wären. Insbesondere ist zu klären, wie sich die vielfältigen Strukturprinzipien, die bislang betrachtet wurden, auswirken. Angesprochen sind damit etwa die Grundrechtsbindung der öffentlichen Gewalt, das Prinzip der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, der Spezialitätsvorrang des Versammlungsrechts oder der Gedanke des Grundrechtsschutzes durch Verfahren.

Das staatliche Regelungsregime, wie es in den Versammlungsgesetzen zum Ausdruck kommt, stellt einen Ausgleich zwischen dem Grundrecht der Versammlungsfreiheit und betroffenen Rechten Dritter her und zwar vermittelt durch eine Behörde, deren Amtsführung diesen rechtsstaatlichen Grundsätzen zu genügen hat. Dies wirft die Frage auf, inwieweit das strafrechtliche Notwehrrecht strukturell überhaupt dazu geeignet ist, im Falle eines Konflikts zwischen Versammlung und Dritten den Rechtsgüterausgleich herzustellen, der angesichts der berührten Grundrechte verfassungsrechtlich gefordert ist. Private, die Notwehr ausüben, unterliegen nicht denselben rechtsstaatlichen Verpflichtungen wie die Versammlungsbehörde. Sie handeln nicht mit dem Ziel, kollidierende Positionen einem gerechten Ausgleich zuzuführen, sondern verfolgen eigene Interessen. Der Notwehr fehlen Mechanismen zum Rechtsgüterausgleich, die denen des Versammlungsrechts vergleichbar sind, wie jener der umfassenden Güterabwägung.[29] Unabhängig vom Ergebnis des Ausgleichs fehlt Privaten auch die Verpflichtung, die Grundrechte der Versammlungsteilnehmer beim Verfahren zu berücksichtigen. Die Auflösung der fraglichen Grundrechtskollisionen kann aus diesen Gründen nicht einseitig einer der beiden Seiten von Rechtsträgern zugewiesen werden, sondern nur unabhängigen Behörden.[30] Das Notwehrrecht ist damit strukturell nur unzureichend geeignet, den verfassungsrechtlichen Anforderungen an einen Grundrechtsausgleich und eine Einschränkung der Versammlungsfreiheit gerecht zu werden.

Daraus ergibt sich für diese Konstellationen ein Primat des öffentlich-rechtlichen Versammlungsrechts. Hat sich die Versammlungsbehörde mit einer bestimmten Versammlung befasst und eine Entscheidung im Rahmen der versammlungsrechtlichen Befugnisse getroffen, geht diese Entscheidung, unabhängig ihres Inhalts, anderen versammlungsspezifischen Einschränkungsmöglichkeiten, welche die Rechtsordnung bieten mag, vor; dies schließt die Ausübung von Notwehr nach § 32 StGB ein. Das bedeutet, dass in den Konstellationen, in denen eine Versammlungsbehörde die Auflösung einer Versammlung verfügt hat, eine Notwehr daneben zumindest gegenüber versammlungsspezifischen Auswirkungen der aufgelösten Versammlung nicht in Betracht kommt.[31] Hat sich die Versammlungsbehörde hingegen dazu entschieden, nicht gegenüber einer Versammlung einzuschreiten, sperrt auch diese Entscheidung die Ausübung von Notwehrbefugnissen durch Private. Es wäre mit der grundrechtlichen Versammlungsfreiheit nicht vereinbar, wenn eine Versammlung, die von der Versammlungsbehörde (gemäß § 15 VersG auch unter Berücksichtigung entgegenstehender privater Rechte) als zulässig eingeordnet wird, durch Private unter Berufung auf § 32 StGB behindert oder gar faktisch aufgelöst wird. Für eine Notwehr bleibt potenziell nur dann Raum, wenn die Versammlungsbehörde gar keine Entscheidung (welchen Inhalts auch immer) getroffen hat, weil sie z.B. nicht zur Verfügung steht.

