Dominik Brodowski: Die Evolution des Strafrechts. Strafverfassungsrechtliche, europastrafrechtliche und kriminalpolitische Wirkungen auf Strafgesetzgebung

von Prof. Dr. Anja Schiemann

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2023, Nomos, ISBN: 978-3-8487-8676-3, S. 850, Euro 189,00.

Die monumentale Habilitationsschrift von Brodowski untersucht die strafverfassungsrechtlichen, europarechtlichen und kriminalpolitischen Wirkmechanismen, die die aktuelle „Evolution“, d.h. die Entwicklung des Strafgesetzbuchs in Deutschland, prägen (S. 35).

Begonnen wird mit Vorbemerkungen zu den Säulen des Verfassungsrechts, der Kriminalpolitik und Strafgesetzgebung, bevor im zweiten Teil „Statisches und Dynamisches im Strafrecht“ beschrieben wird (S. 79). § 1 begibt sich auf die „Spurensuche“ danach, welche Wirkmechanismen dafür verantwortlich sind, dass in etlichen Teilen des Strafgesetzbuchs eine große legistische Trägheit herrscht (S. 81). So folge aus der unbefristeten Fortgeltung des Strafgesetzbuches eine reduzierte Möglichkeit, einzelne Strafvorschriften einer verfassungsrechtlichen Überprüfung zuzuführen (S. 87).

Letztlich führe dies wiederum zu einer konservierenden „Versteinerung“ des Gesetzes. Diese Eigenschaft des Strafrechts trage zwar zur Rechtssicherheit und damit zum Rechtsfrieden bei, müsse aber mit anderen Faktoren wie der Anpassung des Rechts und dessen demokratische Legitimation in Ausgleich gebracht werden (S. 91). Kritisch sieht Brodowski vor allem den (vermuteten) politischen Konsens im Sinne einer „polity“, Strafgesetze der vorangegangenen Legislaturperiode grundsätzlich unangetastet zu lassen (S. 97).

Sodann nimmt der Verfasser ausführlich die Konstitutionalisierung des Allgemeinen Teils des Strafgesetzbuchs in den Blick (S. 97 ff.) und kommt zu dem Ergebnis, dass explizite und implizite strafverfassungsrechtliche Vorgaben an den Allgemeinen Teil ebenso wenig wie der kriminalpolitische Rahmen erklären können, warum in diesem Bereich des Strafgesetzbuchs selten gravierende legislative Änderungen zu verzeichnen sind. Brodowski deutet dies im Sinne einer prozeduralen Konstitutionalisierung, die es erschwere, ausdifferenzierte und überzeugend begründete dogmatische Konstruktionen des Allgemeinen Teils ohne hinreichende Begründung über Bord zu werfen (S. 174 f.). Hier fragt man sich natürlich, ob es solche hinreichenden Begründungen in der Strafrechtswissenschaft zur Reformierung des Allgemeinen Teils nicht schon längst gibt, diese aber von der Gesetzgebung über die Jahrzehnte hinweg ignoriert werden.

Anschließend wird der Besondere Teil des Strafgesetzbuchs dahingehend untersucht, inwieweit strafverfassungsrechtliche und kriminalpolitische Pönalisierungspflichten  und  -obliegenheiten Änderungen hemmen  oder verhindern. Eine Pönalisierungspflicht nimmt der Verfasser an, soweit eine klare und verbindliche Vorgabe einer Kriminalisierung und deren nähren Ausgestaltung besteht. Um eine Pönalisierungsobliegenheit handele es sich, soweit Alternativen und Ausweichmechanismen dem Gesetzgeber zur Verfügung bleiben (S. 175).

Es wird festgestellt, dass sich diesbezüglich ein ausgesprochen differenziertes Bild ergibt. Dieses werde zusätzlich dadurch überlagert, dass innerhalb eines an sich bestehenden Handlungsspielraums weitere Mechanismen hemmend bzw. statisierend wirkten – neben der Rechtsförmlichkeit und Dauerhaftigkeit von Gesetzen an sich namentlich die Verfügbarkeit von Ausweichmechanismen und eine kriminalpolitisch fundierte Strafrechtskontinuität (S. 235 f.).

