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Institutionalisierter Antisemitismus: Die Rolle der Justiz zu Zeiten des Nationalsozialismus

von Prof. Dr. Dr. h.c. Martin Heger

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Abstract
Bei der Durchsetzung des von der am 30.1.1933 installierten Reichsregierung unter Führung von Adolf Hitler im Sinne der NS-Parteiideologie als neuer Leitmaxime etablierten Antisemitismus spielte die Justiz, die aus der Weimarer Republik übernommen worden war, eine fatale Doppelrolle. Einerseits wurden nahezu die jüdischstämmigen Richter, Staatsanwälte und Referedare bereits nach zwei Monaten ebenso wie die Rechtsprofessoren und Assistenten an den Juristenfakultäten  weitestgehend eliminiert; der Zugang zu Rechtsanwaltschaft und Notariat wurde für Juden massiv eingeschränkt und wenige Jahre später ebenfalls verunmöglicht, so dass dieser jursitsich qualifizierte Personenkreis von jeder professionellen Betätigung und damit auch von einer adäquten Verdienstmöglichkeit ausgeschlossen war. Zugleich kam es parallel zu dieser “Arisierung” der deutschen Justiz zu einer zunehmenden Ausrichtung der Rechstprechung an der NS-Ideologie und damit einer Diskriminierung vor allem von Juden. Diese verloren damit nicht nur ein zuvor breit genutztes professionelles Betätigungsfeld, sondern zugleich auch jede Möglichkeit, ihre berechtigten Anliegen vor dieser Justiz weiterhin mit Erfolg geltend zu machen. Zu dem Berufsausschluss kam damit eine vollstädnige Entrechtung. Dieser Prozess wird hier für die ersten Jahre nach der NS-Übernahme nachgezeichnet.

The judiciary, which had been taken over from the Weimar Republic, played a fatal double role in the implementation of the anti-Semitism established by the Reich government under the leadership of Adolf Hitler from 30 January 1933 on as the new guiding principle of the Nazi party ideology. On the one hand, almost all judges, public prosecutors and law clerks of Jewish origin were largely eliminated after just two months, as were law professors and assistants at the law faculties; access to the legal profession and notary’s office was massively restricted for Jews and also made impossible a few years later, so that this group of people with legal qualifications was excluded from any professional activity and thus also from any adequate earning potential. At the same time, this „Aryanisation“ of the German judiciary was accompanied by an increasing alignment of jurisprudence with Nazi ideology and thus discrimination against Jews in particular. As a result, Jews not only lost a previously widely utilised professional field of activity, but also any possibility of continuing to successfully assert their justified concerns before this judiciary. The exclusion from the profession was thus accompanied by complete disenfranchisement. This process is traced here for the first few years after the Nazi takeover.

 I. Einführung

Vorliegend soll es gehen über den Antisemitismus in der deutschen Justiz nach der Machtübernahme durch die von Adolf Hitler geführte Reichsregierung am 30.1.1933, durch die der Nationalsozialismus für mehr als 12 Jahre in die politische Führungsrolle innerhalb des Deutschen Reiches eingerückt ist. Deshalb spielt es für mich im Folgenden keine wesentliche Rolle, dass in den Tagen und Wochen nach dieser von den Nationalsozialisten selbst als “Machtergreifung” stilisierten Handlung in den für den Großteil der Justiz zuständigen Ländern noch keine NS-geführten Landesregierungen an der Macht waren. Ebenfalls erscheint es nicht weiter relevant, dass neben dem Außenminister Konstantin von Neurath, dem Finanzminister Graf Schwerin von Krosigk und dem Post- und Verkehrsminister Freiherr von Eltz-Rübenach sich auch der der DNVP angehörende Justizminister Franz Gürtner (1881-1941)[1] in das Hitler-Kabinett “hinüber retten” konnte, so das in den Anfangstagen der NS-Herrschaft weder auf Reichsebene noch in den Ländern bereits NS-Parteigenossen dieses Ressort in Händen gehalten haben. Gürtner trat erst 1937 in die NSDAP ein, so dass er über vier Jahre sein Ressort zumindest formal als Nicht-NS-Mitglied wahrgenommen hatte.

Das heißt aber eben – wie noch auszuführen sein wird – gerade nicht, dass dadurch das Justizressort auch nur für eine “Schamfrist” ein Hort überkommener Rechtsstaatlichkeit geblieben wäre. Insbesondere für jüdische Justizangehörige begann der Horror vielmehr bereits mit den ersten Boykottmaßnahmen unmittelbar nach der letzten Reichstagswahl und dem sog. “Tag von Potsdam” Ende März/Anfang April 1933. Unmittelbar betroffen waren wohl nahezu alle jüdischen oder jüdischstämmigen Richterinnen und Richter und Referendare.

Dass dies alles unter der Ägide eines erfahrenen rechtskonservativen, aber bis dahin eben nicht dezidiert nationalsozialistisch ausgerichteten Minister erfolgte, mag für sich sprechen. Die Gleichschaltung der Länder in zwei Gesetzen vom 31.3. und vom 7.4.1933 geschah zwar rasant, wurde aber formal erst nach einigen der Eingriffe in die (Länder-)Justiz abgeschlossen. Es kann sein, dass Franz Gürtner aufgrund einer gewissen persönlichen bzw. parteipolitischen Distanz in den Anfangsjahren des NS-Regimes einzelne Maßnahmen kritisiert und vielleicht sogar abgemildert haben mag. Im Grundsatz hat er aber trotz der Zugehörigkeit zu einer – wenngleich am rechten Rand des damaligen parlamentarischen Spektrums von Weimar ressortierenden – Partei keinesfalls auch nur einen Rest an rechtsstaatlichem Bewusstsein erkennen lassen. Das zeigt auch – was noch näher darzustellen sein wird – die strafrechtliche Reaktion auf den Reichstagsbrand vom 28.2.1933.

Vor diesem Hintergrund möchte ich zunächst noch einmal weiter zurückblicken auf die Justiz in der Weimarer Republik, in der zwar innerhalb der Richterschaft – wie auch in der Anwaltschaft – eine erhebliche Zahl jüdischer oder jüdischstämmiger Personen aktiv war, welche aber gleichwohl – wie schon wenige Jahre nach ihrer Gründung bekannt wurde – doch in weiten Teilen “auf dem rechten Auge blind” gewesen ist und dadurch nicht nur den Aufstieg Adolf Hitlers zu einem der bekanntesten und wirkmächtigsten Politiker in Deutschland begünstigt, sondern generell zwischen rechts- und links-motivierten Straftaten massiv differenziert hat.

Verbunden mit diesem Vorgriff möchte ich mich im Folgenden auch innerhalb der NS-Ära zeitlich etwas beschränken und vor allem die Justiz und ihren Antisemitismus in den ersten sechseinhalb Jahren bis zum Ausbruch des zweiten Weltkriegs am 1.9.1939 näher in den Blick nehmen. Nicht wesentlich ist insoweit für mich, dass Gürtner nur, aber immerhin bis zu seinem Tod am 29.1.1941 – und damit vor der letzten Stufe der industriellen Massenvernichtung der Juden in der Shoah – amtieren konnte.[2] Der Rückgriff auf die Zeit bis 1933 ist aber gerade auch mit seiner Person verbunden, hat er doch vor dem Antritt des Justizressorts auf Reichsebene selbiges bereits im Land Bayern in den 1920er Jahren verwaltet und dabei – vor allem nach dem sog Hitler-Putsch, der vor rund 100 Jahren in München stattgefunden hatte – seine schützende Hand innerhalb der Bayerischen Justiz über diesen Hochverräter gehalten.[3]

Diese Restriktion erfolgt aus zwei Gründen: Erstens führt ein großer Krieg in vielen Fällen dazu, dass selbst ein zuvor noch existentes Rechtssystem frei nach dem Motto “right or wrong – my country” trotz der formalen Fortexistenz auch einer “ordentlichen Justiz” bis zum Ende des Weltkrieges allein den zumindest vermeinten Anforderungen des Militärischen untergeordnet wird, so dass etwa – mit Blick auf das Strafrecht – die Strafverfolgung immer weniger den Strafverfolgungsbehörden als vielmehr unmittelbar der Polizei und insbesondere der Gestapo überlassen worden ist; und zweitens war man in den ersten Jahren der NS-Diktatur noch deutlich näher an den Erfahrungen einer ja nicht erst in der Weimarer Republik, sondern auch schon im Kaiserreich grundsätzlich im Rechtsstaat wurzelnden Rechtsordnung als in den späteren Jahren der NS-Herrschaft. So haben die 1933 an die Stelle entlassener jüdischer und jüdischstämmiger Juristen getretenen jüngeren sog. “arischen” Juristen ihre vollständige Studien- und Referendariatszeit in einem demokratischen Rechtsstaat verbracht, so dass sie zumindest gelernt und auch im Referendariat erfahren haben, wie ein rechtsstaatliches System funktioniert. Demgegenüber führte die unverzügliche Ausschaltung aller jüdischen und politisch kritischen Juraprofessoren z.T. bereits 1933[4] dazu, dass erst dann ihr Jurastudium aufnehmende Studierende nicht bloß das NS-Recht studierten, sondern Vorlesungen etc. ausschließlich von dem NS-Regime treuen oder diesem jedenfalls nicht offen kritisch gegenüberstehenden Professoren erhielten. Dass die examinierten Juristen ihre vorausgegangenen guten Erfahrungen etwa im Umgang mit Jüdinnen und Juden vielfach sofort aufgegeben haben, ist mehr als erschreckend und keinesfalls allein mit Dankbarkeit gegenüber den neuen Machthabern für die Übertragung einer Richterstelle – gleiches gilt für Juraprofessuren – zu erklären. Dafür werden noch Beispiele zu geben sein.

