Anmerkung zu BGH, Beschluss vom 13.9.2023 – Az. 5 StR 200/23

von Dr. Lorenz Bode

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Dieser zur Aufnahme in die amtliche Entscheidungssammlung „BGHSt“ vorgesehene Beschluss enthält wichtige Ausführungen zur strafbaren Beteiligung in Fällen, bei denen es um die vorsätzlich begangene rechtswidrige Haupttat eines Strafunmündigen geht.

I. Zum Sachverhalt

Dem Sachverhalt[1] nach wirkte der Angeklagte auf einen (wie er wusste) 11-Jährigen ein, damit dieser seine eigene Mutter abends im Bett mit einem Messer töte. Dazu zeigte der Angeklagte dem Minderjährigen auch ein Video, in dem eine entsprechende Tötungsszene zu sehen war. Weitergehende Vorgaben zur Tatbegehung machte er nicht. Der Angeklagte sagte dem Kind jedoch ausdrücklich, dass er die Tat nicht selbst begehen könne, da ihn sonst eine Strafe und das Gefängnis erwarte, während der 11-Jährige, da er noch klein sei, nicht mit einer Strafe rechnen müsse. Zugleich versprach der Angeklagte dem Kind verschiedene Vorteile (etwa Süßigkeiten) als Belohnung für die Tatausführung.

II. Die (Nicht-)Wertung des § 19 StGB durch den BGH

Im Mittelpunkt der Entscheidung steht die vom BGH-Senat aufgeworfene – und höchstrichterlich bis dahin unbeantwortete[2] – Frage, ob „das Veranlassen einer vorsätzlich begangenen rechtswidrigen Tat eines Strafunmündigen nur als mittelbare Täterschaft anzusehen ist oder auch als bloße Anstiftung zu bewerten sein kann“[3].

Die diesbezüglichen Erwägungen des 5. Strafsenats sind eine echte – und, wie nachfolgend aufgezeigt wird, nicht unkritisch zu sehende – Novität.

1. Wer einen Strafunmündigen zur Tat veranlasst, kann mittelbarer Täter oder aber „lediglich“ Anstifter sein – alles eine Frage des Einzelfalls, so der BGH.[4] Dabei ist das Gericht auch der Meinung, dass „das Veranlassen der Tat eines Kindes nur dann als mittelbare Täterschaft anzusehen“ sei, „wenn dem Veranlassenden die vom Täterwillen getragene objektive Tatherrschaft zukommt, er das Geschehen also in tatsächlicher Hinsicht steuernd in den Händen hält“[5].

2. Zu diesem Ergebnis gelangt der BGH-Senat im Wege der Auslegung. Dabei verdient ein Punkt besondere Aufmerksamkeit, nämlich der zur Wertung des § 19 StGB.

a) Der Senat entscheidet sich gegen eine normative und stattdessen für eine faktische Betrachtungsweise, auch indem er feststellt, dass „der Normzweck – das Festlegen einer pauschalen Grenze für die Strafmündigkeit –“ es nicht gebiete, „dem § 19 StGB Auswirkungen auf die Strafbarkeit eines Hintermanns zuzuerkennen“[6]. Insofern treffe § 19 StGB gerade „keine Aussage über die tatsächlichen Verhältnisse“[7]. Und weiter: „Da für die Frage der Steuerungsmacht des Tatveranlassers aber ausschließlich die tatsächlichen Verhältnisse Relevanz haben, kommt § 19 StGB insoweit kein Bedeutungsgehalt zu“[8].

b) Man hat das Gefühl, der BGH-Senat versuche an dieser Stelle mit aller Macht – und weniger mit überzeugenden Argumenten –, dem Gesetz gewissermaßen einen „Bypass“ zu legen. Denn um den Wortlaut des § 19 StGB kommt der Senat eigentlich nicht herum; also erklärt er diese Norm einfach für irrelevant, indem er von der normativen auf die faktische Ebene wechselt, mithin die Gerechtigkeit im Einzelfall sucht. Das klingt salomonisch, vermag aber nicht zu überzeugen. Und zwar deshalb nicht, weil die Argumentation des BGH-Senats lückenhaft und problematisch zugleich ist:

Erstens geht der BGH-Senat nicht darauf ein, dass das StGB – wie Kudlich[9] zutreffend bemerkt – die Schuldlosigkeit auch in anderen Konstellationen, siehe nur § 35 StGB, „mehr oder weniger formal an einer bestimmten Situation anknüpft (in der dann als Folge auch eine Tatherrschaft des Hintermannes bejaht wird), ohne dass wirklich die schwierige Frage nach einem verbleibenden ‚eigenen Willen‘ des Vordermannes gestellt wird“.

Der BGH-Senat hätte diesen Umstand in seine Auslegung miteinbeziehen und sich in jedem Falle fragen müssen, ob beziehungsweise warum der verbleibende „eigene Wille“ des Vordermanns zugleich beachtlich und unbeachtlich sein soll.

Zweitens führt die faktische Betrachtungsweise zu einem Wertungsproblem. Denn es besteht – mit § 19 StGB – eine „gesetzgeberische Grundentscheidung“, die es der Strafjustiz verbietet, „danach zu fragen, ob der kindliche Täter im konkreten Fall in der Lage gewesen ist, das Unrecht der Tat einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln.“[10]

Und zu den praktischen Auswirkungen kommentiert Scheinfeld[11]:

Immerhin könnten dieselben psychischen Defizite, die §§ 19 und 20 StGB dazu veranlassten, „den Vordermann für nicht verantwortlich anzusehen, den Vordermann regelmäßig auch nicht steuerbar durch den Hintermann machen“. Doch müsste, so Scheinfeld weiter, „diese Einsicht in die völlige Preisgabe einer normativen Bestimmung der mittelbaren Täterschaft führen – und damit in die völlige Unsicherheit der faktizistischen Lehre“ mit der Folge, dass das Tatgericht auch bei vollverantwortlich Beteiligten prüfen müsste, ob etwa der eine dem anderen wohl sexuell hörig gewesen sei und ob diese Hörigkeit ein hinreichendes Maß an Steuerungsmacht erreicht gehabt habe.