Pönalisierungspflichten des Unionsrechts, des Völkervertrags- und Völkergewohnheitsrechts sowie kriminalpolitisch wirksame supra- und multinationale Mechanismen, so der Verfasser, wirkten ab ihrer Umsetzung im Strafgesetzbuch versteinernd. Sie seien in hohem Maße fragmentarisch und beträfen vorrangig moderne, in Entwicklung befindliche Straftatbestände aus dem Bereich des Umweltstrafrechts, des IT-Strafrechts und des Korruptions- und Terrorismusstrafrechts. Allerdings weist Brodowski zu Recht darauf hin, dass die Versteinerungswirkung ab ihrer Umsetzung zu unterscheiden ist von dem Zeitpunkt bis zu und durch ihre Umsetzung. Hier werde eine wesentliche Dynamik freigesetzt, nach der Einflussmöglichkeiten auch der nationalen Parlamente bestünden (S. 236 f.). Auf diesen Befund kann nicht oft genug hingewiesen werden. Gerade die nationale Strafrechtswissenschaft nimmt bspw. europäische Entwicklungen viel zu zögerlich und oft verspätet wahr, so dass eine wirkungsvolle Einflussnahme häufig am Zeitablauf scheitert. Es reicht nicht aus, die Umsetzung entsprechender europäischer Richtlinien zu kritisieren, wenn man die Kritik an der Richtline versäumt hat.

In einem weiteren Unterkapitel werden Pönalisierungsgrenzen und -hemmnisse beschrieben. Der Verfasser kommt zu dem Ergebnis, dass das Strafverfassungsrecht und kriminalpolitische „polity“ nur in geringem Maße mittels Strafrechtsbegrenzung zur Statik des Strafgesetzbuchs beitragen. Zwar unterliege die in einer jeden Strafvorschrift enthaltene Verhaltensnorm voller verfassungsrechtlicher Kontrolle, doch sei dies keine strafrechtsspezifische Begrenzung. Es bestehe vielmehr im Hinblick auf die Verhaltensnorm ein weiter kriminalpolitischer Handlungsspielraum, der aber nationale Grundrechte sowie aus dem Unionsrecht folgende Begrenzungen zu beachten habe. Dagegen erwiesen sich herkömmliche strafrechtliche Argumentationsmuster der gesetzgebungskritischen Rechtsgutslehre und der Verhältnismäßigkeit der Sanktionsnorm sowie des Ultima-Ratio-Prinzips in weiten Teilen als bloße kriminalpolitische Forderungen. Allerdings seien die Begrenzungsansätze des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes und des Ultima-Ratio-Prinzips einer Evidenzkontrolle durch das BVerfG zugänglich – ansonsten verbleibe es bei einem weiten kriminalpolitischen Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers (S. 275).

Als weitere Ursache für die geringe Änderungsrate des Strafgesetzbuchs und dessen Statik identifiziert Brodowski die Verfügbarkeit von Ausweichmechanismen. Er geht daher in diesem Unterkapitel der Frage nach, warum der Gesetzgeber das Strafgesetzbuch nicht verändern will, obwohl er es verfassungsrechtlich und kriminalpolitisch dürfte (S. 276). Als Grund nennt er andere materiell-rechtliche und prozessuale Wege, da sich auch durch außerstrafrechtliche „Sicherheitsgesetzgebung“ und nebenstrafrechtliche Strafrechtssetzung sowie durch Steuerung der Ressourcen, die dem Kriminaljustizsystem zur Verfügung stehen, eine Vielzahl kriminalpolitischer Inhalte verwirklichen ließen, ohne in das Strafgesetzbuch einzugreifen (S. 295 f.).

Grund für die mangelnde Bereitschaft, das Strafgesetzbuch zu verändern, sieht der Verfasser in fehlenden politisch wirksamen Anreizen für Tatbestandsstreichungen und Strafrechtsmilderungen. Insofern spiegele die Statik letztlich auch die an Umfrageergebnissen orientierte Parteipolitik wider (S. 309). Schaut man auf das aktuelle Eckpunktepapier zur Modernisierung des Strafgesetzbuchs,[1] so wird diese Statik nicht unbedingt aufgelöst, sondern primär nur eine Entrümpelung des Strafrechts von entbehrlichen Tatbeständen vorangetrieben, die mit einer wahren Modernisierung nicht viel zu tun hat.