Schließlich sind vor allem die ersten Jahre der NS-Diktatur noch dadurch geprägt, dass in manchen, vor allem nach außen wirkenden Bereichen das Regime versucht hat, den Schein von Legalität vorzuspielen. So werden etwa die Olympischen Spiele in Berlin im Sommer 1936 auch in dem Sinne zur Propaganda missbraucht, als das NS-Regimen vermeintliche Normalität und Prosperität vorspiegeln möchte;[5] deshalb werden sogar einzelne jüdischstämmige Athleten in den deutschen Olympiakader aufgenommen, die aber dann regelmäßig doch nicht zum Einsatz kommen. Eine Konsolidierung der NS-Herrschaft wird dann häufig auf das “Normaljahr” 1937 datiert,[6] in welchem bereits „nullum crimen, nulla poena sine lege“ aufgehoben und das sog. “Blutschutzgesetz” mit seinem Straftatbestand der “Rassenschande” in Kraft getreten waren,[7] die Reichspogromnacht vor rund 86 Jahren gegenüber den immer noch relativ zahlreich im Reich verbliebenen Juden aber erst noch bevorstehen sollte.

II. Vorgeschichte: Ein Rückblick auf die Justiz in der Weimarer Republik

Schon das Kaiserreich galt vor allem als gefestigter Rechtsstaat, wenngleich dies natürlich nicht für alle Fälle gleichermaßen Geltung beanspruchte und es gerade auch Gerichtsverfahren gegeben hat, in denen die Justiz allein im Sinne des Obrigkeitsstaats agierte (z.B. die Zabernaffäre 1913/14[8]).

Die Weimarer Reichsverfassung ließ die Gerichtsstruktur und das Justizpersonal unverändert. Zwar gab es vor allem mit der Lex Emminger ein paar Änderungen wie den Ausbau der Einzelrichterentscheidungen und die Abschaffung der echten Schwurgerichte sowie die Etablierung neuer Gerichte wie des Republikschutzgerichts, doch blieb dabei vor allem die Position der Berufsrichter weitgehend unverändert. Gerade das aus dem Kaiserreich übernommene Justizpersonal war aber im Kern konservativ eingestellt. Weder unterstützte es aktiv die Republik noch sympathisierte es gar mit linken Revolutionsvorstellungen. Im Zweifel schlug sich die Justiz daher bereits ab dem Beginn der Weimarer Republik auf die Seite konservativer und staatstragender Kräfte. Das zeigte sich vor allem statistisch, wenn man – wie der Mathematiker Emil Julius Gumbel bereits 1922[9] – die Zahl der rechts- und linksextremistischen Straftaten mit den gegen beide Tätergruppen ergangenen Urteilen verglich. Für deutlich weniger linksradikale Straftaten ergingen weit mehr und viel schärfere Urteile, während weit mehr brutale politische Morde von rechts mit äußerster Milde beantwortet wurden. Ähnlich ging es Pazifisten wie dem Weltbühne-Herausgeber Carl v. Ossietzky, der für die Veröffentlichung illegaler Geheimnisse der “Schwarzen Reichswehr” mit einer Gefängnisstrafe belegt worden ist.[10]

Diese offensichtliche Disparität bei der Verfolgung politischer, staatsgefährdender Kriminalität hatte allerdings keinen Einfluss auf den Umgang der Weimarer Justiz mit Juden. Waren diese ihrerseits konservativ oder jedenfalls staatstragend, sahen sie vielfach auch in den revolutionären Umtrieben von links eine größere Gefahr für die staatliche und gesellschaftliche Ordnung als in den Umsturzversuchen und politischen Morden der rechtsradikalen Kräfte. Das zeigt sich durchaus deutlich in der “Juristischen Rundschau” des jüdischen konservativen Rechtsanwalts und Mitglied des Reichswirtschaftsausschusses Max Hachenburg (1860-1951)[11], der in einer Kolumne die massive Verfolgung linker Umsturzversuche in Bayern offenbar gutheißt, während er gleichzeitig die Mörder aus dem rechten Lager, die weit mehr Opfer auf dem Gewissen hatten als die von links, unerwähnt lässt.[12]

Die Justiz und Rechtspflege als traditionelle und trotz aller Widrigkeiten gut funktionierende Institution in den schwierigen Endzeiten der Weimarer Republik hat sich Ende März 1933 fast auf einen Schlag weitestgehend “arisiert”, den noch unversorgten Nachkömmlingen Lohn und Brot geboten und dafür die lange das Recht verteidigenden jüdischen Juristen mit einem Schlag und auf ganzer Linie fallen gelassen. Sie verloren nicht nur ihre materielle Grundlage, sondern auch ihr Vertrauen in die Rechtsstaatlichkeit und das auch hinter ihren Ernennungen stehende Vertrauen in die Unverbrüchlichkeit staatlicher Versprechungen.

III. Die “Säuberung” der Justiz von den jüdischen Juristen

Der Anteil jüdischer Juristen in der Richterschaft und insbesondere in der Anwaltschaft lag erheblich über dem relativ geringen Anteil der Juden an der Gesamtbevölkerung. Zugleich führte die wirtschaftliche Krise Anfang der 1930er Jahre dazu, dass frisch examinierte Juristen wie Referendare nicht ohne weiteres mehr eine auskömmliche Stellung in Justiz oder Rechtspflege finden konnten. Auch wurde 1932 aus der Anwaltschaft gefordert, dass im Interesse auskömmlicher Einkommen die Zahl der neu zuzulassenden Rechtsanwälte begrenzt werden soll, so dass – anders als zuvor und auch heute noch – nicht mehr jeder Absolvent des Assessorexamens jedenfalls eine Tätigkeit als selbständiger Rechtsanwalt beginnen können sollte.

Aus NS-Sicht lag es daher nahe, die jüdischen Richter zu entlassen und damit Platz für junge “arische” Juristen zu schaffen und überdies – was den Druck für die aus dem gesamten Staatsdienst einschließlich der Universitäten entlassenen jüdischen Juristen weiter erhöhen musste – auch der Kreis jüdischer Rechtsanwälte auf den Anteil der Juden an der Gesamtbevölkerung zu reduzieren.[13] Für die aus dem Justizdienst und den Juristenfakultäten entlassenen jüdischen Juristen war damit ein Wechsel in die Anwaltschaft schwierig; und auch die seit langem etablierten und erfolgreichen Rechtsanwälte mussten um Verdrängung fürchten und dürften schlagartig einen großen Teil ihrer nichtjüdischen Mandantschaft verloren haben.[14] Nach der Reichspogromnacht erging für alle jüdischen Rechtsanwälte zum 1.12.1938 ein allgemeines Berufsverbot; von ihnen betriebene Notariate hatten sie bereits 1935 aufgegeben müssen. Danach konnten jüdischstämmige Juristen allenfalls noch als Rechtskonsulenten arbeiten, sofern sie die Genehmigung erhalten hatten, um zumindest in wenigen verbliebenen Angelegenheiten andere Juden juristisch zu vertreten oder zu beraten.

Während in Aufsichtsräten von großen Bankunternehmen jüdische Mitglieder vor allem auch mit Blick auf die Wirkung im Ausland teilweise noch Jahre mitgewirkt haben, war der Ausschluss jüdischer Juristen aus der Justiz als einer typischerweise allein innerhalb des Nationalstaats wirkenden Institution für diese und zahlreiche jüdische Anwälte mit einem faktischen Verlust ihrer Betätigungs- und Erwerbsmöglichkeiten verbunden. Umgekehrt war eine juristische Tätigkeit im Ausland kaum zu erlangen, so dass die jüdischstämmigen Juristen als eine relativ große und bis dahin auch erfolgreiche Berufsgruppe faktisch unmittelbar nach der NS-Machtübernahme auch ökonomisch absolut an den Rand gedrängt wurden. Und natürlich verloren die Referendare und Fakultätsassistenten jüdischer Herkunft ebenso über Nacht jegliche Perspektive. Als jüngere und noch nicht so familiär verankerte Personen entschlossen sie sich freilich häufig leichteren Herzens als die älteren, die ihr gesamtes Leben dem deutschen Recht gedient haben, zur Flucht.

