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Eine Theorie der Integrität der Strafrechtspflege Die Dekonstruktion des „Vertrauens der Allgemeinheit und der Prozessbeteiligten in die Integrität der Strafrechtspflege“ anlässlich des § 32 GVG-E

von Wiss. Mit. Bedirhan Erdem, LL.M. (Bilkent), LL.M. (HU Berlin)

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Abstract
Das Strafprozessrecht steht unter Leistungsdruck. Gewünscht wird ein faires, effektives, funktionstüchtiges und zunehmend auch ein „integres“ Strafverfahren. Den Beweis der effizienten Gewährleistung prozeduraler Gerechtigkeit muss die Strafrechtspflege laufend neu erbringen, damit kein Teil der Gesellschaft ernsthaft befürchten muss, dass Schuldige den Gerichtssaal auf freiem Fuß verlassen oder zu Unrecht übermäßig bestraft sowie Unschuldige verurteilt werden. Die rechtspolitische Dimension des Strafverfahrens reicht über die bloße Summe seiner gesetzlichen Regelungen hinaus. Dies zeigt sich besonders in der 5. GVG-Novelle, die das Vertrauen der Allgemeinheit in die Integrität der Strafrechtspflege als normatives Ziel anerkennt. Diese Entwicklung wirft jedoch die grundsätzliche Frage auf, ob das Strafverfahrensrecht dazu bestimmt ist, gesellschaftliche Erwartungen und politische Wahrnehmungen zu erfüllen, oder ob es sich primär an objektiven rechtsstaatlichen Maßstäben orientieren sollte. Diese Arbeit dekonstruiert diesen rechtspolitischen Ansatz und postuliert, dass das Strafverfahrensrecht nicht den gesellschaftlichen Erwartungshaltungen unterworfen sein darf, sondern stets eine distanzierte Position einnehmen sollte. Denn das Strafprozessrecht vermag den politisch geprägten Wahrnehmungen der Öffentlichkeit keinen rechtsstaatlich fundierten Schutzrahmen zu bieten und darf sich nicht an deren Schwankungen ausrichten.

The law of criminal procedure is subject to performance pressure. There is a growing demand for criminal proceedings that are fair, effective, functional, and increasingly characterized by „integrity.“ The criminal justice system must continuously demonstrate its capacity to ensure procedural justice efficiently to prevent any segment of society from seriously fearing that the guilty might leave the courtroom unpunished, that wrongful convictions might occur, or that innocent individuals might be subjected to criminal sanctions. The legal-political dimension of criminal procedure extends beyond the mere sum of its statutory provisions. This is particularly evident in the Proposed Fifth Amendment to the Courts Constitution Act (5. GVG-Novelle), which explicitly acknowledges public confidence in the criminal justice system’s integrity as a normative objective. However, this development raises a fundamental question: Should criminal procedural law be designed to accommodate societal expectations and political perceptions, or must it adhere strictly to objective standards of the rule of law? This study deconstructs the underlying legal-political approach and asserts that criminal procedural law must not be subject to prevailing societal expectations but should deliberately detach from them. The normative framework of criminal procedure cannot be molded to accommodate politically influenced public perceptions, nor should it be subjected to their fluctuations. This study aims to critically analyze and deconstruct the relationship between the confidence of the public and procedural participants in the integrity of criminal justice and the proposed amendment to Section 32 of the Courts Constitution Act, all while proposing a theory of criminal justice integrity.

I. Einleitung

„Vertrauen der Allgemeinheit und der Prozessbeteiligten in die Integrität der Strafrechtspflege“ ist nicht als neuer Diskurstopos im Strafprozessrecht aufzufassen, insbesondere wenn seine richterrechtliche Fortbildung im Auge behalten wird. Mit seiner Anerkennung als rechtspolitischer Zweck durch die 5. GVG-Novelle verdient es seine eigene theoretische Behandlung, und zwar mithilfe der Institutions- und Rollenlehre unter Wechselwirkung von Straf- und Strafprozessrecht. Damit sich die institutionelle Integrität der Strafrechtspflege in ihrem objektiv feststellbaren Deutungsrahmen bestimmen lässt, nimmt die vorliegende Arbeit diesen Topos mit folgenden drei dekonstruktiven Fragen[1] unter die Lupe: Greift jedes deviante bzw. normabweichende Verhalten von Strafvollzugs- oder Verfolgungs- sowie Justizbehörde von sich aus in die institutionelle Integrität der Strafrechtspflege ein? (II. 1.) Welche Umstände lassen die Vermutung zu, dass die institutionelle Integrität der Strafrechtspflege faktisch und rechtlich beeinträchtigt wird? (II. 2.) Warum muss das Vertrauen der Allgemeinheit und der Prozessbeteiligten zur Ergänzung der Integrität der Strafrechtspflege hinzutreten? (IV. 1.) Damit kommt die Arbeit auf ihre Schlussfrage zu, ob sich das Strafprozessrecht institutionell auf die gefühlten Wahrheiten des politischen Lebens einzurichten hat (IV. 2.). Die Dekonstruktion gelangt zu dem Ergebnis, dass die Integrität der Strafrechtspflege nicht durch subjektive Vertrauensbekundungen bestimmt werden kann, sondern sich aus objektiven Maßstäben der institutionellen Rollenverteilung und der hierarchischen Machtausübung ableiten muss (III.). Folglich sollte § 32 GVG-E nicht in der vorgeschlagenen Fassung in Kraft treten, da er den Integritätsbegriff in eine unzulässige Abhängigkeit von politischen Vertrauensdiskursen versetzt und dadurch die institutionelle Eigenständigkeit der Strafrechtspflege potenziell untergräbt (V.).

II. Integrität der Strafrechtspflege unter Wechselwirkung von Strafrecht und Strafprozessrecht

Die institutionelle Integrität einer gesellschaftlichen oder rein wirtschaftlichen Einrichtung (wie etwa die der „Kreditwirtschaft“ gem. § 265b StGB[2]) bildet ein beim Gesetzgeber beliebtes, wenngleich vonseiten der Literatur und namentlich der systemkritischen Rechtsgutslehre heftig kritisiertes[3] Schutzgut diverser Straftatbestände. Hierzu zählt auch die Integrität der Strafrechtspflege. Allerdings wird diese in den Rechtspflegedelikten des materiellen Strafrechts nicht immer als selbständiges Schutzinteresse fassbar, weil sich der strafrechtliche Schutz dort überwiegend nicht auf die Integrität der Strafrechtspflege beschränkt, sondern auf die staatliche Rechtspflege[4] insgesamt ausgerichtet ist.[5]Dieser feine Unterschied im Schutzumfang bedingt zugleich einen Unterschied in der Angriffsrichtung. Bei Tatbeständen, die Angriffe auf die Institution und Funktionsfähigkeit der Rechtspflege als solche umschreiben (z.B. §§ 138 ff., §§ 145d, 153 ff., 164, 258 StGB), kommen sowohl Handlungen von außen als auch von innerhalb der Rechtspflege als taugliche Tathandlungen in Betracht.[6] Die Integrität der Strafrechtspflege hingegen kann als Schutzgut nur durch Innenangriffe verletzt werden.[7] Neben seiner Rolle als ratio legis verschiedener Straftatbestände beginnt der „Schutz der institutionellen Integrität“ der Strafrechtspflege zunehmend auch im deutschen strafprozessrechtlichen Diskurs aufzutauchen und scheint sich dort zudem von seiner kontroversen Stellung innerhalb der rechtsgutstheoretischen Debatte zum materiellen Recht gut abgegrenzt und erfolgreich abgekoppelt zu haben.