In § 2 setzt sich Brodowski mit dem dynamischen Strafrecht auseinander und nimmt hierzu die 13. bis 19. Legislaturperiode in den Blick.[2] In einer Zeitspanne von knapp 27 Jahren erfolgten 160 Textänderungen des Strafgesetzbuchs. Der Verfasser begibt sich daher auf die „Spurensuche“, welche strafverfassungsrechtlichen und kriminalpolitischen Wirkmechanismen bzw. Bedingungen Änderungen fördern oder bedingen und so zur „Dynamik“ des Strafgesetzbuches beitragen (S. 311).

Ursache von Strafgesetzgebung könne zunächst jedes von den Akteuren der Politik neu erkannte, geänderte oder aktualisierte Ziel einer Verhaltensregulierung sein, dessen Verwirklichung durch Strafgesetzgebung zumindest als möglich erscheint (S. 342). Dabei komme der Verfassungsorientierung von Strafgesetzgebung eine wichtige Filterfunktion zu. Zudem müsse eine allgemeine Kontinuität von Gesetzgebung auch in Zeiten politischen Wandels gegeben sein (S. 343). Letztlich komme als Ursache von Strafgesetzgebung nur eine Verhaltensregulierung in Betracht, die mit den jeweils von den politischen Akteuren verfolgten kriminalpolitischen Inhalten in Übereinstimmung ist. Hier spielten auch Kosten-Nutzen-Abwägungen eine Rolle, welcher politische Gewinn in erhöhten oder verfestigten Wählerstimmen durch die Verfolgung politischer Maßnahmen zu erwarten ist (S. 344).

Im Folgenden werden wichtige Fallgruppen aktueller Gesetzgebung zur Verhaltensregulierung beschrieben und geänderte Strafrechtskonzepte vorgestellt (S. 345 ff.). Festgestellt wird abschließend, dass die Ursachen selten in Reinform zutage treten, sondern häufig in Mischformen (S. 355).

Als Auslöser von Strafrechtsänderungen nennt der Verfasser neben Leitentscheidungen der Rechtsprechung, die Vorgaben bspw. zur Auslegung gesetzlicher Regelungen machen, aktuelle Kriminalitätsereignisse. Gerade letztere seien als Auslöser problematisch, weil die Reaktion der Gesetzgebung hierauf zwangsläufig zu einer weiter eskalierenden Expansion, Schärfung und Intensivierung des Strafrechts führe (S. 361). Daneben könne europäisches und internationales Strafrecht Auslöser für deutsche Gesetzgebung sein, ebenso wie Evaluationen oder auch ein politischer Machtwechsel. Des Weiteren könnten außerstrafrechtliche Rechtssetzungen ebenfalls Einfluss auf die Strafrechtsgesetzgebung nehmen.

Als handlungsleitende Motivation der Akteure der Strafgesetzgebung identifiziert Brodowski die Normkonformität, danach den politischen Gestaltungswillen und den Willen zum Erhalt bzw. zur Steigerung politischer Macht (S. 369 ff.).

In § 3 wird nach einer kurzen Conclusio der Erkenntnisse von § 1 und § 2 die „Evolution“ des Strafrechts als Zusammenspiel von statischen, trägen Teilen des Strafgesetzbuchs und dynamischen Teilen beschrieben. In statischen Bereichen sei es schwer, überkommene Strafrechtsverständnisse zu überarbeiten, wie bspw. im Bereich der Tötungsdelikte. Dagegen könnten sich moderne Strafrechtsverständnisse gerade in denjenigen Bereichen durchsetzen, die eine hohe Dynamik aufwiesen, wie bspw. in Bereichen des europäischen Strafrechts oder bei neuartigen Kriminalitätsphänomenen (S. 378 f.).