Das Primat des Versammlungsrechts stellt sicher, dass die Versammlungsbehörden ihre Zuständigkeit wahrnehmen können. Dies führt zur Gewährleistung der oben angesprochenen rechtsstaatlichen Strukturen, wie Grundrechtsbindung der öffentlichen Gewalt, Prinzip der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung und Grundrechtsschutz durch Verfahren. Dieses Primat des Versammlungsrechts bewirkt keine strenge versammlungsrechtliche Akzessorietät, sondern einen Vorrang tatsächlich vorhandener versammlungsrechtlicher Entscheidungen. Für die strafrechtliche Notwehr bedeutet dies, dass diese nur dann in Betracht kommen kann, wenn die zuständige Versammlungsbehörde noch keine Entscheidung getroffen hat, wobei der Inhalt der Entscheidung keine Rolle spielt. Davon zu trennen ist allerdings weiter die Frage, ob überhaupt und ab welchem Zeitpunkt – bei Abwesenheit einer behördlichen Entscheidung – Notwehr im Falle von Versammlungen ausgeübt werden kann.

c) Rechtswidriger Angriff gemäß § 32 Abs. 2 StGB und Nötigung gemäß § 240 StGB

Der für eine Notwehr nach § 32 StGB notwendige rechtswidrige Angriff könnte dann gegeben sein, wenn es sich bei einer Straßenblockade um eine Nötigung gemäß § 240 StGB handeln würde. Diese Qualifizierung von Straßenblockaden durch Klimaaktivisten als Nötigung wird intensiv diskutiert und fokussiert sich dabei insbesondere auf das Merkmal der Verwerflichkeit gemäß § 240 Abs. 2 StGB.

Die Rechtsprechung zum Nötigungscharakter von Versammlungen kann auf eine lange Tradition zurückblicken und das BVerfG hat seit den 1980er Jahren immer wieder zu diesem Fragenkreis Stellung genommen.[32] 2001 hat das BVerfG näher spezifiziert, unter welchen Voraussetzungen eine Versammlung mit Blockadewirkung, die bei Dritten zu einer Beeinträchtigung der Fortbewegungsfreiheit führt, als verwerflich i.S.d. § 240 Abs. 2 StGB eingestuft werden kann.[33] Dabei kommt es auf die näheren Umstände der Versammlung sowie auf Art und Maß der Auswirkungen auf Dritte und deren Grundrechtsausübung an: „Wichtige Abwägungselemente sind unter anderem die Dauer und Intensität der Aktion, deren vorherige Bekanntgabe, Ausweichmöglichkeiten über andere Zufahrten, die Dringlichkeit des blockierten Transports, aber auch der Sachbezug zwischen den in ihrer Fortbewegungsfreiheit beeinträchtigten Personen und dem Protestgegenstand“.[34] Für die Sozialverträglichkeit eines Protests spricht außerdem, wenn „die äußere Gestaltung und die durch sie ausgelösten Behinderungen in einem Zusammenhang mit dem Versammlungsthema [stehen] oder […] das Anliegen auch die von der Demonstration nachteilig Betroffenen [betrifft]“.[35]

Die Fernziele der fraglichen Versammlung bzw. der Wert des inhaltlichen Sachanliegens, also etwa Klimaschutz, werden auf einer grundrechtlichen Ebene,[36] wie auch sonst bei Kommunikationsgrundrechten, von staatlichen Stellen nicht bewertet. Nach der Rechtsprechung wird allenfalls das Verhältnis i.S. einer inneren Stimmigkeit von Fernziel und Versammlungsmodalitäten berücksichtigt, nicht aber der Wert des Fernziels. In einer der maßgeblichen Entscheidungen des BVerfG zum Nötigungscharakter von Sitzdemonstrationen, die mit einem Patt auf der Richterbank entschieden wurde, zog die sich nicht durchsetzende Senatshälfte in Betracht – unter Anlehnung an die Meinungsfreiheit –, dass die Verwerflichkeit i.S.d. § 240 Abs. 2 StGB umso eher abzulehnen sei, „je weniger es sich um unmittelbar gegen ein privates Rechtsgut gerichtete Äußerungen im privaten, namentlich im wirtschaftlichen Verkehr und in Verfolgung eigennütziger Zwecke und je mehr es sich um einen Beitrag zum Meinungskampf in einer die Öffentlichkeit wesentlich berührenden Frage handelt“.[37] Dieser Ansatz wurde, soweit ersichtlich, bislang nicht weiterverfolgt.[38] Für Anliegen zum Klima- und Umweltschutz besteht allerdings mit Art. 20a GG eine konkrete normative Verankerung und staatliche Verpflichtung auf Verfassungsebene und es kann nicht gänzlich ausgeschlossen werden, dass sich dies zukünftig auch noch beim Umgang mit einem entsprechenden Fernziel Klima- und Umweltschutz auswirken wird.[39]