1. Schutzwürdigkeit der institutionellen Integrität der Strafrechtspflege

Die Debatte um die rechtsdogmatische Grundlage der institutionellen Integrität der Strafrechtspflege, die als ratio legis zahlreicher Straftatbestände dient, ist dem Strafprozessrecht begrifflich zwar weniger vertraut als dem materiellen Strafrecht. Nicht selten entfaltet sich die Diskussion vielmehr in der Wechselwirkung zwischen Strafrecht und Strafprozessrecht. Dafür dient § 339 StGB als ein gutes Beispiel,[8] der den Schutz der innerstaatlichen Rechtspflege mit deren institutionellen Integrität gleichsetzt.[9] Die institutionelle Integrität der Strafrechtspflege taucht grundsätzlich im rein verfahrensrechtlichen Diskurs ohne deren strafrechtlichen Deutungsrahmen auf, und zwar immer unter Verweis auf ein vorangegangenes Dienstvergehen oder eine amtliche Pflichtverletzung, wie etwa in Liebesaffären, in denen ein Vollzugsbeamter bzw. eine Vollzugsbeamtin eine Liebesbeziehung mit einer oder einem Gefangenen unterhält.[10] Der Justizvollzugsbeamte steht nicht mehr in der gleichen Distanz zu denjenigen, mit denen er in einem hierarchischen Machtverhältnis steht, welches die Dispositionsbefugnis des Gefangenen über die eigene sexuelle Autonomie gegenüber dem Amtsträger in der JVA gem. § 174a Abs. 1 StGB von vornherein ausschließt.[11] Auch soweit in derartigen Fällen die strafrechtliche Verantwortlichkeit aufgrund der richterrechtlich geschaffenen Rechtsfigur der sog. echten bzw. reinen Liebesbeziehung[12] entfällt, liegt immer noch eine Amtspflichtverletzung vor.[13] Schließlich handelt es sich um eine erhebliche Abweichung von dem Verhaltensmuster, das Amtsträger gesetzlich hätten einhalten müssen und das in der konkreten Situation institutionell erwartet werden kann.[14]

Im Fokus steht dabei die Unterscheidung jener Pflichtverletzungen, die über das individuelle Fehlverhalten eines Amtsträgers hinausgehen. Es gilt zu erörtern, welche normabweichenden Handlungen als relevant zu qualifizieren sind, indem sie einen festgelegten, vom Ermessen unabhängigen Verhaltensstandard verletzen, der dem Erhalt der institutionellen Eigenständigkeit dient. Erst im weiteren Verlauf der Dekonstruktion soll sich der präzisierte Integritätsbegriff herauskristallisieren, der die Zuschreibung einer Integritätsverletzung zu einer bestimmten Amtspflichtverletzung ermöglicht. Dies entspricht der methodologischen Herangehensweise der vorliegenden Arbeit, die mit der kritischen Hinterfragung der vermeintlichen Selbstverständlichkeit des „Vertrauens der Allgemeinheit und der Prozessbeteiligten in die Integrität“ einsetzt, auf den dekonstruktiven Fragestellungen aufbaut, eine systematische Reflexion über den Integritätsbegriff vornimmt und schließlich zu dessen präziser Definition gelangt.

Im Kontext der institutionellen Integrität der Strafrechtspflege impliziert jeder Verstoß gegen die Integrität notwendigerweise eine Amtspflichtverletzung. Die vorliegende Dekonstruktion beginnt daher mit der Frage, ob, inwieweit und unter welchen Voraussetzungen eine Amtspflichtverletzung als Grundlage einer Integritätsverletzung zu werten ist – oder ob jede Abweichung vom amtlichen Verhaltensmuster die institutionelle Integrität der Strafrechtspflege tangiert (erste dekonstruktive Frage). Es lässt sich zunächst argumentieren, dass nicht jede Amtspflichtverletzung per se eine Integritätsverletzung indiziert. Soweit ein amtliches Verhaltensmuster aber einer der Funktionen[15] entspricht, die dem Erhalt der institutionellen Eigenständigkeit dienen, und das von diesem Verhaltensmuster abweichende Verhalten des Amtsträgers (normabweichendes Verhalten) diese Funktion unmittelbar verletzt, könnte der Integritätsverstoß in Betracht kommen. Damit das normabweichende Verhalten die institutionellen Funktionen beeinflussen kann, muss es sich um ein vorbestimmtes Verhaltensmuster handeln, das vom Ermessen des Amtsträgers abgekoppelt ist. Es kommt nämlich darauf an, dass sich das gesetzliche Muster aus Sicht eines objektiven Betrachters nicht als Handlung eines einzelnen Amtsträgers, sondern als selbständiger Akt der Institution beschreiben lässt.[16] Die institutionelle Integrität muss vor den Angriffen von Einzelnen, die diese Institution ausmachen, geschützt werden, sofern der „institutionelle Akt“[17] (dazu sogleich) und der Akt von Einzelnen nicht zusammenfallen. Dies impliziert, dass die institutionelle Integrität dem Schutz vor Angriffen durch einzelne Institutionsträger unterliegt – und zwar insoweit, als der institutionelle Akt und die individuellen Handlungen nicht kongruent miteinander verschmelzen.[18] Wenn sich das Muster nach Ermessen des Einzelnen einmalig oder mehrmalig ausgestalten lässt, so bedarf die Institution keines Schutzes vor solchen Verhaltensweisen, die ohne weiteres der Institution zuzurechnen sind. Entscheidend ist hierbei die Richtung der Machtausübung,[19] also das vertikale (asymmetrische) oder das horizontale (symmetrische) Machtverhältnis.[20]

Unter einem „institutionellen Akt“ ist zuerst der Akt in der Institution zu verstehen, der die eigene Struktur von außen (Bezugsgruppe) wahrnehmbar macht und sich gegen zeitliche und räumliche Herausforderungen auf Dauer stellt.[21] Akte in der Institution sind jene Handlungen, durch die die Bezugsgruppe einer Institution diese so wahrnimmt, als besitze sie ein verkörpertes Wesen mit eigener zeitlicher und räumlicher Selbständigkeit.[22] Bei ihnen stehen die Einzelnen miteinander im horizontalen Machtverhältnis, in dem die Machtstellungen der Einzelnen symmetrisch oder zumindest vergleichbar sind,[23] oder wo keine erhebliche Ressourcendifferenz zwischen Machtinhaber und Bezugsgruppe besteht.[24] Damit nicht zu verwechseln aber ist der Akt der Institution, wo Machtinhaber immer institutionsbedingt mehr Ressourcen besitzen als die Bezugsgruppe.[25] Die beiden Formen der Akte dienen in gewissem Maß der institutionellen Selbständigkeit.[26] Der Akt in der Institutiongrenzt sich zusammenfassend von dem Akt der Institution darin ab, dass bei Ersterem die Macht horizontal zwischen vergleichbaren Machtstellungen ausgeübt wird. Bei Letzterem richtet sich die Machtausübung hingegen von oben nach unten, von überlegener auf unterlegene Machtstellung, also übereinander.[27]

Die Abgrenzung von „Akt der“ und „Akt in der“ lässt uns den Verstoß gegen die institutionelle Integrität der Strafrechtspflege über bloße Amtspflichtverletzungen hinaus reflektieren und die Frage klar beantworten, unter welchen Umständen sich das Verhaltensmuster als selbständiger institutioneller Akt darstellt, d.h., wann der Schutz der institutionellen Integrität der Strafrechtspflege von Belang ist. Das Verhalten von Strafvollzugs- oder Verfolgungs- sowie Justizbehörden kann nur dann in die Integrität der Institution eingreifen, wenn sich das gebotene Verhaltensmuster nicht als Akt in der Institution, sondern als Akt der Institution darstellt, d.h., sofern der institutionelle Akt sich strukturell von dem Akt des Einzelnen abhebt. Die institutionelle Integrität der Strafrechtspflege ist deshalb nur dann gegen die Akte von Strafvollzugs- oder Verfolgungs- sowie Justizbehörden schutzwürdig, wenn das abweichende Verhalten eine vertikale Machtausübung aufweist. Dies kann anhand der zwei folgenden Ereignisse in der jüngsten Geschichte der Strafrechtspflege verdeutlicht werden.