Brodowski stellt eine Asymmetrie hinsichtlich der politischen Anreize für Änderungen des Strafgesetzbuches, die Strafschärfungen, Strafrechtsexpansionen und Strafrechtsintensivierungen zum Inhalt haben, fest. Solche Änderungen seien deutlich leichter durchzusetzen als Strafmilderungen, Strafrechtsreduktionen und Strafrechtsrelativierungen. Außerdem zeige sich eine ungleiche Verteilung hinsichtlich der betroffenen Regelungsbereiche. Es bedürfe, so der Verfasser, im materiellen Strafrecht insgesamt einer „gesunden“ Änderungsrate, um auf gesellschaftliche Veränderungen, neuartige Kriminalitätsphänomene und neu erkannten Optimierungs- bzw. Korrekturbedarf zu reagieren. Insofern sollte sich diese Änderungsdynamik auf breitere Bereiche des Strafrechts entfalten, damit das Strafgesetzbuch seine Orientierungsfunktion nicht gegenüber der Rechtsanwendung verlöre (S. 379). Aus diesem Befund ergäben sich Folgerungen für eine aktive Kriminalpolitik, nämlich die Notwendigkeit, für Strafrechtsänderungen nicht nur eine Ursache, sondern vor allem einen Auslöser herauszuarbeiten und darzustellen, warum es erforderlich war, hierauf mit Strafgesetzgebung zu reagieren. Weiterhin führe die unterschiedliche Einflussnahme dynamischer und statischer Wirkmechanismen auf unterschiedliche Teile des Strafgesetzbuchs dazu, dass monokausale Erklärungs- und Konstruktionsansätze für das Strafrecht überholt seien (S. 380). Vielmehr sei ein plurales Strafrechtsverständnis notwendig, dass die verschiedenen Ursprünge anerkennt und auf dem Boden des Strafverfassungsrechts zusammenführt und zu begrenzen sucht. Im Wechselspiel zwischen Dynamik und Statik des Strafgesetzbuchs zeige sich ebenfalls, dass Strafrechtsänderungen und auch das Strafrecht in seiner Gänze dem Ziel einer Verhaltenssteuerung dienen (S. 381).

Im dritten Teil seiner Habilitationsschrift stellt Brodowski das von ihm entwickelte Modell auf den empirischen Prüfstand der Strafrechtsentwicklung im Untersuchungszeitraum der 13. bis 19. Legislaturperiode (S. 381, 385 ff.). Zunächst stellt er allgemein fest, dass sich bei der Strafgesetzgebung im Vergleich zu der sonstigen Gesetzgebung keine Besonderheiten zeigen. Denn auch in Bezug auf das materielle Strafrecht schulde der Gesetzgeber zuvörderst das „verfassungskonforme Ergebnis“. Dies sei nicht in einem nur einmaligen Erlass eines verfassungskonformen Strafgesetzes zu sehen, vielmehr schulde der Gesetzgeber eine kontinuierlich verfassungskonforme Strafrechtslage (S. 412).

Dieses verfassungsrechtlich vorgegebene, formale Verfahren der Strafgesetzgebung stelle aber nicht mehr als ein Korsett dar, so dass der Verfasser einen Blick auf die beteiligten Akteure sowie das Gesetzgebungsverfahren wirft (S. 414 ff.). Die Zusammenstellung zeige, wie ressourcenintensiv (Straf-)Gesetzgebung ist, so dass es eines Auslösers bedürfe, gegen den eine Mehrzahl an Ausweichmechanismen wirkten, um Strafgesetzgebung dann doch entbehrlich werden zu lassen (S. 441).

Kritisch wird der „formalisierte Pfad der Einwirkung Externer“ auf die Strafgesetzgebung im Rahmen der öffentlichen Anhörung gesehen (S. 435 ff.). Diese habe eher den „Schein einer Diskursivität“, als dass diese selbst geschaffen werde (S. 436), so dass die öffentliche Anhörung nicht überbewertet werden dürfe (S. 442). Hier ist Brodowski absolut recht zu geben, hat man doch den Eindruck, die Ergebnisse stünden schon vor der Sachverständigenanhörung fest, so dass diese zu einem reinen Schaulaufen der für die jeweilige kriminalpolitische Meinung einberufenen Experten mutieren.