IV. Eine Außenansicht “von Innen”

Seit jeher steht und fällt die Anwaltschaft als Organ der Rechtspflege in ihrer Wirkmacht mit derjenigen der Justiz. Eine auf Rechtssicherheit und Vorhersehbarkeit gebaute richterliche Spruchpraxis ermöglicht sachgerechte und erfolgsversprechende Rechtsberatung in und außerhalb von gerichtlichen Verfahren. Deshalb ist die Anwaltschaft – bei aller aus den unterschiedlichen Rollen in einem Rechtsverfahren folgender Kritik – stets ein guter Beobachter der Justiz. Und deshalb ist es für mich von besonderem Interesse ihnen mitzuteilen, wie der erfahrene Rechtsanwalt Hachenburg als Beobachter in der vom ihm verfassten “Juristischen Rundschau” in der DJZ im Jahr 1933 den aufsteigenden Antisemitismus in der dritten Staatsgewalt beschreibt.[15] Eine offene Kritik ist ihm zu diesem Zeitpunkt nicht mehr möglich; andererseits merkt der Leser sofort, dass er einerseits die Verdrängung aller Juden aus diesem Metier natürlich kritisch sieht, zugleich sich aber auch angesichts seiner jahrzehntelangen Verbundenheit mit dem deutschen Rechtsleben vielleicht nicht immer ganz eingestehen will, in welch brachialer Weise binnen weniger Wochen allen Juden in der Rechtspflege faktisch der Stuhl vor die Tür gesetzt und damit auch ihre Einkommenssicherung beendet worden ist. Am Ende des Jahres werden auch die jüdischen Fachverleger wie etwa Otto Liebmann (1865-1942),[16] der Herausgeber der Deutschen Juristen-Zeitung, endgültig verdrängt.

V. Parteilichkeit und Richtersteuerung

Bekanntlich formulierte die WRV den Anspruch, dass die Staatsdiener nicht Diener einzelner politischer Parteien sein sollten, was zu einer erheblichen und teilweise – wenn auch nicht zur Gänze – erzwungenen Politikferne vieler Beamter und eben auch Justizangehöriger geführt hat. Im Fernhalten von Parteimitgliedern aus der Staatsdienerschaft vermeinte man deren Un- und Überparteilichkeit sicherzustellen, verlor dabei aber aus den Augen, dass gerade eine demokratische Staatsform notwendig davon lebt, dass die sie tragenden Schichten zwar in ihrer Amtsführung unparteiisch sind, nicht aber zugleich der durch die Parteien getragenen demokratischen Willensbildung gleichgültig oder sogar reserviert gegenüberstehen. Ansätze zu einer demokratischen Urteilsfindung, wie sie seit dem Kaiserreich in der eingeschränkten echten Schwurgerichtsverfassung des GVG enthalten und durch eine Bezahlung für die Geschworenen auch für die breiten Schichten, die auf ein regelmäßiges Arbeitseinkommen dringend angewiesen waren, geöffnet worden war, wurde bekanntlich mit der Lex Emminger Anfang 1924[17] vordergründig eben wegen dieser Kosten aus finanziellen Gründen wieder beerdigt. Damit erlangten die Berufsrichter juristisch wie faktisch ein sehr großes Gewicht bei allen Strafurteilen. „Volkes Stimme“ konnte dazu nur noch quasi den “Backgroundsound” liefern. Und das entsprach auch der Ansicht der bürgerlichen Schichten, die im Kaiserreich und seit der Paulskirchenverfassung eigentlich für die Schwurgerichtsverfassung gerade auch aus politischen Gründen eingetreten waren, gegenüber der nunmehr eintretenden Öffnung der Geschworenenbank für die Arbeiterklasse aber massive Vorbehalte hegten. Auch das hat sicherlich dazu beigetragen, dass der Justizkörper in der Weimarer Republik in seiner sozialen Zusammensetzung weitgehend hermetisch war; allerdings waren damals jüdische Richter natürlicher Bestandteil desselben, was sich dann erst mit Beginn der NS-Herrschaft radikal ändern sollte.

Nunmehr trat an die Stelle einer formalen Unabhängigkeit von politischen Parteien bei erheblicher Distanz gegenüber der demokratischen Ordnung eine zunehmende Bindung an die einzig verbliebene Partei, der Justizangehörige nicht bloß – natürlich – als Mitglieder angehören konnten. Vielmehr wurde ihnen nunmehr verdeutlicht, dass es eben nicht mehr primär das Gesetz sein sollte, das die Leitschnur richterlicher Entscheidungen bildet, sondern die Partei selbst mit ihrem Programm wesentliche Anhaltspunkte zumindest für die Auslegung der Gesetze und die Schließung möglicher Gesetzeslücken geben sollte. Ab 1935 wurde sogar die Beschimpfung der NSDAP in § 134b RStGB ausdrücklich unter Strafe gestellt.

Parallel wurde bereits ab Februar 1933 die Rechtsordnung durch Gesetze und Verordnungen zügig im Sinne der neuen Machthaber umgebaut. Rechtsstaatliche Grenzen und Hemmungen vor allem mit Blick auf eine massive belastende Rückwirkung wurden oft bis in die oberste Instanz beiseite geschoben oder kamen gar nicht erst auf. Der auf persönliche Freiheit und Gleichheit aller Staatsbürger aufgebaute Rechtsstaat der Weimarer Republik wurde auf diese Weise auch seitens der Justiz in kurzer Zeit in einen autoritären Führerstaat umgewandelt, ohne dass die Justiz in nennenswerter Weise dagegen Widerstand geleistet hätte. Das ist umso mehr befremdlich, als die an der Spitze stehenden Personen vor allem im RG ja regelmäßig schon während der kompletten Weimarer Zeit der damaligen Demokratie gedient hatten und der Justizminister – wie allgemein bekannt war – eben nicht aus der NS-Parteihierarchie stammte.

Die Justiz nahm aber nicht bloß die rasche “Ausmerzung” jüdischer Richter und Referendare widerspruchslos hin und ersetzte diese unverzüglich mit “arischen” jungen Juristen. Vielmehr versuchte sie offensichtlich, sich immer wieder an die NS-Erwartungen anzubiedern und diese – wie noch gezeigt werden wird – im Einzelfall sogar zu überbieten. Zugleich bestand offenbar in der Justiz und ihrer Führung keinesfalls der Wille zu einer vielleicht noch denkbaren Selbstbehauptung oder jedenfalls einem Rückzug in formalrechtliche Fragen; vielmehr wollte man der von Anfang an erkennbaren Abneigung Hitlers gegenüber der Juristerei dadurch offensiv begegnen, dass man bereits früh versuchte, die tradierten Rechtsgrundsätze so schnell als möglich über Bord zu werfen, wenn sie scheinbar im Widerspruch zu den Erwartungen der neuen Machthaber stehen konnten. Man ließ mithin nicht nur die jüdischen Kollegen sofort im Stich, sondern gab auch die Reste einer Rechtsordnung, die nicht sogleich durch die NS-Verordnungen außer Kraft gesetzt worden waren, freiwillig preis.

Für die parallel faktisch wie rechtlich massiv entrechtete jüdische Bevölkerung bedeutete dies, dass sie – wollte sie sich gegenüber Willkürmaßnahmen mit den Mitteln des Rechts zur Wehr setzen – über Nacht einem allein “arisch” besetzten Rechtskörper gegenüberstand, der nicht bloß alles “gute alte Recht” vergessen hatte, sondern darüber hinaus nach Wegen suchte, sich in seiner Rechtsprechung dem vermeintlichen Führerwillen anzudienen.

Deutschland, dessen strukturelles Proprium nach der überzeugenden Ansicht des Politologen Theodor Eschenburg trotz seiner damaligen demokratischen Defizite bereits im Kaiserreich in der Rechtsstaatlichkeit gelegen hat,[18] die trotz einzelner Kritikpunkte und auch der erwähnten Halbblindheit in politischen Fällen letztlich die ganze Weimarer Zeit über im großen und ganzen fortbestanden hatte, verlor bereits in den ersten Monaten der NS-Herrschaft trotz dem Verbleib der großen Mehrheit der Justizangehörigen und des Justizministers nicht bloß seine demokratische Verfassung, sondern in mindestens gleicher Geschwindigkeit auch seine rechtsstaatliche Grundstruktur. Dies ging in besonderem Maße zulasten der jüdischen Bevölkerung, die als kleine, aber im Rechts- und Geschäftsleben der Republik aktive Minderheit sowohl auf ihre Posten innerhalb von Justiz und Anwaltschaft, als auch – und vielleicht mehr noch – auf ihr Vertrauen in die Institutionen der Justiz auch ohne Mitwirkung jüdischer Juristen angewiesen war. Sowohl gegenüber Übergriffen in Leib, Leben und Freiheit als auch Eingriffen in ihre rechtlichen und wirtschaftlichen Positionen waren Juden über Nacht weitestgehend schutzlos. Weder die rechtliche Fundierung ihrer Positionen noch langjährige Verdienste um das Reich – und sei es im ersten Weltkrieg – boten noch einen annähernden Schutz durch die Justiz.