Eine rechtsbeugende Praxis konnte sich – unter verschiedenen Namen wie etwa Deal, Absprache und Verständigung[28] – einen Platz in der Prozesswirklichkeit verschaffen[29] und der Gesetzgeber ließ sich zudem auf ihren Einzug in die StPO (vgl. § 257c StPO) ein,[30] obwohl die gesetzliche Legitimierung solcher Fremdkörper mehr Schaden als Nutzen bringt[31] und – mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit – eine neue Art von informellen Absprachen auslöst[32] Im gleichen Zeitraum wurde nicht die Folter, sondern nur deren bloße Androhung (Gäfgen-Fall)[33] zur Lebensrettung als achte strafprozessuale Todsünde eingestuft und der „ketzerische“ Gedanke an die Möglichkeit einer solchen Prozesswirklichkeit alsbald mit dem Dammbruch-Argument bekämpft und aus dem prozessrechtlichen Diskurs verbannt.[34] Beide entsprechen keinem institutionsbedingten Verhaltensmuster, sondern weichen gezielt davon ab. Bei beiden handelt es sich um sog. Rechtspflegeschutzdelikte, bei „informeller“ Absprache u. U. § 339 StGB – wie immer auf Kosten des staatlichen Gewaltmonopols und des Gesetzlichkeitsprinzips,[35] bei Androhung zur Folter das Schulbeispiel für § 343 StGB.[36] Die erste stößt auf keine Bedenken in Bezug auf die Integrität der Strafrechtspflege trotz ihrer destruktiven Natur, die andere hingegen war durch das EGMR-Urteil bedingungslos als Integritätsverstoß eingestuft worden[37], obschon das Gericht die Androhung von Folter nicht als Folter gem. Art 3 der Konvention eingestuft hatte.[38] Die Debatte über diese zwei Ereignisse fiel in der Literatur zeitlich zusammen, die Sorge um die Integrität der Strafrechtspflege war allerdings gegensätzlich.

Die Absprache, sei sie informell oder formell, bildete einen Akt in der Institution, der sich erst aus dem Schulterschluss von Akteuren der Strafrechtspflege[39] ergab.[40] Vor der Legitimierung durch das sog. Verständigungsgesetz[41] wurde jeder Fall contra legem auf der Grundlage einvernehmlicher Leistungen zwischen der Justizbehörde und den Prozessbeteiligten abgewickelt.[42] Zu Recht werden Absprachen nicht als Integritätsverstöße gegen die Strafrechtspflege rubriziert oder als solche bekämpft. Denn die Absprachepraxis ging aus dem horizontalen Machtverhältnis hervor und entstand insofern als Akt in der Institution. Die deutsche Strafrechtspflege zeichnet sich in solchen Fällen nicht durch eine schutzwürdige Eigenständigkeit aus, die sich aus den Gesamtakten der einzelnen Teile herauslösen musste. In der Absprache, entweder contra, praeter oder intra legem, nimmt die Strafrechtspflege eine neue Gestalt an, in der sich das Gericht, die Staatsanwaltschaft und der Verteidiger im eigenen Interesse darauf verständigen, dass das konkrete Strafverfahren nicht mehr auf der inquisitorischen Hauptverfahrensstruktur aufgebaut werden muss.[43] Mithin tritt die miteinander übereinstimmende Abrede als ein Beispiel der Akte in der Institution auf, wodurch kein Verstoß gegen die Integrität der Strafrechtspflege zu befürchten ist. Allenfalls lässt sich eine Form der institutionellen Restrukturierung in Erwägung ziehen.[44] Hinsichtlich der Androhung von Folter hat der EGMR im Gäfgen-Fall dagegen das Folterverbot gem. Art 3 EMRK damit begründet, dass „ein wesentliches öffentliches Interesse […] [daran besteht], die Integrität des gerichtlichen Verfahrens […] zu bewahren“.[45] Ungeachtet der rechtsdogmatischen Frage, ob der Handlung ernsthaft Folter unterstellt werden könnte[46], macht sich die Strafverfolgungsbehörde bereits durch Inaussichtstellen einer Gefahr gegen die körperliche Unversehrtheit des Beschuldigten ihre Überlegenheit infolge der Machtasymmetrie zunutze.[47] Indem sie die ihr amtlich zugewiesene Macht und die daraus abgeleitete Überlegenheit ausnutzte, wich sie von dem Verhaltensmuster ab. Damit begann der Bedarf an Integritätsschutz auf institutioneller Ebene, und zwar gegen die Handlungen der eigenen Komponente. Das Gericht musste deswegen noch einmal betonen, dass das Folterverbot institutionell immer mit der Integrität des Strafverfahrens einhergeht.

2. Störbarkeit der institutionellen Integrität der Strafrechtspflege

Die Dekonstruktion gelangte bisher zu dem Schluss, dass nur eine vertikale Machtausübung die Integrität der Institution beeinträchtigen kann. Bei horizontaler Machtausübung ist es der Institution selbst nicht möglich, sich von einzelnen Akteuren abzukoppeln, während dies in der vertikalen Ebene der Fall ist. Deshalb besteht nur in der vertikalen Machtausübung ein Bedarf, sich vor den eigenen Behörden zu schützen. Damit kommen wir zur zweiten dekonstruktiven Frage – ob und wie tatsächlich die Integrität der Strafrechtspflege infolge des normabweichenden Verhaltens gestört wird. Wie wurde das hierarchische Machtverhältnis bzw. die Machtasymmetrie de facto durch die Amtspflichtverletzung in einem Maße gestört, dass davon auszugehen ist, dass die institutionelle Integrität der Strafrechtspflege de jure beeinträchtigt wird (zweite dekonstruktive Frage)? Dies lässt sich auf der Mikroebene von Institutionen klar beantworten, und zwar auf der Interaktionsebene[48], wo m.E. die Interaktionssoziologie von Erving Goffmansowie die Rollenlehre[49] allgemein behilflich sein könnten.