Sodann nimmt der Verfasser die Strafgesetzgebung in der Europäischen Union in den Blick (S. 443 ff.). Neben dem formalen Verfahren wird auch den Auslösern europäischer Strafgesetzgebung nachgespürt. Auch wenn sich die Europäisierung des Strafrechts mit dem Vertrag von Lissabon in vielerlei Hinsicht normalisiert habe, so seien auf europäischer Ebene doch einige Aspekte einer strafverfassungsrechtlichen Sonderstellung der Strafgesetzgebung zu verzeichnen (S. 494 f.). So werde den Mitgliedsstaaten bspw. durch den Notbremsenmechanismus in Art. 83 Abs. 3 AEUV eine „Verhinderungsmacht“ eingeräumt (S. 495). Zudem sei der nationale Blick auf europäische Strafgesetzgebung von deutlich wahrnehmbarer Skepsis getragen, auch wenn ein Abflachen europäischer materiell-strafrechtlicher Gesetzgebung in den vergangenen Jahren nicht zu verzeichnen sei (S. 496).

Die theoretischen Grundsätze überführt der Verfasser dann im nächsten Kapitel in eine quantitative und qualitative Analyse der Strafgesetzgebung in den 13. bis 19. Legislaturperioden des Deutschen Bundestages (S. 499 ff.). Abschließend zur quantitativen Erhebung stellt Brodowski fest, dass es dem Strafgesetzgebungsverfahren nicht an prozeduralen Elementen und damit auch nicht an formeller Diskursivität mangele. Prozedurale Einschränkungen von Strafgesetzgebung erwiesen sich aus quantitativer Sicht als wenig vielversprechend, um dem Strafgesetzgeber zusätzliche Grenzen aufzuzeigen. Klagen über mangelnde Diskursivität dürften eher damit verbunden sein, dass entweder nicht die richtigen Stimmen gehört oder aber nicht die richtigen Schlüsse gezogen wurden. Diesen Mängeln werde man aber mit rein prozeduralen Elementen ohnehin nicht begegnen können (S. 517).

Die qualitative Auswertung einzelner exemplarischer Strafgesetzgebungsverfahren zeigt, dass mehrere Ursachen, Auslöser und Motivationen zusammentreffen und sich insofern kriminalpolitische Prozesse überlappen können. Daneben konnte der Verfasser durch die qualitative Analyse seine Modellannahmen zu Statiken, Dynamiken und dem europäischen Strafgesetzgebungsverfahren bestätigen. So zeigte sich die dynamisierende Kraft mancher Leitentscheidungen der Rechtsprechung, von Summationseffekten bezüglich wahrgenommener Kriminalität und von europäischen Rahmenvorgaben. Daneben war die Kumulierung manifester und latenter Ziele von Strafgesetzen und Strafgesetzgebung als solcher feststellbar (S. 557).

Im weiteren Verlauf der Habilitationsschrift geht der Verfasser auf die dynamische Bestimmtheit von Strafnormen ein (S. 559), wobei dieser scheinbare Gegensatz von Dynamik und Bestimmtheit zunächst nicht aufgelöst wird. Vielmehr wird zunächst das Gesetzlichkeitsprinzip an sich in den Blick genommen. Hinsichtlich des strafverfassungsrechtlichen Rückwirkungsverbots des Art. 103 Abs. 2 GG kommt Brodowski zu dem Befund, dass dieses Ausdruck einer besonderen Formstrenge im Bereich des Strafrechts ist. Diese Formstrenge diene zugleich der Legitimation und Restriktion des materiellen Strafrechts (S. 579). Daneben manifestiere sich die bereichsspezifische Ausprägung des Gebots der Normenklarheit und -bestimmtheit im Strafverfassungsrecht vor allem in einem weit zu verstehendem Analogieverbot und einem Verbot gewohnheitsrechtlicher Regelungen. Damit verbunden sei eine gewisse Priorisierung von formellen Strafgesetzen. Es bestünden aber eine Vielzahl guter Gründe für eine Relativierung allzu strikter Anforderungen im Rahmen einer vorzunehmenden wertenden Gesamtbetrachtung (S. 610).