Eine konkrete Beurteilung von Straßenblockaden anhand der Kriterien des BVerfG ist an dieser Stelle nicht möglich, aber es lassen sich generelle Strukturen und Richtungen aufzeigen. Ein Zusammenhang zwischen dem Versammlungsanliegen, der Versammlungsform und dem betroffenen Personenkreis besteht typischerweise, weil bei den Straßenblockaden regelmäßig verkehrspolitische Anliegen artikuliert werden. Ausweichmöglichkeiten für die betroffenen Verkehrsteilnehmer bestehen im Prinzip, doch können diese mitunter wegen der auftretenden Verkehrsstörungen schwer oder gar nicht zu realisieren sein. Für die Intensität der Blockade ist der Anknüpfungspunkt nicht vollends klar. Im Hinblick auf den Umfang der Sperrung wird diese zwar vom Ort der Blockade abhängen, tendenziell aber eher hoch zu bewerten sein, im Hinblick auf die individuelle Betroffenheit demgegenüber geringer, auch wenn dies von der individuellen Situation der Blockierten abhängig ist. Ebenso wenig pauschal beurteilt werden kann die Dringlichkeit des blockierten Verkehrs. Nach Aussagen von Versammlungsteilnehmern scheinen für Notfälle zumindest zum Teil Rettungsgassen vorgehalten werden, mitunter scheinen sich die Teilnehmer auch erst beim Eintreffen der Polizei anzukleben; solche Aspekte wären zu berücksichtigen. Was Ausweichmöglichkeiten und individuelle Intensität angeht, kann zu berücksichtigen sein, dass zumindest in Städten andere (öffentliche) Verkehrsmöglichkeiten zur Verfügung stehen, auch wenn das eigene blockierte Verkehrsmittel häufig nicht an Ort und Stelle stehen gelassen werden kann. Angesichts dieser Umstände, der Bedeutung der grundrechtlichen Versammlungsfreiheit aber auch der gewöhnlichen, durchschnittlichen Fahrzeitverzögerung, die ohnehin in deutschen Großstädten aufgrund der bestehenden Verkehrsdichte in Kauf genommen werden muss, erscheinen jedenfalls Blockaden, die weniger als 30 Minuten andauern, im Grundsatz als nicht verwerflich.

Daran dürfte sich nichts wesentlich ändern, wenn sich die Versammlungsteilnehmer derart fest mit der Straße verbinden, dass von vornherein klar ist, dass innerhalb der Zeitspanne, in der die Straßenblockade nicht verwerflich ist, eine Ablösung nicht möglich ist. Unberücksichtigt bleibt hier, ob Dritte überhaupt in der Lage sind, solche Situationen eindeutig festzustellen. In solchen Fällen mag die Beurteilung der Blockade als verwerflich nur eine Frage der Zeit sein, dies erlaubt aber nicht die Vorverlagerung der Notwehrausübung oder eine Abkehr vom Primat des Versammlungsrechts, weil die vorzunehmende Abwägung auch dem Schutz der Versammlungsfreiheit und ihrer Träger dient und auch sicherstellt, dass auf eine Versammlung mit versammlungsspezifischen Eingriffsbefugnissen reagiert wird. Da die Dauer der Beeinträchtigung sowie die Dringlichkeit der verhinderten Fortbewegung zu berücksichtigende Kriterien sind, bedeutet dies, dass eine Versammlung mit Ablauf einer bestimmten Zeit verwerflich werden kann, auch wenn dieser Zeitpunkt nicht pauschal bestimmbar ist. Die Situation vor Ort weicht hier elementar von derjenigen ab, die Gerichte vorfinden, wenn sie nachträglich ein Versammlungsgeschehen beurteilen.

d) Fazit 

Im Vergleich des Auflösungstatbestands des § 15 VersG und der im Lichte des Verfassungsrechts ausgelegten und angewendeten Nötigungsvoraussetzungen werden die Voraussetzungen einer Auflösung relativ zügig bestehen, eine verwerfliche Nötigung hingegen wird man erst nach einer gewissen Zeitspanne annehmen können. Neben das normative Primat des Versammlungsrechts dürfte damit typischerweise auch ein faktischer Vorrang des Versammlungsrechts treten.