Nach der Rollenlehre interagieren die Menschen miteinander in bestimmten Rollen, die zwar oft situationsbedingt entstehen, jedoch gesellschaftlich vorgegeben sind.[50] Im Gegensatz zu den ausgebildeten Schauspielern, die vor dem Publikum stets wiederkehrende Rollen verkörpern,[51] nimmt die gesellschaftliche Rolle allein die soziale Position des Einzelnen zum Bezugspunkt und etabliert sich dadurch ein spezifischer Erwartungshorizont,[52] den die Gesellschaft jeder Position zuweist[53] – wobei stets ein gewisser Spielraum für improvisatorische Abweichungen verbleibt.[54] Interagieren heißt nichts anderes als sozial etablierte Rollenleistungen in vorgegebenen Positionen.[55] Rollen sind Goffman zufolge Grundbausteine der menschlichen Vergesellschaftung, d.h., die Gesellschaft ermöglicht sich selbst erst durch Rollen,[56] nach deren Funktion das Gesamtwesen der menschlich eingerichteten Systeme oder gesellschaftlich gebildeten alltäglichen Verhaltensmuster als solche aufrechterhalten wird.[57] Eine Rolle ist per definitionem ein typisiertes Rückverhalten bzw. eine quasi-objektiv vorgeprägte Verhaltenserwartung in einer vorgegebenen Position.[58] Bei der Rollenleistung ist eine gewisse Abweichung zu erwarten,[59] insbesondere das typisierte Rückverhalten und das aktuell geleistete Rückverhalten fallen nicht immer zusammen.[60] Sofern der Einzelne innerhalb dieser Rolle handelt und sich an der damit zusammenhängenden Fassade orientiert,[61] erfüllt die Rolle ihre Funktion in Bezug auf die Leistung der Rolleninhaber. Es ist nämlich zu erwarten, dass die Einzelnen nicht immer an der Kette der Ereignisse in den jeweiligen sozialen Zuständen mitwirken können.[62] Eine schlechte Leistung der Rolle ist bereits in der Rolle inbegriffen,[63] d.h., die Funktion der Rolle scheitert nicht daran, dass der Rolleninhaber in der vorgegebenen Situation das erwartbare Verhalten schlecht oder nicht geleistet hat,[64] es sei denn, der Rolleninhaber selbst verleugnet in der konkreten Situation pauschal seine eigene Rolle und die systembedingte Interaktion hat sich vorab nicht eingespielt,[65] d.h., die Orientierung, die Institutionen durch Kontinuität und Berechenbarkeit verschaffen,[66] entfällt.[67]

Dass eine chirurgische Operation wegen der schlechten Leistung des vom Chirurgen angeführten OP-Teams scheitert, beeinträchtigt nicht unmittelbar die Funktionalität der Rolle als Chirurg,[68] die insgesamt die grundlegende Interaktionsbasis zwischen Patienten und Chirurgen darstellt.[69] Ab dem Punkt, wo der Chirurg die eigene Rolle verleugnet und sich damit die Gegenrolle bzw. Bezugsgruppe (hier Patienten)[70] anmaßt und sich diesen angleicht, indem er z.B. zum Beschleunigen der für die weitere Behandlung erforderlichen Organtransplantation die institutionelle Liste verfälscht, obwohl ihm in der konkreten Situation ausschließlich die Rolle als Chirurg zukommt, und nicht die eines mitleidenden Angehörigen, beginnt er sich mithin von der ganzen Funktionalität sowohl der typisierten Rollenverteilung als auch der aktuellen Rollenerfüllung zu entfremden. Zu diesem Zeitpunkt erreicht die einzelne Störung in der konkreten Interaktion ein so hohes Ausmaß, das geeignet ist, die Orientierungsfunktion der menschlich eingerichteten Rollenverteilung bzw. des Verhaltensmusters in Frage zu stellen.[71] Damit wird die Aufmerksamkeit unmittelbar auf die Institution als solche gelenkt, weil die Rollenverleugnung trotz der mit dieser Rolle verbundenen Machtstellung die Funktion der jeweiligen Institution angreift, die im Grunde Orientierung in der konkreten Situation ermöglicht und damit diejenigen entlastet, die wegen der Ressourcenknappheit eine unterlegene Machtstellung innehaben,[72] wie im Beispiel der Patient, der über keine chirurgischen Kenntnisse und Fähigkeiten verfügt.[73]

Nach allgemeiner Rollenlehre[74] entsteht die Strafrechtspflege auf der Mikroebene aus bestimmten Interaktionen, für die sich in der Gesamtprozessrechtswissenschaft unterschiedliche Begriffe wie Prozessrechtsverhältnis, Prozesslage oder kommunikativer Akt eingebürgert haben. Obwohl die Inhalte der gerade genannten Begriffe nicht identisch sind, deuten sie übereinstimmend darauf hin, dass die Prozesssubjekte oder Verfahrensrollen anhand und innerhalb ihrer Subjektstellung in der rechtlich zugewiesenen Rolle interagieren.[75] Bei den Ver-folgungs- und Justizbehörden werden diese Rollen noch klarer, und zwar mit ergänzenden Maßnahmen, wenn diese Behörden ihre Rolle nicht gut ausfüllen und damit zu einem Prozessfehler führen könnten. Deswegen ist prozessrechtlich in die Störung der Rolle auch die Rolle inbegriffen.[76] Gegen die Funktionsweise der Strafrechtspflege wird insofern nicht verstoßen, als der Amtsträger sich innerhalb seiner institutionellen, zumutbaren Grenzen verhalten hatte.[77] Erst wenn die Behörde die eigene Rolle durch Amtspflichtverletzung verleugnet (aus der Rolle fallen)[78] und sich somit die Gegenrolle anmaßt, geht die Störung über die einzelne Rollenleistung hinaus und betrifft unmittelbar die Integrität der Strafrechtspflege. Hierbei ist die Störung durch das hierarchische Machtverhältnis gekennzeichnet.

Das hierarchische Machtverhältnis wird insofern aufrechterhalten, als die überlegene Position imstande bleiben würde, sich entsprechend der eigenen Machtstellung auf die unterlegene Position zu beziehen.[79] Wenn sie sich trotz ihrer Überlegenheit in der konkreten Situation die Position des Unterlegenen anmaßt oder entgegen ihrer eigenen Rolle die Gegenrolle einnimmt, so bricht die gebotene Asymmetrie und greift dadurch unmittelbar die Integrität der Strafrechtspflege an. Insoweit das prozessuale Machtgefälle im hierarchischen Prozessverhältnis institutionell vorausgesetzt ist,[80] führt jede Amtspflichtverletzung, die geeignet ist, das vorausgesetzte Machtgefälle zu stören oder gar zu beseitigen, zur Annahme, dass die institutionelle Integrität der Strafrechtspflege im konkreten Fall erheblich beeinträchtigt ist.