Eine teils willfährige, teils gesteuerte Orientierung der Rechtsordnung nicht mehr an den Gesetzen und den für deren Anwendung traditionell leitenden Grundprinzipien, sondern am Parteiprogramm der NSDAP oder allgemeinen Richtungsvorgaben der NS-Ideologie wie dem Führerprinzip und die Durchsetzung des “Rassegedankens im Recht” bis zur Loslösung von liberalen Grundlagen der Rechtsordnung als angebliches Relikt aus dem Römischen Recht, formalrechtlichen Regelungen als vermeintlich “winkeladvokatorische Spitzfindigkeiten” und zur Umdrehung von “nullum crimen, nulla poena sine lege” in ein “nullum crimen sine poena”, nahm gerade den jüdischstämmigen Personen jeden effektiven Rechtsschutz. Für deutsche Juden, die teilweise als Rechtsgelehrte am Aufbau der liberalen Rechtsordnung in Kaiserreich und Weimarer Republik mitgebaut und diese zugleich Generationen von Jurastudierenden gelehrt haben, musste dies besonders schmerzlich sein: Ihre eigenen Kollegen und Schüler wandten sich von ihnen ab oder sogar dezidiert gegen sie; das gerade auch nach außen – etwa gegenüber den Kriegsgegnern des ersten Weltkriegs – aktiv verteidigte rechtsstaatliche Gerüst der Weimarer Republik brach völlig zusammen und vermittelte Willkür statt Schutz – und zwar nicht etwa nach Belieben, sondern faktisch ausschließlich zum Nachteil der jüdischen Bevölkerung, die daher – wenn sie etwa in einen Rechtsstreit mit einer “arischen” Person hineingezogen wurde – letztlich losgelöst von der eigentlichen Rechtslage nur noch verlieren konnte und damit schon unmittelbar nach dem Machtantritt der NS-Regierung auf Gedeih und Verderb einzelnen wohlmeinenderen nichtjüdischen Deutschen angewiesen waren. Half jemand faktisch (etwa durch den Abkauf von Gütern zu ihrem wirklichen Wert vor einer angestrebten Auswanderung), konnte dies die schwierige Lage erleichtern; die für den Rechtsstaat kennzeichnende Idee einer Garantie und Durchsetzbarkeit bestehender Ansprüche und Werte gegenüber dem Staat oder anderen Bürgern und Geschäftspartnern notfalls vor einer unparteiischen Justiz war dagegen mit einem Schlag zunichte gemacht, so dass die Betroffenen froh sein mussten, wenn sie nicht durch ein Beharren auf ihren wohlverdienten Rechten erst recht in den Fokus der Nazi-Barbarei geraten wollten.

Die Entlassung aller jüdischen Richter und Referendare sowie die weitgehende Verdrängung jüdischer Rechtsanwälte machte die Juden innerhalb der Justiz und des Rechtslebens von Inhabern rechtlich begründeter und durchsetzbarer Ansprüche zu allenfalls noch bemitleidenswerten Bettlern um Almosen. Für jüdische Jurastudierende wurde die zuvor zumeist nicht allzu schlechte Berufsperspektive mit einem Schlag zunichte gemacht; angesichts der nationalen Orientierung des Jurastudiums war auch der Weg ins Ausland als Jurist gerade für dieses Fach besonders erschwert. Dieser radikale und schnelle Personalschnitt bereits zu Anfang April 1933 veränderte schließlich die Durchsetzbarkeit berechtigter Ansprüche durch die Justiz so fundamental, dass allein daraus eine klar institutionell-antisemitische Struktur im Justizwesen geschaffen wurde.

VI. Unbegrenzte Auslegung anstelle rechtsstaatlicher Gesetzesanwendung

Wie aber löste sich die Justiz äußerst rasch von ihrer tradierten Gesetzesgebundenheit? Der frühere Konstanzer Zivilrechtler Bernd Rüthers (1930-2023) hat dies bereits im Titel seiner in zahlreichen überarbeiteten Neuauflagen publizierten Habilitationsschrift verdeutlicht: Es ging um die Abwerfung aller rechtsstaatlichen Grenzen bei gleichzeitigem formalen Fortbestand des größten Teils der vormals rechtsstaatlich verstandenen Gesetze mittels “unbegrenzter Auslegung”. Interpretation ist in jeder Jurisprudenz unerlässlich, um abstrakte Rechtssätze für die Vielgestaltigkeit des menschlichen Lebens anwendbar zu machen. Gesetzesauslegung beruht aber immer auf dem Gesetz, dessen Inhalt nach anerkannten Interpretationsregeln – und eben nicht nach richterlichem Gutdünken – konkretisiert werden muss; der Spielraum der Auslegung ist überschritten, wenn es im Gesetz nicht einmal mehr einen dahingehenden Anhaltspunkt gibt und vielmehr richterliche Willkür die Entscheidung diktiert, wobei das Gesetz in seiner bloßen Existenz verbunden mit der Behauptung seiner weiten Auslegung nach außen in die Öffentlichkeit den Eindruck vermitteln soll, tatsächlich sei es nur eine Weiterentwicklung eines rechtlichen Vorgehens und nicht eine brachiale Abkehr davon im Interesse gewollter Ergebnisse. So ist das Recht dann nichts anderes als ein Feigenblatt für blanke Willkür; und hier setzt dann auch die Urteilsbegründung im Nürnberger Juristenprozess von 1947[19] an, wenn es darin heißt, der Dolch des Mörders sei unter der Robe des Juristen verborgen gewesen. Eine unbegrenzte Auslegung ist letztlich keine an das Gesetz anknüpfende Konkretisierung von dessen Aussagen, sondern eine willkürliche, fallbezogene Entscheidung, bei der ein Gesetzesbezug nur noch vorgeschoben ist. In der NS-Zeit treten von Anfang an außerjuristische Interpretationstopoi in den Vordergrund wie etwa das Parteiprogramm der NSDAP, das Führerprinzip, der Antisemitismus, der Rassismus etc. Gerechtfertigt wurden dadurch Entscheidungen nicht mehr, weil sie in bestmöglicher Weise in concreto das Gesetzesprogramm verwirklichen, sondern weil an dessen Stelle außergesetzliche Regelungsvorstellungen treten, die zu den Grundprinzipien jeder Rechtsordnung in diametralem Widerspruch stehen. Das Gesetz ist nur noch dann selbst Grundlage der Interpretation, wenn es den außerrechtlichen Zielen, die die Machthaber gewünscht und viele Richter willfährig geliefert haben, entspricht; es ist gerade nicht mehr der Schutzschirm für die Rechtsunterworfenen, wenn sie sich gegen staatliches oder privates Unrecht zur Wehr setzen müssen.

Zur Analogie betont Rüthers[20] die wesentliche Rolle des Richters: „Nicht das Gesetz paßt sich, sondern der Richter paßt durch seine Interpretation das Gesetz an die gewandelten Verhältnisse an“.[21] Das zeige sich etwa an einem geänderten Analogieverständnis; nahm das Reichsarbeitsgericht (RAG) zunächst noch in der Weimarer Tradition an, Judengesetze seien als Sondergesetze nicht analogiefähig, erweiterte es einzelne Rassen-Bestimmungen ab 1940 zu einem Sonderarbeitsrecht für Juden, das überwiegend den Regeln über öffentlichrechtliche Pflichtarbeitsverhältnisse folgen sollte.[22] Wesentlich für das Eindringen nationalsozialistischer Wertvorstellungen in die Zivilrechtsprechung wurden dann vor allem die Generalklauseln[23], deren Funktion in der Gerichtspraxis[24] Rüthers anhand der guten Sitten in § 1 UWG,[25] von Treu und Glauben in § 242 BGB (hierzu konstatiert er willkürliche Analogieschlüsse je nach Ansicht des Richters)[26] sowie des wichtigen Grundes bei der Lösung von Dauerschuldverhältnissen darlegt,[27] wobei er in der Rechtsprechung des RAG 1939 zur fristlosen Kündigung von Arbeitsverhältnissen einen Wandel von der Orientierung an den wirtschaftlichen Folgen hin zu rassepolitischen Anschauungen konstatiert. Dagegen sei das RAG relativ lange zurückhaltend bei der Ausschließung eines jüdischen Gesellschafters aus wichtigem Grund gewesen.[28] Bei anderen Dauerschuldverhältnissen wurde dagegen die „Rassezugehörigkeit“ in der Rechtsprechung bereits früh als „bürgerlicher Tod“ einer Beendigung der (Dienst-)Pflicht durch den Tod des Dienstgebers gleichgesetzt;[29] jüdischen Dienstnehmern konnte mit dieser Rechtsprechung ohne rechtfertigenden Grund gekündigt und damit faktisch die Einnahmequelle entzogen werden. Rüthers bezeichnet die Generalklauseln denn auch als „Fenster, die das Licht des neuen Wertbewußtseins in das alte, überlieferte Normengebäude einlassen“,[30] wobei das Parteiprogramm der NSDAP als Maßstab für deren Ausfüllung diente.[31]