Im Ergebnis bedeutet dies für die Befugnis zur Notwehr, dass Entscheidungen der Versammlungsbehörde Vorrang genießen. Fehlt es an einer solchen Entscheidung, stellen Versammlungen unterhalb der (zeitlichen) Verwerflichkeitsschwelle keinen rechtswidrigen Angriff dar und eine Notwehr ist deshalb ausgeschlossen. Kommt es hingegen zum Überschreiten der (zeitlichen) Verwerflichkeitsschwelle, kann davon ausgegangen werden, dass in deutschen (Groß-)Städten die Polizei schon vor Ort ist und eine Notwehr deshalb nicht mehr erforderlich ist. Faktisch wird also eine Notwehr gegenüber Straßenblockaden in aller Regel ausgeschlossen sein, entweder weil die Blockade nicht verwerflich ist oder weil polizeiliche Hilfe vor Ort verfügbar ist und diese der privaten Notwehrausübung vorgeht. Eine Notwehr gegenüber einer Blockade, die nicht strafbar ist und sich als rechtmäßige Grundrechtsausübung darstellt, ist unzulässig. Schließlich wäre zu berücksichtigen, dass eine Bewertung der Situation anhand der vom BVerfG aufgestellten Kriterien für die Masse der beeinträchtigten Verkehrsteilnehmer nicht möglich ist.

IV. Einschränkung des Notwehrrechts bei Einsatz gegenüber der Versammlungsfreiheit?

Darüber hinaus ist für die Ausübung der Notwehr auch im Übrigen die Bedeutung der Versammlungsfreiheit zu berücksichtigen. Wie festgestellt weist das Notwehrregime, soll es zur Auflösung einer Grundrechtekollision eingesetzt werden, strukturelle Defizite auf.

Die Ausübung einer Notwehr nach § 32 StGB aufgrund einer Nötigung gemäß § 240 StGB führt zu einer Einschränkung der Versammlungsfreiheit des Art. 8 GG. Als Konsequenz ist auch diese einfachgesetzliche Einschränkungsmöglichkeit nicht nur unter Berücksichtigung der allgemeinen Handlungsfreiheit der Notwehrausübenden, sondern auch der Versammlungsfreiheit auszulegen und anzuwenden. Dabei sind die dargestellten strukturellen Defizite zu berücksichtigen. Systemwidrig dürfte es sein, die besondere Bedeutung der Versammlungsfreiheit dergestalt zu berücksichtigen, dass das Vorliegen der Voraussetzungen des § 240 StGB zwar zu einer Strafbarkeit führt, nicht aber zu einem notwehrfähigen Angriff i.S.d.
§ 32 StGB. Abstufungen bei der Notwehrausübung er-scheinen prinzipiell zwar denkbar, dürften jedoch im Geflecht von Straßenblockaden und geeigneten Maßnahmen nur schwer möglich sein. Die Ausübung der Notwehr mit geringerer Intensität wird bei einer Straßenblockade regelmäßig nicht geeignet und zielführend sein.