Damit ist eigentlich schon alles gesagt. Die Ausführungen zeigen deutlich: Auf die faktische Ebene sollte man sich an dieser Stelle gar nicht erst begeben. Andernfalls unterliefe man nicht nur die in § 19 StGB zum Ausdruck kommende „gesetzgeberische Grundentscheidung“, sondern forderte man auch – vor allem das Tatgericht – nachgerade dazu auf, sich vom Gesetz zu entfernen.

III. § 19 StGB als „Vermutungsregel“

Der BGH-Senat stellt zudem eine Art „Vermutungsregel“ auf. So spreche „angesichts der Vorschrift des § 3 Satz 1 JGG nichts dafür, dass der Gesetzgeber eine Feststellung
der Schuldfähigkeit im Einzelfall für undurchführbar gehalten hätte. Allerdings wird angesichts der empirischen Erkenntnisse, die der Festsetzung der Altersgrenze in § 19 StGB zugrunde liegen […], in aller Regel davon auszugehen sein, dass bei Kindern tatsächlich ein Defizit vorliegt, das die Tatherrschaft des Hintermanns begründet; unausweichlich ist dies indes nicht“.[12]

Durch diese Regel erleichtert der BGH-Senat zwar die Feststellung der Schuldfähigkeit im Einzelfall. Kniffelig (und zugleich spannend mit Blick auf die juristische Klausur)[13] bleiben aber Fälle, in denen der kindliche Haupttäter zwar begriffen hat, dass er einen anderen Menschen tötet, er diese Tötung jedoch aus einem irrationalen und unreifen Gedanken heraus für berechtigt hält, etwa weil die Person zuvor sein Spielzeug zerstört oder ihn geärgert hat.[14] Hier wird man in strenger Anwendung der nunmehr gegebenen „Vermutungsregel“ wohl dennoch von mittelbarer Täterschaft ausgehen müssen.[15]

Hinzu kommt, dass der BGH-Senat mit dieser aus § 19 StGB abgeleiteten „Vermutungsregel“ seine eigene Argumentation schwächt, nämlich dergestalt, dass er § 19 StGB als bestehende normative Vorgabe letztlich doch in seine faktische Betrachtung einbezieht („wird […] in aller Regel davon auszugehen sein, dass bei Kindern tatsächlich ein Defizit vorliegt“) und damit quasi die „faktische Kraft des Normativen“ in puncto Schuldunfähigkeit von Minderjährigen anerkennt.

IV. Schlussbemerkung

Zugegeben: Einen höchstrichterlichen Streitentscheid kann man begrüßen und sich darüber freuen, schon immer auf der „richtigen“ Meinungsseite[16] gestanden zu haben. In der Praxis und für die Tatgerichte bleibt diese Entscheidung jedoch eher eine Zumutung.

 

 

[1]      Siehe BGH, Beschl. v. 13.9.2023 – Az. 5 StR 200/23, Rn. 3.

[2]      Jedoch hatte das Reichsgericht (RGSt 61, 265, 267) – worauf der BGH-Senat (Rn. 7) hinweist – die Anstiftung eines strafunmündigen Kindes bereits für möglich gehalten.

[3]      BGH, Beschl. v. 13.9.2023 – Az. 5 StR 200/23, Rn. 7.

[4]      Entgegen der h.M.; siehe nur Heine/Weißer, in: Schönke/Schröder, StGB, 30. Aufl. (2019), § 25 Rn. 44 m.w.N.

[5]      BGH, Beschl. v. 13.9.2023 – Az. 5 StR 200/23, Rn. 13.

[6]      BGH, Beschl. v. 13.9.2023 – Az. 5 StR 200/23, Rn. 21.

[7]      BGH, Beschl. v. 13.9.2023 – Az. 5 StR 200/23, Rn. 22.

[8]      BGH, Beschl. v. 13.9.2023 – Az. 5 StR 200/23, Rn. 22.

[9]      Kudlich, in: BeckOK-StGB, 59. Ed. (Stand: 1.11.2023), § 25 Rn. 27.1.

[10]    Scheinfeld, in: MüKo-StGB, Bd. 1, 4. Aufl. (2020), § 25 Rn. 109.

[11]    Scheinfeld, in: MüKo-StGB, § 25 Rn. 109.

[12]    BGH, Beschl. v. 13.9.2023 – Az. 5 StR 200/23, Rn. 23.

[13]    Siehe dazu die Ausführungen von Godendorff auf https://jurcase.com/gebt-den-kindern-das-kommando-sie-berechnen-nicht-was-sie-tun-5-str-200-23/ (zuletzt abgerufen am 18.1.2024).

[14]    Vgl. Godendorff auf https://jurcase.com/gebt-den-kindern-das-kommando-sie-berechnen-nicht-was-sie-tun-5-str-200-23/ (zuletzt abgerufen am 18.1.2024).

[15]    Vgl. Godendorff auf https://jurcase.com/gebt-den-kindern-das-kommando-sie-berechnen-nicht-was-sie-tun-5-str-200-23/ (zuletzt abgerufen am 18.1.2024).

[16]    Insofern liegt diese Entscheidung des BGH etwa ganz auf der Linie von Haas, in: Matt/Renzikowski, StGB, 2. Aufl. (2020), § 25 Rn. 33 f.

 

 

 

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