Weiterhin setzte sich Rüthers mit der Umbildung des Zivilrechts durch neue Begriffsbildung auseinander[32] und zeigte auf, wie etwa der für die Rechtsordnung ebenso zentrale wie zuvor völlig neutrale Begriff der Rechtsfähigkeit mit Blick auf den „Rechtsgenossen“ und damit den „Volksgenossen“ als seinen Träger einen Inhaltswandel erfuhr, aufgrund dessen nur noch dem Volksgenossen als Rechtsgenossen volle Rechtsfähigkeit zukommen sollte.[33] Volksgenosse sollte aber in der NS-Doktrin nur sein, wer deutschen Blutes ist; da dies in der NS-Rassenlehre insbesondere den jüdischstämmigen Personen per se abgesprochen wurde, verloren sie durch diese Neuinterpretation der Rechtsfähigkeit vielfach die Fähigkeit, selbst Rechte zu erwerben oder wenigstens behalten zu dürfen.

Besonders in der Kritik stand in der NS-Zeit auch das subjektive Recht, dem die sog. volksgenössische Rechtsstellung gegenüber gestellt wurde; Verteidiger des subjektiven Rechts betonten dessen Pflichtgebundenheit und interpretierten Rechtsmissbrauchsschranken nunmehr zu immanenten Begrenzungen um.[34] Auswirkungen hatte die Einschränkung subjektiver Rechte in der Rechtsprechung der NS-Zeit vor allem für die Rechte aus dem Eigentum und aus Verträgen.[35] Auch wenn bereits vor der NS-Zeit anerkannt war, dass dem Eigentum nicht nur Rechte, sondern auch (z.B. Verkehrssicherungs-)Pflichten immanent sind, wurde § 903 BGB in der NS-Zeit als „Ergebnis liberalistischen Rechtsdenkens“ scharf kritisiert;[36] in den Vordergrund trat ein Verständnis von Eigentum als bloßes Zuweisungsrecht in Bezug auf eine Sache an den Eigentümer als Treuhänder der Rechtsgemeinschaft.[37] Ein Freispruch vom Vorwurf der Brandstiftung gem. § 308 a.F. RStGB (heute § 306 StGB) durch das RG von Ende 1933,[38] weil der verbrannte Roggen im Eigentum des Täters gestanden habe, wurde daher scharf kritisiert.[39] Auch der Vertrag als Rechtsinstitut wurde einer inhaltlichen Neubestimmung unterzogen und nunmehr als „Einung“ bzw. personenrechtliche Gemeinschaft verstanden; die klassische Vertragsfreiheit wurde immer wieder angegriffen[40] und in der Rechtsprechung vor allem für Juden eingeschränkt.[41]

VII. Die Abkehr vom Analogieverbot im Strafrecht

 1. Kodifizierung und Konstitutionalisierung des Analogieverbots in § 2 RStGB und Art. 116 WRV

Der Grundsatz „nulla poena sine lege“ (Keine Strafe ohne Gesetz), wie ihn Paul Johann Anselm von Feuerbach als Grundlage seiner Strafzwecklehre zu Beginn des 19. Jahrhunderts formuliert und erstmals im Bayerischen Strafgesetzbuch von 1813 kodifiziert hat, gilt als Kern der Reformbewegung auf dem Gebiet des materiellen Strafrechts nicht nur in Deutschland. Über entsprechende Regelungen im preußischen StGB und im StGB für den Norddeutschen Bund fand er Eingang in § 2 des Reichsstrafgesetzbuchs vom 15.5.1871 („Eine Handlung kann nur dann mit einer Strafe belegt werden, wenn diese Strafe gesetzlich bestimmt war, bevor die Handlung begangen wurde“).[42] Im Kaiserreich war der Grundsatz „nullum crimen, nulla poena sine lege“ in seiner Geltung nicht bestritten.[43] Das zeigt das Diktum von Franz von Liszt, das Strafgesetzbuch sei die „Magna Charta des Verbrechers“, weil dieser durch dessen Lektüre erkennen können muss, was bei Strafe verboten ist, so dass er im Umkehrschluss aus der Nichtnennung einer Handlung ablesen kann, dass diese nicht strafbar sei.[44] War im 19. Jahrhundert diese Folge einer formalen Betrachtung des Kriminalstrafrechts völlig unbestritten, kam es im Verlauf des 20. Jahrhunderts zusehends zu Diskussionen um eine Materialisierung und Ethisierung des Strafrechts,[45] die gerade solche allein rechtstechnisch begründeten Unterschiede aus einer materiellen Perspektive nicht (mehr) ohne weiteres gelten lassen wollte.

Innerhalb eines – allerdings nicht unmittelbar geltenden – Grundrechtskatalogs enthielt die Weimarer Reichsverfassung auch eine Bestimmung zu „nullum crimen, nulla poena“; Art. 116 WRV lautete: „Eine Handlung kann nur dann mit einer Strafe belegt werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Handlung begangen wurde.

2. Dekonstruktion von nullum crimen, nulla poena sine lege

Die Machtübernahme durch die Nationalsozialisten führte binnen zwei Jahren dazu, dass das anerkannte und Prinzip „nullum crimen, nulla poena sine lege“ in sein Gegenteil eines „nullum crimen sine poena“ überführt worden ist. 

 a) Aushebelung der Verfassung durch die Reichstagsbrand-VO und das Ermächtigungsgesetz

Die (Not-)Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat vom 28.2.1933[46] folgte auf die Brandstiftung im Reichstagsgebäude und wird daher gemeinhin als „Reichstagsbrandverordnung“ bezeichnet. Sie setzte wichtige Grundrechte der WRV außer Kraft und beförderte die Gleichschaltung im Deutschen Reich. Damit war sie ein wesentliches Element auf dem Weg zur Abschaffung der Demokratie und zur Errichtung einer Willkürherrschaft durch die Nationalsozialisten. Allerdings fehlte Art. 116 WRV mit seiner Garantie von „nulla poena sein lege“ in der Aufzählung der ausgesetzten Grundrechte in § 1 der VO; deshalb und weil auch die inhaltsgleiche einfachgesetzliche Verbürgung in § 2 RStGB noch unangetastet bleiben sollte, hat die Reichstagsbrandverordnung zumindest formal noch nichts am Gesetzlichkeitsprinzip in der Strafjustiz geändert. Daran änderte auch nichts, dass in § 5 S. 1 dieser VO für Brandstiftung anders als zuvor auch die Todesstrafe vorgesehen wurde, denn nach der besten gebliebenen Logik von § 2 RStGB galt dies eben nur für nach Inkrafttreten der VO begangene Taten.