Möglicherweise könnte in Erwägung gezogen werden, dass ein Notwehrrecht schon dann ausscheidet, wenn polizeiliche Hilfe ohne weiteres herbeigerufen werden kann.[40] Dies wäre in Fällen einer Straßenblockade im städtischen Umfeld zur Tageszeit grundsätzlich anzunehmen. Es scheint praktisch jedenfalls nur eine Frage kurzer Zeit zu sein, bis die Polizei in solchen Situationen vor Ort ist. Daneben könnte diskutiert werden, ob kurzfristige Einschränkungen einer bestimmten Form der Fortbewegung, ohne dass die Fortbewegungsmöglichkeiten betroffener Personen insgesamt aufgehoben werden, die Gebotenheit der Notwehr einschränken, sofern deren Wahrnehmung ansonsten die Ausübung der Versammlungsfreiheit faktisch verhindern würde.[41]

V. Ergebnis

Die strafrechtliche Notwehr ist kaum zur Reaktion auf Straßenblockaden geeignet. Dies gilt sowohl normativ, weil dem Instrument, zumindest im Ausgangspunkt, notwendige Strukturen fehlen, um die zugrunde liegenden Grundrechtskollisionen in verfassungsrechtlich vorgesehener Art und Weise zu einem Ausgleich zu bringen. Dies gilt aber auch faktisch, weil typischerweise polizeiliche Hilfe in einer derart kurzen Zeit verfügbar ist, dass die Rechtsprechung des BVerfG keine Bewertung einer Straßenblockade, die von der Versammlungsfreiheit geschützt ist, als Nötigung zulässt. Insofern besteht zwar keine strenge Akzessorietät an die versammlungsrechtliche Rechtslage, wohl aber ein Primat behördlicher Maßnahmen. Medienwirksame Meinungsbeiträge, die gleichwohl einer Notwehrausübung von beeinträchtigten Verkehrsteilnehmer das Wort reden, schenken einseitig nur strafrechtlichen Erwägungen Aufmerksamkeit und blenden die dem Strafrecht übergeordneten verfassungsrechtlichen Grundlagen und Wertungen aus.[42] Es ist beruhigend, dass die Praxis unaufgeregter zu Werke schreitet: In Berlin wird gegen 99 Autofahrer und Passanten wegen Übergriffen gegen Klimaaktivisten, die Straßen blockiert haben, ermittelt (Stand 28.7.23). In jedem Fall prüft die Staatsanwaltschaft, ob es sich um Notwehr handelt. Bislang wurde diese in keinem Fall bejaht.[43]

 