Eine Amtspflichtverletzung, die sich in der Rollenverleugnung verkörpert hat, lässt sich nur dadurch beseitigen, dass die gesamte Sache vom rollenverleugnenden Amtsträger an einen neuen Amtsträger für die konkrete Situation übertragen oder durch einen neuen Amtsträger ergänzt wird (Wiederverteilung bzw. -besetzung der Rolle).[81] Inwiefern die Nichtbeseitigung einer solchen Störung in der institutionellen Funktionsweise auf das konkrete Verfahren einwirkt, ändert sich situationsbedingt und selbstverständlich jeweils nach der Rolle. Als Beispiel lässt sich die jüngste Entscheidung vom 6. Strafsenat des BGH[82] anführen und zwar in dem Fall vor dem LG Hannover, wo der Angeklagte, der Spediteur einer Drogenbande, sich in der Hauptverhandlung dazu einließ, dass der im Verfahren zuständige Vertreter der Staatsanwaltschaft, der Staatsanwalt Y.G., einer der Informanten derselben Bande, tatsächlich an der angeklagten Tat beteiligt gewesen sei.[83] Die Verdachtsmomente gegenüber dem Staatsanwalt waren bei der Einlassung nicht stark belastend, deswegen besetzte er die Stelle der Staatsanwaltschaft ohne Ersetzung bis zum Ende der Hauptverhandlung, aber unter Anwesenheit des Oberstaatsanwalts, der sicherstellen sollte, dass keine Verfahrensfehler auf Seiten der Staatsanwaltschaft in der konkreten Sache begangen werden.[84] Im weiteren Verlauf erhärtete sich der Verdacht gegen den Staatsanwalt Y.G. wegen Bestechlichkeit, Verletzung des Dienstgeheimnisses und Strafvereitelung im Amt, woraufhin Haftbefehl gegen ihn erlassen wurde.[85] Im Wege der Verfahrensrüge machte der Angeklagte geltend, dass ein faires Strafverfahren durch den „korrupten“ Staatsanwalt nicht gewährleistet werden könne, erst recht aber eine effektive Verteidigung i.S.d. § 338 Nr. 8 StPO gegen eine mit einem solchen Staatsanwalt besetzte Staatsanwaltschaft nicht als möglich bzw. ausgeübt angesehen werden könnte.[86] Der BGH wies die Revision der Angeklagten in dem konkreten Fall zu Recht ab. Zutreffend hat der BGH darauf hingewiesen, dass in dem Verfahren keine schweren Pflichtverletzungen gegen den Angeklagten ersichtlich seien und neben dem verdächtigten Staatsanwalt auch dessen Vorgesetzter an der gesamten Hauptverhandlung teilgenommen habe.[87] Zum Zeitpunkt der Einlassung sei weder ersichtlich gewesen, ob Staatsanwalt Y.G. tatsächlich als Informant tätig war, noch ob sich die Rollenverleugnung auf das Hauptverfahren ausgewirkt habe.[88] Darüber hinaus habe die Staatsanwaltschaft als Landesjustizbehörde trotz der zunächst vagen Verdachtsmomente hinreichende Maßnahmen ergriffen, um potenzielle Verfahrensfehler infolge des Korruptionsverdachts zu verhindern.[89]

Der Integritätsverstoß seitens des Staatsanwalts muss prozessrechtlich je nach den internen Vorgängen der Staatsanwaltschaft unverzüglich beendet werden, wenn die konkrete Gefahr darin besteht, dass die Stelle der Staatsanwaltschaft wegen der fortgesetzten Rollenverleugnung nicht funktionell vertreten würde.[90] Obwohl die Staatsanwaltschaft nach herrschender Meinung[91] nicht den Vorschriften über die Ausschließung und Ablehnung von Gerichtspersonen unterliegt, darf der Staatsanwalt nur die Stelle der Staatsanwaltschaft in dem konkreten Hauptverfahren insofern besetzen, als er ausschließlich seine eigene Rolle als Staatsanwalt wahrnimmt und sich stets entsprechend dieser Rolle verhält.[92] Andernfalls hemmt die Rollenverleugnung vor allem die funktionierende Rollenverteilung im Hauptverfahren zwischen allen Verfahrensrollenträgern (Richter, Staatsanwalt und Angeklagte sowie Verteidiger) fortwirkend.[93] Fraglich ist hier aber vor allem, ob der rollenverleugnende Staatsanwalt überhaupt die Anforderung an die Abwesenheit i.S.d. § 338 Abs. 1 Nr. 5 StPO erfüllt.[94] Dies wäre dann in dem Urteil der Fall, wenn der Staatsanwalt während des Verfahrens gegen die Spediteure noch als Informant in der Bande fungiert hätte und in der Hauptverhandlung allein zuständig gewesen wäre. Nach der herrschenden Meinung[95] ist § 338 Abs. 1 Nr. 5 StPO restriktiv auszulegen und nur für die Fälle einzuschränken, in denen der notwendige Prozessbeteiligte in wesentlichen Teilen der Hauptverhandlung gefehlt hat[96] – und noch strenger für die Abwesenheit der Staatsanwaltschaft, nämlich nur dann, wenn es an der sachlichen Zuständigkeit gem. §§ 142, 142a GVG gefehlt hat.[97] Die herrschende Meinung wäre dann aber nur vertretbar, wenn der Staatsanwalt über die Grenzen menschlicher Fähigkeiten hinweg zwischen zwei Rollen (z.B. Staatsanwaltschaft -Mitbeschuldigter, StA-Zeuge) hin- und herwechseln könnte, und zwar wahrscheinlich an der Grenze zur dissoziativen Identitätsstörung.[98] Dann aber leitet sich entweder aus der fehlenden Dienstfähigkeit oder infolge der abwesend gebliebenen Teile der Hauptverhandlung ohne weiteres die revisible Abwesenheit der gesetzlich gebotenen Staatsanwaltschaft bzw. der Verfahrensrolle als Staatsanwalt ab. Ohne in die selbstherrliche Justiz[99] zu fallen, ist ausschlaggebend anzuerkennen, dass hier im Grunde nichts anderes gilt als bei Gerichtspersonal,[100] dessen bloße körperliche Anwesenheit nicht immer mit der funktionellen Anwesenheit gleichbedeutend ist.

Dagegen wird der Einwand erhoben, dass sich die funktionale Amtstätigkeit der Staatsanwaltschaft nicht auf Art. 97 Abs. 1 GG und Art. 101 Abs. 1 GG stütze und deren rechtliche Anforderungen daher immer von denen der Richter oder Schöffen klar abzugrenzen seien.[101] Aus konsequentialistischer Sicht scheint dieser Einwand nicht unzutreffend, denn die Funktionalität bzw. Effizienz der Staatsanwaltschaft verstößt nicht unmittelbar gegen die Verteidigungsrechte und die Fairness des konkreten Verfahrens, und es muss daraufhin immer geprüft werden, ob die gerichtliche Entscheidung überhaupt gem. § 337 Abs. 1 StPO auf einem solchen funktionalen Mangel beruht.[102] Dies betrifft aber nicht den eigenen Standpunkt im Ganzen, weil die Integrität der Strafrechtspflege nicht mit dem relativen Zusammenhang zwischen der Fairness des konkreten Verfahrens und der Funktionalität von Prozessbeteiligten einhergeht, sondern mit rechtstaatlichen Minima sowie Vorbedingungen, worin justizielle Akte (Akt der Institution) sich überhaupt von bloßen Gewaltakten abgrenzen können.[103] Ein rechtsstaatliches Strafverfahren setzt anfänglich immer eine Rollenverteilung durch die StPO voraus, damit es sich institutionell entsprechend verfassungsrechtlichen und gesetzlichen Vorschriften verwirklichen kann. Nach hier vertretender Auffassung geht es nämlich nicht um die Bedingungen(Rollenattribute[104]) wie etwa gesetzlicher Richter und objektiv-neutraler Staatsanwalt, sondern vor allem um die Vorbedingungen (Rollen), ob die Rolle als Staatsanwalt oder Richter überhaupt eingenommen wird.[105] Eine Rollenverleugnung, wo die Rollenverteilung zwischen Prozesssubjekten, hier namentlich zwischen Staatsanwalt und Beschuldigtem, komplett unüberschaubar geworden ist, führt ohne weiteres zur Wiederverteilung bzw. -besetzung der Rolle. Mit dieser Feststellung kommt die Arbeit zu folgendem Zwischenergebnis.

III. Zwischenfazit: Bilanz der Dekonstruktion

Die Integrität der Strafrechtspflege als Strafprozessbegriff lässt sich definieren als die durch Rollenverteilung gesicherte Instandhaltung der Machtasymmetrie bei der vertikalen Machtausübung vom Amtsträger auf die Bezugsgruppe bei der Strafrechtspflege.