Demgegenüber erlaubte Art. 2 S. 1 des offiziell das Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich[47] bezeichneten Ermächtigungsgesetzes vom 24.3.1933 der Reichsregierung unter Adolf Hitler, Gesetze zu beschließen, die von der Reichsverfassung abweichen. Auch damit war „nulla poena sine lege“ noch nicht ausgehebelt, doch war Art. 116 WRV nicht länger mehr eine – freilich ohnehin nicht allzu starke – Schranke gegen eine einfachgesetzliche Aufgabe dieser Fundamentalnorm.

b) Die Lex van der Lubbe – Rückwirkung der Todesstrafdrohung bei Brandstiftung 

Gleichwohl war der am Anfang dieser Rechtsentwicklung hin zu einer Diktatur stehende Reichstagsbrand auch der Ausgangspunkt für eine Aufgabe zumindest von „nulla poena sine lege“, wenngleich noch nicht auch von „nullum crimen sine lege“. Grundlage war das als Lex van der Lubbe bezeichnete Gesetz über Verhängung und Vollzug der Todesstrafe vom 29.3.1933, welches in § 1 die in § 5 S. 1 der Reichstagsbrand-VO vorgesehene Todesstrafe für Brandstiftung nunmehr auch auf im Zeitraum zwischen dem 18.1. und dem 28.2.1933 begangene Taten erstreckte und damit rückwirkend die Strafe für diesen als solchen unveränderten Straftatbestand schärfte. Der relativ schmale rückwirkende Anwendungsbereich von gerade einmal 42 Tagen zeigt einerseits, dass die durch die Reichstagswahlen vom 5.3.1933 und das Ermächtigungsgesetz in ihrer Machtstellung gefestigte NS-geführte Reichsregierung immer noch zauderte, „nulla poena sine lege“ im Grundsatz anzugreifen. Der in der Aufzählung der faktisch durch das Ermächtigungsgesetz außer Kraft gesetzten Grundrechte fehlende Art. 116 WRV blieb auch durch diese Bestimmung formal in Kraft, wenngleich dadurch ein – formal schmaler, aber prinzipiell fundamentaler – Ausnahmefall statuiert worden ist. Auch verdeckt die genannte Zeitspanne nur mühsam, dass eigentlich ein Einzelfall geregelt werden sollte – eben der Reichstagsbrand, für den dessen (zumindest Mit-)Urheber Marinus van der Lubbe sowie die von den Nazis als Hintermänner verdächtigten Führer der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) und der Komintern in einem großen (Schau-)Prozess vor dem RG zum Tode verurteilt werden sollten. Im Reichstagsbrand-Prozess vor dem 4. Strafsenat des RG in Leipzig[48] vom 21.9. bis 23.12.1933 wurde denn auch der Namensgeber dieses Gesetzes selbst – wie von den Nazis beabsichtigt – unter Berufung auf die in der Lex van der Lubbe angeordneten rückwirkenden Todesstrafdrohung für schwere Brandstiftung (§ 307 RStGB) zum Tode verurteilt; entgegen dem Willen der neuen Machthaber wurden die vier anderen kommunistischen Angeklagten allerdings freigesprochen. Der Bruch mit „nulla poena sine lege“ durch den Gesetzgeber wurde damit von den obersten Strafrichtern des Reiches nachvollzogen. Gleichwohl sollte dies zunächst eine Ausnahme bleiben, denn neben Art. 116 WRV, der wie allgemein die Grundrechte in der WRV – und anders als heutzutage – ohnehin nicht gegen einfachgesetzliche Modifikationen gefeit war, blieb einfachgesetzlich auch § 2 RStGB mit seinem Grundsatz „nullum crimen, nulla poena sine lege“ unangetastet.

c) Die Reform des § 2 RStGB 1935: Vom Verbot strafbegründender Analogie zu deren Anordnung 

Die vom politischen Einzelfall losgelöste Fundamentalabkehr von dieser klassisch-rechtsstaatlichen Bestimmung erfolgte erst nach der vollständigen Gleichschaltung aller Strukturen sowie im Sommer 1934 der Bekämpfung interner Abweichler im sog. „Röhm-Putsch“ und der Vereinigung der Ämter von Staatsoberhaupt und Regierungschef nach dem Tod von Reichspräsident Paul von Hindenburg in der Hand von Adolf Hitler, der nunmehr als „Führer und Reichskanzler“ vollends zum Alleinherrscher avancierte.

Zum 28.6.1935 wurde § 2 RStGB völlig neu gefasst;[49] er hieß nunmehr: „Bestraft wird, wer eine Tat begeht, die das Gesetz für strafbar erklärt oder die nach dem Grundgedanken eines Strafgesetzes und nach dem gesundem Volksempfinden Bestrafung verdient. Findet auf die Tat kein bestimmtes Strafgesetz unmittelbar Anwendung, so wird die Tat nach dem Gesetz bestraft, dessen Grundgedanken auf sie am besten zutrifft.“ Aus dem Analogieverbot in malam partem ist damit nicht bloß eine Erlaubnis strafbegründender Analogie geworden; vielmehr gibt diese Norm dem Richter vor, mittels einer solchen Analogie unter Heranziehung der am ehesten passenden Strafnorm Straflosigkeit zu vermeiden, wenn das „gesunde Volksempfinden“ dies erfordert. Damit statuierte der Gesetzgeber im Lichte der NS-Rechtslehre eine vollständige Umkehr vom rechtsstaatlichen „nullum crimen sine lege“ zum vermeintlich materiell gerechteren „nullum crimen sine poena“. Maßgeblich sollte aber weiterhin, wie sich aus dem ebenfalls neu gefassten § 2a Abs. 1 RStGB ablesen lässt, das zur Tatzeit geltende Recht sein. Soweit also ein Straftatbestand direkt angewandt werden konnte, gab es keine Rückwirkung; und bei der vorgeschriebenen Analogie blieb das heranzuziehende, nach dem Grundgedanken am besten passendste Gesetz dasjenige zur Tatzeit, so dass etwa eine nach der Tatzeit erfolgte Strafschärfung weder bei direkter noch bei analoger Anwendung der Strafnorm vorgesehen war.

d) Kindesraub- und Autofallen-Gesetz mit ausdrücklicher Rückwirkung 

Ein knappes Jahr später, am 22.6.1936, wurde dann erstmals ein Tatbestand im RStGB mitsamt der (obligatorischen Todes-)Strafdrohung rückwirkend in Kraft gesetzt. Während Art. 1 des Gesetzes gegen erpresserischen Kindesraub vom 22.6.1936[50] mit § 239a eine neue Strafnorm gegen Kindesentführung in das RStGB einstellte, statuierte Art. 2 ebenso knapp wie im Lichte nunmehr von „nullum crimen sine poena“ fundamental neu: „Dieses Gesetz tritt mit Wirkung vom 1. Juni 1936 in Kraft“. Selbst wenn der Zeitraum der diesmal – anders als noch bei der „Lex van der Lubbe“ – auch tatbestandlichen Rückwirkung hier mit drei Wochen relativ knapp bemessen war, wurde damit vollends klargestellt, dass der NS-Strafgesetzgeber auf aus seiner Sicht strafwürdiges Fehlverhalten, welches von den existenten Straftatbeständen auch bei ihrer analogen Anwendung gerade in Ansehung der Strafdrohung nicht angemessen erfasst werden konnte, vom Gesetzgeber jederzeit rückwirkend überhaupt einer Bestrafung oder jedenfalls einer massiven Strafschärfung unterworfen werden konnte.

Noch deutlicher wurde dies dann mit dem am 22.6.1938 erlassenen Gesetz gegen Straßenraub mittels Autofallen (Reichsautofallengesetz)[51], das sogar zeitlich vor der vorgenannten Strafnorm nicht weniger als zweieinhalb Jahre zurückwirkend bereits zum 1.1.1936 in Kraft gesetzt wurde. Es erschöpfte sich in folgender Regelung: „Wer in räuberischer Absicht eine Autofalle stellt, wird mit dem Tode bestraft“. Der Grund war, dass in einem zur Zeit des Erlasses des Gesetzes laufenden Strafprozess gegen zwei Brüder, die ab 1936 unter Einsatz sog. Autofallen Raubüberfälle verübt hatten, fraglich war, ob für beide die Todesstrafe verhängt werden konnte. Um dies sicherzustellen, griff der NS-Gesetzgeber in dieser Weise ein. Eine Zurückweisung dieser rechtswidrigen Zumutung durch die Strafjustiz war für die NS-Führung längst nicht mehr zu befürchten.

Auch wenn solche rückwirkenden Strafschärfungen in der NS-Gesetzgesetzgebung die Ausnahme geblieben sind, wurde doch damit allen Rechtsanwendern klargemacht, dass es in der NS-Zeit nicht mehr auf überkommene rechtsstaatliche Grundsätze, sondern auf eine an vermeintlichen Wert- oder Gerechtigkeitsvorstellungen orientierte Willkür im Sinne der NS-Doktrin ankommen sollte.

 e) Die Rechtsprechung des Reichsgerichts zu Rückwirkung und Analogie

Es ist hier nicht der Raum für eine umfassende Studie zur Akzeptanz dieser schrittweisen Abkehr von „nullum crimen, nulla poena sine lege“ in der Rechtsprechung während der NS-Herrschaft. Allerdings zeigte ja bereits der Reichstagsbrandprozess, dass das RG als oberste Instanz in Strafsachen keine Skrupel hatte, eine erst mit der Reichstagsbrand-VO unmittelbar nach der Tatbegehung eingeführte (Todes-)Strafdrohung rückwirkend auch anzuwenden.