[1]      Rechtswissenschaftlich dazu Gafus, Gewaltfantasien und Gewaltmonopol, Verfassungsblog, online abrufbar unter: https://verfassungsblog.de/gewaltfantasien-und-gewaltmonopol/ (zuletzt abgerufen am 1.10.23); Mitsch, DAR 2023, 234 (235 f.); Preuß, NZV 2023, 60 (72 ff.).
[2]      Ausführlich dazu Ernst, in: von Münch/Kunig, GG, 7. Aufl. (2021), Art. 8 Rn. 10 ff.
[3]      BVerfGE 69, 315 (345); Kaiser, in: Dreier, GG, 4. Aufl. (2023), Art. 8 Rn. 20.
[4]      BVerfGE 69, 315 (Ls. 1, 344, 346); 128, 226 (250).
[5]      BVerfG, NVwZ 2020, 711 (Rn. 18); Blanke, in: Stern/Becker, GG, 3. Aufl. (2019), Art. 8 Rn. 20. Überzeugend gegen einen Schutz von virtuellen Zusammenkünften AG Frankfurt a. M., MMR 2005, 863 (866); Depenheuer, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, 101. EL (Mai 2023), Art. 8 Rn. 46; Schneider, in: BeckOK-GG, 56. Ed. (15.8.2023), Art. 8 Rn. 11.3; a.A. Möhlen, MMR 2013, 221 (227 ff.); Giesen/Kersten, NZA 2018, 1 (6).
[6]      Ernst, in: von Münch/Kunig, GG, Art. 8 Rn. 10; vgl. BVerfGE 69, 315 (345); Gusy, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG, 7. Aufl. (2018), Art. 8 Rn. 10.
[7]      Ernst, in: von Münch/Kunig, GG, Art. 8 Rn. 14; vgl. Gusy, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 8 Rn. 11.
[8]      BVerfGE 69, 315 (343 ff.); Hoffmann-Riem, in: Denninger, GG, 3. Aufl. (2002), Art. 8 Rn. 5.
[9]      Vgl. Hoffmann-Riem, in: Denninger, GG, Art. 8 Rn. 8.
[10]    BVerfGE 69, 315 (343); 87, 399 (406); 104, 92 (108, 111); 110, 77 (90); 128, 226 (251).
[11]    Allgemein BVerfG, NVwZ 2011, 422 Rn. 19; BVerfG, NVwZ 2017, 461 Rn. 110.
[12]    Zur Bedeutung der Anmeldepflicht des § 14 VersG Ernst, in: von Münch/Kunig, GG, Art. 8 Rn. 88 m.w.N.
[13]    BVerfG, NVwZ 2005, 80 (81); BVerwGE 82, 34 (38); 129, 142 Rn. 30; VGH Mannheim, NVwZ 1998, 761 (763); Kniesel, in Dietel/Gintzel/ders., Versammlungsgesetze, 18. Aufl. (2019), Teil I Rn. 392 ff.; Hoffmann-Riem, in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte IV (2011), § 106 Rn. 101 ff.
[14]    Für die Abwehr versammlungsunspezifischer Gefahren gilt der Vorrang wegen Spezialität des Versammlungsrechts nicht und es kommen auch andere Rechtsgrundlagen in Betracht, etwa das allgemeine Ordnungsrecht oder das Baurecht.
[15]    BVerfGE 104, 92 (104); 111, 147 (154); 128, 226 (250); 143, 161 Rn. 110; BVerfG, NVwZ 2004, 1453 Rn. 11; BVerwGE 129, 42 Rn. 15.
[16]    Vgl. BVerfGE 69, 315 (353); Gusy, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Art. 8 Rn. 77; Kaiser, in: Dreier, GG, Art. 8 Rn. 33.
[17]    BVerfGE 73, 206 (248); 76, 211 (215 ff.); 87, 399 (406); 104, 92 (104 f.); BVerfGK 11, 102 (114); Höfling, in: Sachs, GG, 9. Aufl. (2021), Art. 8 Rn 33; Jarass in: Jarass/Pieroth, GG, 17. Aufl. (2022), Art. 8 Rn. 8; a.A. Depenheuer, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 8 Rn. 66. Fehlt es an der passiven Resistenz, droht die Unfriedlichkeit der Versammlung und damit der Verlust des grundrechtlichen Schutzes.
[18]    BVerfGE 104, 92 (102); Gusy, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 8 Rn. 79a; Höfling, in: Sachs, GG, Art. 8 Rn. 34.
[19]    BVerfGE 104, 92 (106).
[20]    BVerfGE 104, 92 (106).
[21]    Nachweise bei Momsen/Savic, in: BeckOK-StGB, 58 Ed. (1.8.2023), § 32 Rn. 22.
[22]    Für den Schutz ausschließlich privater Rechte findet sich z.B. im allgemeinen Polizei- und Ordnungsrecht eine Subsidiaritätsklausel der öffentlich-rechtlichen Eingriffsbefugnisse gegenüber der privaten Rechtsverfolgung vor der Zivilgerichtsbarkeit, vgl. Bäcker, in: Lisken/Denninger, Handbuch Polizeirecht, 7. Aufl. (2021), Kap. D Rn. 14 f. Diese Subsidiaritätsklausel hilft hier aber nicht weiter.