Die Integrität der Strafrechtspflege ist prozessrechtlich durch Wiederverteilung bzw. -bese­tzung der Verfahrensrolle nur vor solchen Eingriffen zu schützen, die kumulativ die folgenden drei Merkmale enthalten:

  1. Amtspflichtverletzung: Die Integrität der Strafrechtspflege kann nur aus dem Inneren der Strafrechtspflege heraus angegriffen werden. Erforderlich ist dafür eine Amtspflichtverletzung seitens einer Strafverfol-gungs-, Justiz- oder Vollzugsbehörde.
  2. Machtasymmetrie bzw. asymmetrische/vertikale Machtausübung: Durch eine Amtspflichtverletzung muss der Amtsträger von einem gesetzlichen Verhaltensmuster abgewichen sein, was sich ausschließlich als Akt der Institution einstufen und somit der Aufrechthaltung eines hierarchischen Machtverhältnisses zuordnen lässt.
  3. Erhebliche Störung bei der Machthierarchie: Infolge der Amtspflichtverletzung muss die Funktionsweise der Strafrechtspflege erheblich beeinträchtigt werden, indem der Amtsträger seine eigene Rolle als Amtsträger verleugnete und sich die Gegenrolle anmaßt, wobei das Machtgefälle zwischen Rollenträger (Amtsträger) und Gegenrollenträger (Bezugsgruppe) durch Verhaltensmuster abgesichert ist.

IV. Das Vertrauen in die Integrität der Strafrechtspflege bei Wechselwirkung von Strafrecht und Strafprozessrecht

Bemerkenswert ist, dass zwei dekonstruktive – und in gewissem Maße rhetorische – Fragen, nämlich ob jede Amtspflichtverletzung innerhalb der Strafrechtspflege eine Integritätsverletzung darstellt und wie eine Abstraktion wie, die institutionelle Integrität konkret als verletzt angesehen wird, uns die Definition der Integrität der Strafrechtspflege und die Merkmale des Angriffs auf die Integrität enthüllen können. Dies musste allerdings über die Definition und die Merkmale hinausgehen bis hin zur Ergänzung durch das „Vertrauen der Allgemeinheit und der Prozessbeteiligten“. Die bisherige Dekonstruktion schuldet uns deswegen noch eine Antwort auf die Frage, wieso das „Vertrauen der Allgemeinheit und der Prozessbeteiligten“ für die Integrität der Strafrechtspflege von Belang geworden ist. Kritisch betrachtet soll die Dekonstruktion uns noch Aufschluss darüber geben, woran es der Integrität der Strafrechtspflege aus Sicht der Rechtsprechung[106] und zum Teil der Literatur[107] fehlt, sodass das Vertrauen der Allgemeinheit und der Prozessbeteiligten noch ergänzend hinzukommen müsste (dritte dekonstruktive Frage). Hier ist zu beachten, dass das für die Ausübung des öffentlichen Amtes erforderliche Vertrauen[108] und das Vertrauen der Allgemeinheit in die Integrität der Strafrechtspflege nicht zusammenfallen, wie dies bereits bei dem – zum Teil in der Literatur anerkannten – angeblichen Zusammenhang zwischen Beweisverwertungsverbot und Verlust des Vertrauens in die Integrität des Strafverfahrens ersichtlich ist.[109] Das Vertrauen der Allgemeinheit und der Prozessbeteiligten in die Strafrechtspflege deutet ausschließlich auf die Institution in ihrem Gesamtbild hin.[110] Dies wird sich mithilfe der bisherigen Erkenntnisse im weiteren Vergleich der institutionellen und der körperlichen Integritätsverletzung bei Wechselwirkung von Strafrecht und Strafprozessrecht wie folgt zeigen.

1. Vertrauen in die Integrität institutioneller, aber nicht körperlicher Art

Der unterstellte Zusammenhang von Amtspflichtverletzung und dadurch hervorgerufener Störung in der institutionellen Funktionsweise legt den Deutungsrahmen der institutionellen Integrität der Strafrechtspflege dem herkömmlichen Verständnis der körperlichen Integrität nahe. Auf der Makroebene weist die körperliche Integrität lediglich einen im normalen Zustand funktionierenden Gesamtkörper auf,[111] auf ihrer Mikroebene besteht der Gesamtkörper jedoch aus vielfältig organisierten Einheiten von einzelnen Funktionsträgern, die sich so zusammensetzen, um mehrere Aufgaben zu erfüllen, die zum Erhalt des funktionierenden Gesamtkörpers erforderlich sind.[112] Verletzung im faktischen Sinne heißt nichts anderes als einen körperlichen Zustand, in dem die Funktionsträger (körperliche Einzelheiten) der Tat von ihren als naturbedingt „normal“ anerkannten Verhaltensmustern abweichen.[113] Der rechtliche Verstoß gegen die körperliche Integrität liegt darin, dass die Tat gegen den Beeinträchtigten und ohne dessen Willen vorgenommen wurde.[114] Die grundlegende Formel der Integritätsverletzung körperlicher Art (Willensverstoß + abnormaler Körperzustand) spiegelt sich nicht zufällig darin wider, dass eine Amtspflichtverletzung mit abnormaler Funktionsverweigerung zur Integritätsverletzung institutioneller Art führt (vgl. Abbildung 1).

Diese Sichtweise lässt sich als „naturalistische Grundlage“ bezeichnen, allerdings mit der methodologischen Anmerkung, dass die Ansicht nicht deshalb naturalistisch ist, weil sie ein justizielles Institut mit einem Organismus wie dem menschlichen Körper gleichsetzt,[115] sondern weil sie ausgehend von der Körperverletzung eine Zweistufigkeit des Angriffs auf die institutionelle Integrität annimmt, um dem jeweiligen Eingriff in die Integrität der Strafrechtspflege nicht nur eine rechtliche, sondern auch faktische Eigenschaft zuzuweisen. Hierbei gilt diese Grundlage als naturalistisch, solange nicht die Strafrechtspflege, sondern das gestörte hierarchische Machtverhältnis als Faktizität angenommen wird. Dem institutionellen Integritätsbegriff liegt mithin der Naturalismus zugrunde, nach dem der Schaden infolge der Amtspflichtverletzung gerade auf faktischer Ebene in der gestörten Funktionsweise bestehen sollte.[116] Sie ist deshalb nur dann sinnvoll, wenn die Amtspflichtverletzung im konkreten Fall tatsächlich vorliegt und es zu einer Rollenverleugnung im hierarchischen Machtverhältnis kommt.

Makroebene

Körper

Institution

Mikroebene

Physiologische Vorgänge

Interaktionen

Typisierte Verletzung

Willensverstoß + abnormaler körperlicher Zustand

Amtspflichtverletzung

+ erheblich gestörte Machthierarchie

Abb. 1: Rechtliche Formen der Integritätsverletzung (modifiziert und ergänzt nach Feldmann [Fn. 14)], S. 197)

Der faktische Zusammenhang von Rollenverleugnung und erheblicher Störung bei der Machthierarchie ist immer von solchen Umständen abhängig, unter denen die konkrete Rollenverteilung nicht mehr geeignet erscheint, das hierarchische Machtverhältnis aufrechtzuerhalten. Die naturalistische Grundlage der institutionellen Integrität der Strafrechtspflege wirkt allerdings einschränkend, wenn eine Gefahr für die Integrität in Rede steht. Eine Gefahr für die Integrität der Strafrechtspflege besteht insoweit, als zumindest entsprechend ihren naturalistischen Grundlagen eine Rollenkollision[117] unausweichlich erscheint, die aus Sicht der objektiven Rolleninhaber die Rollenübernahme unzumutbar macht und damit eine Wiederverteilung bzw. -besetzung der Rolle rechtfertigt. Eine abstrakte oder potenzielle Gefährdung im strafrechtlichen Sinne reicht nicht aus, um die institutionelle Integrität der Strafrechtspflege zu beeinträchtigen und die Wiederverteilung bzw. -besetzung der Rolle zu rechtfertigen.