Ein Blick in die in der amtlichen Sammlung des RG veröffentlichten, nach der Neufassung des § 2 RStGB ergangenen höchstrichterlichen Entscheidungen zeigt, dass es nicht selten um die in § 2 RStGB vorgesehene „entsprechende Anwendung“ von Strafnormen nicht nur aus dem RStGB gegangen ist. Allein in den drei Bänden ab Ende 1935 (RGSt, Band 70-72) finden sich ausweislich der Register nicht weniger als 47 Einträge hierzu. In der weit überwiegenden Zahl bejaht das RG dabei eine Zulässigkeit bzw. Möglichkeit der Analogie; deutlich seltener wird sie verneint, wobei es auch Fälle gibt, in denen etwa eine Schuld nicht nachgewiesen worden ist. Gelegentlich gezogene Grenzen wie etwa, dass eine Rückwirkung der Analogiererlaubnis auf Sachverhalte vor Inkrafttreten des § 2 RStGB nicht zulässig sei[52] bleiben letztlich innerhalb der Vorgaben des NS-Gesetzgebers, der ja in § 2 RStGB zwar ein Analogiegebot, aber gerade keine Rückwirkung desselben statuiert hat; immer wieder geht es aber auch über die gesetzlichen Grenzen hinaus, wenn es etwa die Strafnormen des Blutschutzgesetz gegen sog. „Rassenschande“ entgegen § 3 RStGB auch auf Taten im Ausland erstrecken will[53] – damit wurden Juden verfolgt, die gerade in Befolgung des Verbots eines sexuellen Verkehrs mit Nichtjüdinnen im Reich ins Ausland ausgewichen sind. Auch sollte § 2 RStGB zur Anwendung kommen, wenn – anders als dort vorgesehen – zwar eine Strafnorm einschlägig ist, diese aber aus Sicht des RG und damit unter Einbeziehung des gesunden Volksempfindens keine angemessene Bestrafung zulässt.[54] Letztlich gilt mit Blick auf die Gesamtheit der Analogie-Entscheidungen des RGbereits kurz nach Inkrafttreten des neuen § 2 RStGB (und noch nicht unter den Bedingungen des Krieges) wohl, dass die Ausnahme die Regel (der willigen Anwendungsbereitschaft durch die Richter am RG, die wohl allesamt ihre juristische Ausbildung lange vor der NS-Zeit und damit unter Geltung des Gesetzlichkeitsprinzips absolviert haben) bestätigt. 

VIII. Nachwirkungen: Die Rückkehr einzelner jüdischer Juristen in die bundesdeutsche Justiz

Die rasante Vertreibung aller jüdischstämmiger Personen aus der Justiz und der Rechtswissenschaft sowie nach und nach auch aus der Anwaltschaft führte dazu, dass nach dem Ende der NS-Zeit nur noch eine verschwindend geringe Zahl an jüdischstämmigen Juristen im Nachkriegsdeutschland für einen Wiederaufbau einer rechtsstaatlichen Justiz zur Verfügung standen; am rechtspolitischen Wiederaufbau mitgewirkt haben an maßgebender Stelle etwa Walter Strauß (1900-1976)[55], der als CDU-Rechtspolitiker ab 1949 Staatssekretär im Bundesjustizministerium und später Richter am EuGH wurde, sowie sein “Gegenspieler” und “Kronjurist” der SPD Adolf Arndt (1904-1974).[56] Demgegenüber waren nicht nur ihre Positionen in Justiz, Verwaltung, Anwaltschaft und Wissenschaft stets unverzüglich durch nachrückende “arische” Juristen besetzt worden, die hier auch bis zum “bitteren Ende” des zweiten Weltkrieges die Stellung hielten und häufig Karriere machten; nur ganz wenige engagierten sich im Widerstand und wurden hierfür auch vereinzelt bestraft, manche zogen sich zurück oder konzentrierten sich in der Rechtswissenschaft etwa auf vergleichsweise unverfängliche historische Forschungen. Jüdischstämmige Personen, die noch länger in der Anwaltschaft oder Wirtschaft tätig bleiben konnten, wurden im Verlauf des Krieges – wie etwa Adolf Arndt – zunehmend als für ihre Dienste entbehrlich für einen gefährlichen Fronteinsatz eingezogen. Sie standen nach dem Zusammenbruch für den Wiederaufbau zur Verfügung. Dazu kamen relativ wenige Remigranten, die im Exil die NS-Zeit mehr schlecht als recht – denn für Juristen war und ist naturgemäß ein Job im zumal fremdsprachigen Ausland nicht leicht zu finden – überstanden hatten.

Eine gerade für die Universität Köln wichtige Persönlichkeit war Ernst Wolff (1877-1959), der aufgrund jüdischer Abstammung zunehmend entrechtet, 1935 aus seinem Notariat verdrängt und 1938 kurz vor dem Entzug der Zulassung für jüdische Rechtsanwälte in Deutschland nach England emigriert war; nach seiner Rückkehr wurde er Richter und 1949 Präsident des Obersten Gerichtshofs für die Britische Zone (OGH).[57] Als es um die Präsidentschaft des an dessen Stelle tretenden BGH ging, wurde ihm aber vom Bundesjustizminister der frühere Reichsgerichtsrat Hermann Weinkauff vorgezogen.

Der verfilmte Roman “Landgericht” von Ursula Krechel, erschienen 2012, ist ebenfalls an ein tatsächliches Schicksal eines jüdischen Juristen angelehnt, der vor 1933 in Berlin als Richter tätig war, nach Kuba flüchtete und nach dem Krieg in die westdeutsche Justiz – eben an das LG in Mainz – zurückkehrte. Dort erhielt er zwar eine ordentliche Stelle als Kammervorsitzender, wurde aber von den anderen Richtern darauf angesprochen, dass er es ja gut gehabt habe, denn er habe – anders als sie, die trotz der Gefahr auf ihrem Posten in der deutschen Justiz ausgeharrt haben, – die Luftangriffe nicht mitbekommen.

Als drittes Beispiel möchte ich einen ganz persönlichen Fall schildern. An der Humboldt-Universität habe ich mich mit Person und Werk von James Goldschmidt (1874-1940), einem seinerzeit bekannten Kriminalisten und Prozessualisten befasst und dazu publiziert.[58] Daraufhin erreichte mich Jahre später der Anruf seines Neffen, des Sohnes des Bruders von James Goldschmidt, der am OLG Köln als Zivilrichter und an der Universität zu Köln als Honorarprofessor gewirkt hatte, bis ihn die Nazis vertrieben hatten. Obwohl er – wie auch schon die Eltern von ErnstWolff – vor der NS-Zeit zum Christentum konvertiert waren, wurden sie von den Nazis erbittert verfolgt und entrechtet.

 IX. Die Schuld des Positivismus?

Unmittelbar nach dem Krieg wurde von vielen Juristen – auch solchen, die wie Gustav Radbruch in der NS-Zeit verfolgt oder kaltgestellt worden waren – vertreten, der Positivismus im Sinne einer strikten Bindung an das zügig von den NS-Machthabern in ihrem Sinne gewandelte Gesetz habe die Justiz gegenüber den damit verbundenen Zumutungen wehrlos gemacht.[59] Mit Blick auf das vorliegenden Thema des Antisemitismus heißt dies insbesondere, dass sie wegen ihrer formalen Gesetzesbindung der gesetzlichen Entrechtung der Juden nichts entgegenzusetzen hatte. Radbruch selbst sieht denn auch einzelne der NS-Rechtsquellen als unerträglich ungerecht oder als derart gleichheitswidrig an, dass sie nicht einmal als Gesetz bzw. Recht angesprochen werden können.

Das greift aber zu kurz, denn die Justiz akzeptierte von Anfang an den Rausschmiss aller jüdischen Kollegen ebenso wie eine zügige Uminterpretation unverändert gebliebener Rechtsakte im Sinne der NS-Machthaber. Und selbst von diesen gemachte Gesetze wendete sie nicht nur pflichtschuldigst auch rückwirkend an; vielmehr ging sie selbst über die vom NS-Gesetzgeber kurz zuvor explizit gesetzten Grenzen hinaus, indem etwa “Rassenschande” nicht mehr bloß im Reich, sondern letztlich für alle formal hier lebenden – aber in ihrer Rechtsstellung längst diskriminierten – Juden und jüdischstämmigen Männern weltweit unter Strafe gestellt wurde.