[23]    Vgl. BVerfGE 69, 315 (351); Wittmann, in: Ridder/Breitbach/Deiseroth (Hrsg.), Versammlungsrecht, 2. Aufl. (2020), § 15 Rn. 597 ff.
[24]    Vgl. für das Strafverfahren insgesamt BVerfGE 104, 92 (111).
[25]    BVerfGE 104, 92 (107).
[26]    Allgemein zum Grundrechtsschutz durch Verfahren BVerfGE 53, 30 (65 ff.); Denninger, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. IX, 3. Aufl. (2011), § 193; Schmidt-Aßmann, in: Lerche/Schmitt Glaeser/Schmidt-Aßmann, Verfahren als staats- und verwaltungsrechtliche Kategorie, 1984, S. 1 ff.
[27]    So Weichert, StV 1989, 459 (460) zur Verwerflichkeitsprüfung im Rahmen des § 240 StGB; Hofmann-Hoeppel, DÖV 1992, 867 (874). Ebenso Renzikowski, in: Ridder/Breitbach/Deiseroth, Versammlungsrecht, § 240 StGB Rn. 65. In diese Richtung auch Brohm, JZ 1985, 501 (509); Schieder, BayVBl. 2004, 678 (686 f.); vgl. auch Knemeyer, NJW 1992, 3131 (3135).
[28]    Nicht ganz eindeutig Gafus, Gewaltfantasien und Gewaltmonopol, Verfassungsblog, online abrufbar unter: https://verfassungsblog.de/gewaltfantasien-und-gewaltmonopol/ (zuletzt abgerufen am 1.10.23), nach dem es an der Rechtswidrigkeit i.S.d. § 32 StGB fehlt, „wenn sich ihre Teilnehmer im Rahmen des ihnen von Art. 8 GG Erlaubten bewegen“.
[29]    Vgl. Perron/Eisele, in: Schönke/Schröder, StGB, 30. Aufl. (2019), § 32 Rn. 34; Momsen/Savic, in: v. Heintschel-Heinegg, StGB, § 32 Rn. 27.1.
[30]    Vgl. Hoffmann-Riem, Versammlungsrecht, in: Merten/Papier (Fn. 13), § 99 Rn. 95.
[31]    Ob dies auch für die Verteidigung gegenüber individuellen Angriffen unabhängig vom ursprünglichen Versammlungsgepräge gilt, ist eine Frage des Vorliegens der Notwehrvoraussetzungen im Einzelfall. Solche im Verhältnis zum ursprünglichen Versammlungsgepräge „zusätzlichen“ Angriffe unterfallen jedenfalls nicht dem skizzierten Primat des öffentlich-rechtlichen Versammlungsrechts. Dieses gilt nur für das ursprüngliche Versammlungsgepräge und im Umfang des behördlichen Entscheidungsrahmens.
[32]    Vgl. Ernst, in: von Münch/Kunig, GG, Art. 8 Rn. 59 m.w.N.
[33]    BVerfGE 104, 92 (112).
[34]    BVerfGE 104, 92 (112); ebenso BVerfG, NJW 2011, 3020 Rn. 39; OLG Karlsruhe, NStZ 2016, 32 Rn. 10.
[35]    BVerfG, NJW 2011, 3020 Rn. 39.
[36]    Zur Frage der Berücksichtigung im Rahmen des einfachgesetzlichen Tatbestands der Nötigung Preuß, NZV 2023, 60 (68 f.).
[37]    BVerfGE 73, 206 (258).
[38]    Ablehnend BVerfGE 104, 92 (112); BVerfG, NJW 2011, 3020 Rn. 39.
[39]    In diese Richtung Eisele, in: Schönke/Schröder, StGB, § 240 Rn. 29a m.w.N., der empfiehlt, die „soziale Gewichtigkeit“ des kommunizierten Inhalts in die Abwägung einzubeziehen.
[40]    Gafus, Gewaltfantasien und Gewaltmonopol, Verfassungsblog, online abrufbar unter: https://verfassungsblog.de/gewaltfantasien-und-gewaltmonopol/ (zuletzt abgerufen am 1.10.23). Vgl. zu dieser Diskussion Perron/Eisele, in: Schönke/Schröder, StGB, § 32 Rn. 41 m.w.N.
[41]    Gafus, Gewaltfantasien und Gewaltmonopol, Verfassungsblog, online abrufbar unter: https://verfassungsblog.de/gewaltfantasien-und-gewaltmonopol/ (zuletzt abgerufen am 1.10.23); dem folgend Preuß, NZV 2023, 60 (73).
[42]    Exemplarisch Fischer, LTO, Notwehr gegen Blockade-Demonstranten?, online abrufbar unter: https://www.lto.de/recht/meinung/m/frage-an-fischer-notwehrrecht-klimaaktivisten-blockade/ (zuletzt abgerufen am 1.10.23).
[43]    RBB 24, online abrufbar unter: https://www.rbb24.de/panorama/beitrag/2023/07/berlin-letzte-generation-aggressive-autofahrer-keine-notwehr-angriffe-auf-aktivisten.html (zuletzt abgerufen am 1.10.23).

 

 

 

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