Dagegen könnten hier die Vorschriften über Ausschließung und Ablehnung der Gerichtspersonen angeführt werden und zwar mit dem Argument, dass die Ausschließungsgründe gem. §§ 22, 23 StPO als eine abstrakte Gefährdungslage und die Besorgnis der Befangenheit einer Gerichtsperson (§ 24 Abs. 1 Alt. 2, Abs. 2 StPO) abstrakt als potenzielle Gefährdung der Integrität der Strafrechtspflege formuliert sind.[118] Dem steht allerdings entgegen, dass unter Ausschließungsgründen übermäßig vermutete Rollenkollisionen aufgeführt werden und § 24 StPO nach dem objektiv-individuellen Maßstab angewendet wird.[119] Aus deren situations- und rollenbedingter faktischer Natur ergeben sich nur Anhaltspunkte für die eigene Meinung, keinesfalls aber Bedenken als solche. Gegen Integritätsverstöße in der Strafrechtspflege stellt sich deshalb nur das Strafprozessrecht als solches, wenn sich eine Störung der institutionsbedingten Machtasymmetrie im Erfolg niedergeschlagen hat oder sich als faktisch unvermeidbar erwiesen hat.

An diesem Punkt erweist sich die Hinzufügung von „Vertrauen“ nicht mehr als bloße begriffliche Ergänzung, sondern als durchaus strategische Erweiterung des Interpretationsrahmens der Integrität der Strafrechtspflege. Das „Vertrauen der Allgemeinheit und der Prozessbeteiligten“ erstreckt sich offensichtlich auf die Integrität der Strafrechtspflege bis hin zu Tatsachen, die für sich genommen nicht ausreichen würden, um die Integrität der Strafrechtspflege konkret zu gefährden, die aber jedenfalls ausreichen, um den bloßen Gefühlszustand, nämlich das Vertrauen der Allgemeinheit und der Prozessbeteiligten, zu erschüttern.[120] Der um das „Vertrauen der Allgemeinheit“ erweiterte Deutungsrahmen stellt bei der Integrität der Strafrechtspflege auf subjektive, im Einzelfall entscheidbare Umstände ab. Dies hat die Integrität der Strafrechtspflege so weit von deren objektiven Grundlagen entfernt, dass sie als Argumentationsfigur beliebig und kontextunabhängig in die strafprozessrechtlichen Fragen eingreifen kann – von der Verwertbarkeit rechtswidrig erlangter Dateien als Beweismittel[121] über die Beschränkung des Akteneinsichtsrechts des Generalvikariats[122] auf Disziplinarklagen gegen Polizeibeamte wegen der Verwendung von ausländerfeindlichen Formularen[123] bis hin zur Verfassungsmäßigkeit des Kopftuchverbots für Rechtsreferendarinnen.[124] Denn das „Vertrauen der Allgemeinheit und der Prozessbeteiligten in die Integrität der Strafrechtspflege“ verdankt seine Geltung im strafprozessrechtlichen Diskurs – selbstverständlich bei der menschlichen Kreativität in der pragmatischen Begriffsbildung – vor allem seiner Mehrdeutigkeit, die den Argumentationsaufwand bei richterlichen oder strafrechtswissenschaftlichen Denkprozessen zweifellos reduziert.

Unsere pessimistische Herangehensweise widerspricht der optimistischen Auffassung von Börner[125] in der Literatur, wonach das Vertrauen in die Rechtspflege gem. Art. 101 Abs. 2 S. 1 Verfassungsrang habe[126] und das gesamte Strafrechtsverfahren die Akzeptanz eines Urteils vor Störungen durch Misstrauen schütze.[127] Der Vertrauensschutz beziehe sich auf die „persönliche Integrität des Gerichts“ (§§ 22 ff., 30 StPO) und die „Glaubwürdigkeit der Strafrechtspflege durch Widerspruchsfreiheit“.[128] Dies erhöhe die Bereitschaft zur Hinnahme des Urteils und optimiere ebenso den Wahrheitsermittlungsprozess.[129] Börner hat seine Ansicht durch den folgenden Satz recht treffend zusammengefasst: „Ohne Glaubwürdigkeit und Integrität der Justiz taugt die schönste Wahrheit gar nichts“[130]. Seine Ansicht stützt sich auf den an Luhmannangelehnten systemtheoretischen Ansatz im Strafprozessrecht und erweitert den rein rechtsdogmatischen Horizont mithilfe der sozialpsychologischen Vorkenntnisse über seine gesetzlichen Grundlagen hinaus.[131] Dennoch birgt der systemtheoretische Ansatz in sich die Gefahr,[132] den Sinn und Zweck des Strafprozessrechts mit allgemeinen Neben- und Fernwirkungen von institutionalisierten Verhaltensweisen[133] zu verwechseln. Komplexitätsreduzierung, Entlastung des Entscheidungsprozesses und Erhöhung der Bereitschaft zur Anerkennung entspringen nämlich dem gesellschaftlichen Bedürfnis nach Orientierung, das letztlich durch die Institution bzw. institutionalisiertes Rollenverhalten[134] befriedigt wird, und zwar unabhängig von der Form und den Attributen der jeweiligen Institution.

Der eigene methodologische Pessimismus spricht gegen den Standpunkt Börners. Dass er die Integrität der Strafrechtspflege von außen, aus der Sicht des objektiven Dritten (der Allgemeinheit) denkt und ihr auch die Aufgabe des Vertrauensschutzes zuweist,[135] widerspricht m.E. der Institutionsbezogenheit der Integrität der Strafrechtspflege. Die Integrität der Strafrechtspflege bestimmt sich erst durch die Verfahrensrollenverteilung, welche ausschließlich von institutionsbedingten Machtbeziehungen abhängt (oben II. 2.). Dies ist nur aus der Innenperspektive[136], nicht aber von außen zu erfassen (oben II. 1.). Außerdem verhindert die Integrität der Strafrechtspflege in keiner Weise das Misstrauen der Allgemeinheit gegen die

Strafrechtspflege, weil sie nicht das Erscheinungsbild der Strafrechtspflege betrifft (ausführlich unten IV. 2.). Wie die Strafrechtspflege nach außen wirkt, spielt hier somit keine Rolle. Sie dient ohne weiteres der Aufrechterhaltung bzw. dem Fortbestand der Institution als solcher, damit das institutionalisierte Rollenverhalten überhaupt zum Tragen kommen kann (oben III.). Im Grunde genommen weist Börner strategisch dem Vertrauen der Allgemeinheit in die Strafrechtspflege einen Verfassungsrang zu,[137] um die Konnexität zwischen Integrität und Schutz vor Misstrauen bzw. der Glaubwürdigkeit herzustellen. Nach den bisherigen Erkenntnissen der vorliegenden Arbeit weist die derart künstlich geschaffene Brücke indes immer noch die Willkür auf, die entweder in der Rechtsprechung oder in der Literatur, wie bei Börner, jedenfalls aber bezüglich des „Vertrauens der Allgemeinheit in die Integrität der Strafrechtspflege“ fehlt.