Das Positivismus-Argument war letztlich eine Reinwaschung der Juristen in der NS-Zeit, die nicht nur innerhalb der Justiz unverzüglich die Positionen ihrer jüdischen Kollegen übernommen und der Marginalisierung aller jüdischstämmigen Juristen tatenlos zugesehen, sondern das zuvor gerade auch unter Mitarbeit jüdischer Juristen auf Freiheit aufgebaute Rechtssystem in eine auf den Pflichtgedanken gebaute Zwangsordnung uminterpretiert haben, welche sich vor allem und von Anfang an gegen die Rechte jüdischer Mitbürger wandte, bis diese im Verlauf des Krieges – sofern sie nicht fliehen konnten – letztlich allein noch durch die Polizei und Gestapo be- bzw. misshandelt und schließlich physisch vernichtet wurden.[60]

X. Fazit

Von einem Hort der Rechtsstaatlichkeit, der allen Bürgern gleichermaßen, aber damit gerade auch den Angehörigen von Minderheiten gleiche Rechte garantierte und durchsetzte, wandelte sich die deutsche Justiz bereits 1933 unmittelbar nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten und unter der Ägide eines vormals nicht aus der NSDAP stammenden Justizministers zu einer Institution, die im Zweifel mit nahezu jedem (Auslegungs-)Mittel mitgeholfen hat, Juden sogleich zu Bürgern zweiter Klasse zu machen und damit die egalitäre Rechtsordnung der bürgerlichen Gesellschaft abzuschaffen, bevor man dann in der Shoah die noch verbliebenen Juden physisch vernichtete. Der Rausschmiss der jüdischen Juristen bei gleichzeitiger Ausrichtung der Rechtsordnung auf die NS-Ideologie, so dass Rechte und Freiheiten vor allem der jüdischen Mitbürger nicht mehr mit Erfolg eingeklagt werden konnten, machte die Justiz von Anfang an zu einem wichtigen Instrument bei der effektiven Durchsetzung des Antisemitismus als der ideologischen Grundlage des NS-Regimes.

 

[1]      Zu diesem ausf. Reitter, Franz Gürtner, politische Biographie eines deutschen Juristen, 1976.
[2]      Zu diesem Zeitraum näher Gruchmann, Justiz im Dritten Reich 1933–1940: Anpassung und Unterwerfung in der Ära Gürtner, 3. Aufl. (2001).
[3]      Vgl. nur Gritschneder, Bewährungsfrist für den Terroristen Adolf H.: Der Hitler-Putsch und die bayerische Justiz, 1990.
[4]      Zur Verdrängung jüdischer Rechtswissenschaftler an der damaligen Berliner Universität näher Gräfin Lötsch, Der nackte Geist, 1999.
[5]      Dazu vgl. Emmerich, Olympia 1936. Trügerischer Glanz eines mörderischen Systems, 2011; Rürup, Die Olympischen Spiele und der Nationalsozialismus, 1996; Fuhrer, Hitlers Spiele – Olympia 1936 in Berlin, 2011. 
[6]      Vgl. dazu etwa Schaulinski/Spies, Berlin 1937 – Im Schatten von morgen, 2017 (Ausstellungskatalog des Stadtmuseums Berlin); Falanga, Berlin 1937 – Die Ruhe vor dem Sturm, 2007.
[7]      Vgl. dazu auch Hauser, Die Berliner Kriminalpolizei in Republik und Nationalsozialismus, 2024.
[8]      Dazu Wehler, WaG 23 (1963), 27 ff.; ausf. schon Schenk, Der Fall Zabern, 1927.
[9]      Gumbel, Vier Jahre politischer Mord, 1922.
[10]    RG, Urt. v. 23.11.1931 – Az. 7 J 35, XII L 5/31; dazu rückblickend Jungfer/Müller, NJW 2001, 3461 ff.
[11]    Zu diesem Kleindiek, NJW 1993, 1295 ff.
[12]    Vgl. Krüger/Lahusen, Max Hachenburg: Wie eine Riesenwoge rauscht das Schicksal auf uns zu – Kolumnen in der Deutschen Juristen-Zeitung 1918-1833, 2022, S. 53.
[13]    Zu den allein in Berlin ab 1933 nach und nach eliminierten jüdischen Rechtsanwälten sehr anschaulich Ladwig-Winters, Anwalt ohne Recht, 3. Aufl. (2022).
[14]    Vgl. dazu nur Krach, Jüdische Rechtsanwälte in Preußen. Über die Bedeutung der freien Advokatur und ihre Zerstörung durch den Nationalsozialismus, 1991.
[15]    Krüger/Lahusen (Fn. 12), S. 374 ff.
[16]    Zu diesem Höltig, Palandt-Diskussion: Wer war eigentlich Otto Liebmann?, LTO, 18.12.2017, online abrufbar unter: https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/palandt-bleibt-palandt-namensgeber-otto-liebmann-umbenennung (zuletzt abgerufen am 11.9.2024).
[17]    Dazu nur Th. Vormbaum, Die „Lex Emminger“, 1988.
[18]    Ausf. Eschenburg, Der Weg ins Dritte Reich, 1918-1933, 1983.
[19]    Dazu nur Peschel-Gutzeit, Das Nürnberger Juristen-Urteil von 1947 – historischer Zusammenhang und aktuelle Bezüge, 1996; Kastner, JA 1997, 69 ff.
[20]    Der folgende Text beruht auf der Rezension von Verf. zu Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, 6. Aufl. (2006) in: ZIS 2007, 138 ff.; die Nachweise auf Rüthers im folgenden Text beziehen sich auf diese Ausgabe.
[21]    Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, S. 202.
[22]    Rüthers (Fn. 21), S. 204 ff.
[23]    Rüthers (Fn. 21), S. 220 ff.
[24]    Rüthers (Fn. 21), S. 226 ff.
[25]    Rüthers (Fn. 21), S. 229 ff.
[26]    Rüthers (Fn. 21), S. 224 ff.
[27]    Rüthers (Fn. 21), S. 237 ff.
[28]    Rüthers (Fn. 21), S. 255 f.
[29]    Rüthers (Fn. 21), S. 258 f.
[30]    Rüthers (Fn. 21), S. 264.
[31]    Rüthers (Fn. 21), S. 266.
[32]    Rüthers (Fn. 21), S. 317 ff.
[33]    Rüthers (Fn. 21), S. 330 ff.
[34]    Rüthers (Fn. 21), S. 336 ff.
[35]    Rüthers (Fn. 21), S. 347 ff.
[36]    So Hoche, in: Palandt, BGB, 6. Aufl. (1944), § 903 Anm. 1.
[37]    Rüthers (Fn. 21), S. 351 ff.
[38]    RG, JW 1934, 171.
[39]    Rüthers (Fn. 21), S. 356.
[40]    Rüthers (Fn. 21), S. 360 ff.
[41]    Rüthers (Fn. 21), S. 376 ff.
[42]    Die folgenden Überlegungen bauen auf einen Beitrag von Verf. in den Miscellanea Historico-Iuridica XX, Bd. 2, 2021, S. 9 ff. auf.
[43]    Das galt allerdings nicht für das von 1886 bis 1918 bestehende deutsche Kolonialreich, in dem gegenüber der lokalen Bevölkerung auch nicht kodifiziertes Richterrecht zur Anwendung kommen konnte (dazu Naucke, RJ 7 [1988], 297 [301]) und auch nicht für das in den im 1. Weltkrieg besetzten Gebieten gegenüber der dortigen Bevölkerung anwendbaren deutschen (Polizei-)Strafrecht (dazu Goldschmidt, ZStW 37 [1916], 52 [66]).
[44]    Krit. zu dieser Wortwahl Th. Vormbaum, JZ 2014, 240 f.
[45]    Dazu nur Th. Vormbaum, Entwicklungsphasen des Strafgesetzbuchs, in: Handbuch des Strafrechts, Bd. 1, 2019, § 9 Rn. 70 ff.
[46]    RGBl. 1933, S. 83. – Dazu Raithel/Strenge, VfZ 48 (2000), 413 ff.
[47]    RGBl. 1933, S. 141.
[48]    Bahar, Der Reichstagsbrandprozess, in: Groenewold/Ignor/Koch, Lexikon der Politischen Strafprozesse, Oktober 2019, online abrufbar unter: https://www.lexikon-der-politischen-strafprozesse.de/glossar/reichstagsbrand-prozess-1933/ (zuletzt abgerufen am 11.9.2024); Deiseroth, KJ 2009, 303–316.
[49]    RGBl. 1935, S. 839.
[50]    RGBl. 1936, S. 493.
[51]    RGBl. 1938, S. 651.
[52]    RGSt 71, 341.
[53]    RGSt 72, 91 und 95.
[54]    RGSt 72, 50.
[55]    Zu diesem ausf. Utz, Preuße, Protestant, Pragmatiker: der Staatssekretär Walter Strauß und sein Staat, 2003.
[56]    Zu diesem Heger, JZ 2024, 28 ff.
[57]    Zum OGH Rüping, NStZ 2000, 355 ff.; ausf. Ohlenroth, Der Oberste Gerichtshof für die Britische Zone und die Aufarbeitung von NS-Unrecht, 2020.
[58]    Zu diesem Heger, JZ 2010, 637 ff.; ders., in: Grundmann et al., FS 200 Jahre Juristische Fakultät der HU Berlin, 2010, S.  477 ff.
[59]    Vgl. Radbruch, SJZ 1946, 105 ff.
[60]    Dazu ausf. Werle, Justiz-Strafrecht und polizeiliche Verbrechensbekämpfung im Dritten Reich, 1989.

 

 

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