In Bezug auf den Parlamentsvorbehalt ist laut Verfasser nicht festzustellen, dass hier aus Art. 103 Abs. 2, Art. 104 Abs. 1 S. 1 GG strengere Vorgaben resultieren als diejenigen, die sich bereits aus der allgemeinen Wesentlichkeitslehre ergeben. Zudem seien die aus der Wesentlichkeitslehre folgenden Maßgaben im strafverfassungsrechtlichen Bestimmtheitsgebot aufgegangen. Allerdings entstünden bei der Anwendung dieser Maßstäbe bei der Streitfrage über zulässige Regelungstechniken bei Verweisungen auf europäische Normen Schwierigkeiten. Daneben zeige sich, dass bei strafbegründenden und -aufhebenden exekutiven Einzelentscheidungen eine klare gesetzliche Konturierung deren Voraussetzungen zu verlangen sei (S. 621).

Im folgenden Kapitel wird dann auch die Diskrepanz zwischen Dynamik und Bestimmtheit aufgelöst, indem dynamische Elemente der (Un-)Bestimmtheit von Strafnormen beschrieben werden (S. 623 ff.). Brodowski stellt fest, dass eine nur nachträgliche Bestimmtheit eines Straftatbestands nicht ausreiche, sondern bereits mit Inkrafttreten der Strafvorschrift diese dem Maßstab des Art. 103 Abs. 2 GG standhalten müsse. Ein Nukleus an Erkennbarkeit anhand des Wortlauts sei daher unverzichtbar. Der Maßstab der Bestimmtheit sei aber zumindest dahingehend dynamisch und relativ, als dass die Rechtsprechung zu einer Nachjustierung der Bestimmtheit, d.h. zur besseren Erkennbarkeit der Voraussetzungen und des Umfangs des Eingriffs beizutragen hat (S. 635). Dies ist insoweit missverständlich, als die Formulierung der „Nachjustierung der Bestimmtheit“ im Sinne einer Modifikation verstanden werden kann, was ersichtlich vom Verfasser nicht gemeint ist. Vielmehr sollte man wohl eher von einer Konkretisierung des Gesetzes sprechen.

Bei der Beurteilung, ob eine Strafvorschrift dem Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG entspricht, seien laut Verfasser auch nachträgliche Faktoren zu berücksichtigen, die einer Dynamik unterlägen. D.h. eine ursprünglich noch bestimmte Vorschrift könne im Verlauf der Zeit zu unbestimmt werden. Hierzu könne die offene oder generalklauselartige Formulierung beitragen. Beispielsweise könnten der gesellschaftliche Wandel oder eine sich vom Wortlaut der Vorschrift entfernende Rechtsanwendung Bedenken an der Bestimmtheit der Strafvorschrift entstehen lassen. Insofern sei der Gesetzgeber aufgefordert, ein drohendes „Umkippen“ einer Vorschrift hin zu deren Verfassungswidrigkeit durch rechtzeitige Korrekturgesetzgebung abzuwenden, da ansonsten die Norm für verfassungswidrig erklärt werden müsse. Diese Nachbesserungspflicht führe zu einer Dynamik des Strafrechts. Es erweise sich somit als Zukunftsaufgabe oder zumindest Obliegenheit der Strafrechtswissenschaft, Regelungsalternativen eines noch besseren Strafrechts zu entwickeln (S. 647 f.).

Die Schlussbetrachtungen führen die im Rahmen der Habilitationsschrift gewonnenen Erkenntnisse noch einmal komprimiert und leserfreundlich zusammen (S. 651 ff.). Brodowskis Schrift ist grundlegend und beleuchtet die „Evolution“ des materiellen Strafrechts umfassend und unter Herausstellung wesentlicher, übergreifender und allgemeingültiger Aussagen.

Auch wenn hier die wesentlichen Kernaussagen dieses sehr umfang- und facettenreichen Werks nachgezeichnet wurden, so sei doch ein vertiefender Blick in die Monografie unbedingt empfohlen. Quasi zur Pflichtlektüre sollte dieses Werk nicht nur für kriminalpolitisch Interessierte, sondern für alle Akteure des Strafgesetzgebungsprozesses werden.

 

[1]      Abrufbar unter: https://kripoz.de/wpcontent/uploads/2023/11/1123_Eckpunkte_Modernisierung_Strafrecht.pdf (zuletzt abgerufen am 12.3.2024).

[2]      Eine Übersicht über die Textänderungen des StGB findet sich in Anhang A der Arbeit auf S. 665 ff.

 

 

 

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