Ausgehend vom obigen Vergleich mit körperlicher Integrität wäre es hier so gewesen, als hätte man willkürlich festgelegt, dass nicht mehr die körperliche Integrität als Schutzgut verstanden würde, sondern die Sorge[138] der Rechtsgutträger um ihre eigene körperliche Integrität, weil die menschlichen Belastungen wegen der engen Reichweite der körperlichen Integrität nicht ausgeschlossen werden dürfen. Nicht nur bedenklich, sondern auch absurd wäre die Konstellation, „körperliche Integrität“ wörtlich durch „Sorge“ zu ergänzen, weil „Sorge“ keinesfalls den Schutz des körperlichen Wohlbefindens erweitert, sondern im Gegenteil den gesamten Deutungsrahmen von Integrität körperlicher Art einschließlich seiner naturalistischen Grundlagen und objektiven Begründbarkeit aushöhlt.[139] Die im Rahmen des materiellen Strafrechts unvorstellbare Konstellation ist im prozessualen Strafrecht jedoch längst Realität[140] und nun aktuell auch in der Rechtspolitik anlässlich des fünften Gesetzes zur Änderung des Gerichtsverfassungsgesetzes (5. GVG-Novelle).[141] Seine rechtspolitisch jüngste Anerkennung verdient an dieser Stelle eine weitere Überprüfung durch bisherige Erkenntnisse, und zwar im Hinblick auf unsere Schlussfrage, ob sich das Strafprozessrecht überhaupt maßgebend auf die gefühlten Wahrheiten des alltäglichen Lebens institutionell einzurichten hat.

2. Schutzwürdigkeit des Vertrauens in die Integrität der Strafrechtspflege

Gem. § 32 Nr. 1 2. Alt GVG geltender Fassung ist in die Vorschlagsliste für ehrenamtliche Richter, nämlich Schöffen, gem. § 36 GVG nicht aufzunehmen und nach § 42 GVG nicht zu Schöffen zu wählen und von der Schöffenliste gem. § 52 Abs. 1 Nr. 1 GVG zu streichen, wer sich einer vorsätzlichen Tat schuldig gemacht hat und rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mehr als sechs Monaten verurteilt wurde.[142] Die 6-Monats-Grenze schien der Regierung nicht mehr plausibel. Die Schwelle sollte demnach durch § 32 GVG-E noch weiter abgesenkt werden, und zwar auf eine Geldstrafe von 60 Tagessätzen. § 32 GVG-E liegt die rechtspolitische Vermutung zugrunde, dass die Berufung eines Schöffen, der wegen einer vorsätzlichen Tat zu einer geringeren Freiheits- oder Geldstrafe verurteilt wurde, das Vertrauen der Allgemeinheit und der Verfahrensbeteiligten in die Integrität der Strafrechtspflege beeinträchtige.[143] Obwohl das Bundesministerium der Justiz die Schutzwürdigkeit des „Vertrauens der Allgemeinheit und der Prozessbeteiligten“ als von hoher Bedeutung erachtet, bleibt die Novellenbegründung unzureichend, weil sie diese rechtspolitische Entscheidung nicht präzise darlegt. Insbesondere wird in der Begründung der Novelle nicht erläutert, warum bei der Berufung der Schöffen von der 6-Monats-Grenze rechtspolitisch Abstand genommen und eine Grenze von 60 Tagessätze angestrebt wird.

Die rechtspolitisch thematisierte Sorge um den „Vertrauensverlust“ der Allgemeinheit entspricht ebenso wenig der aktuellen Rechtslage, weil der Schöffe bei einer Amtspflichtverletzung durch Beschluss des zuständigen OLG gem. § 51 Abs. 2 S. 1 GVG enthoben sowie durch Anordnung von weiteren Sitzungen bis zur Entscheidung in der Sache entfernt werden kann.[144] Eine Rollenverleugnung oder die Gefahr einer Rollenkollision liegt daher schon im Anwendungsbereich des bisherigen Integritätsschutzes. Im Hinblick auf den vorgegebenen Schutzrahmen wäre es zu bedenklich, die 60-Tagessätze-Grenze allein auf institutioneller Ebene hin zu fassen. Die vorgeschlagene 60-Tagessätze-Grenze gem. § 32 GVG-E knüpft an eines der Kernthemen des politischen Alltags an, das in der Literatur noch als „resiliente Justiz“ zum Ausdruck kommt.[145] Bei dem § 32 GVG-E zugrundeliegenden Ansatz handelt es sich um eine Art institutionelle Gefahrenmaßnahme zum Schutz des Erscheinungsbildes der Strafrechtspflege vor denjenigen[146], deren Bereitschaft zur Verfassungstreue aus Sicht der Allgemeinheit verdächtig ist.

Davon abzugrenzen sind jedoch Fälle, in denen der Schöffe ernsthaft zum Ausdruck bringt, den institutionellen Erwartungshorizont (insbesondere gem. §§44a, 45 DRiG[147], § 51 GVG) bei der Strafrechtspflege aus politischen, ideologischen oder religiösen Gründen nicht anzuerkennen[148] bzw. nicht zu verinnerlichen[149] und seine Rolle als ehrenamtlicher Richter dementsprechend zu instrumentalisieren.[150] In diesem Fall ist die Gefahr für die Integrität nach den oben dargelegten Kriterien zweifellos gegeben,[151] weil eine Rollenverleugnung unausweichlich erscheint, die aus Sicht der objektiven Rolleninhaber die Rollenübernahme unzumutbar macht und damit zur Wiederverteilung bzw. -besetzung der Rolle berechtigt (oben IV. 1.). Politisch-ideologische Überzeugungen oder religiöse Weltanschauungen können als grobe Amtspflichtverletzung i.S.d. § 51 Abs. 1 GVG zur Enthebung des Amtes[152] oder zumindest als Zeichen der Ungeeignetheit i.S.d. § 52 Abs. 1 Nr. 2 zur Streichung von der Schöffenliste[153] führen.

§ 32 GVG-E verlagert den Schutzbereich vor die bereits institutionell-objektiv gezogenen Grenzen der §§ 51, 52 GVG, ohne zu begründen, wie die 60-Tagessätze-Grenze als Gefahrenmaßnahme zum Schutz des Erscheinungsbildes der Strafrechtspflege fungieren soll, obwohl die Begründungslast bei der Regierung liegt, wie die Vorstrafe die persönlichen Einstellungen der zu berufenden Schöffen beeinflussen kann, oder ob die 60-Tagessätze-Grenze die Gerichte überhaupt von politischen, ideologischen oder religiösen Motiven befreien kann. Der derart vorverlagerte Integritätsschutz begegnet insofern Bedenken, als er davon ausgeht, dass vor der Berufung zum Schöffen gewisse persönliche Einstellungen an sich eine Gefahrenquelle für die Integrität der Strafrechtspflege darstellen könnten. Eine solche Gefahrenprognose muss sich nach den bisher erlangten Erkenntnissen auf eine eventuelle Abweichung von einem der Verhaltensmuster beziehen, die ausschließlich einem Akt der Institutiondient (oben II. 1.) und dessen eventueller Verstoß eine Rollenverleugnung hervorruft (oben II. 2.) oder zumindest eine Rollenkollision (oben IV. 1.) darstellt. Das Fehlen bestimmter politischer, religiöser oder ideologischer Merkmale stellt allerdings eine Abweichung von einem Verhaltensmuster dar, das ausschließlich zum Akt in der Institution dient. Eine Abweichung davon beeinträchtigt die Integrität der Strafrechtspflege nur dann, wenn sie sich später als Rollenverleugnung oder Rollenkollision manifestiert (oben IV. 1.). Aus diesem Grund stellen das Kopftuch[154] oder die Mitgliedschaft in einer Partei, bei der noch nicht festgestellt wurde, verfassungsfeindliche Ziele zu verfolgen[155] oder Meinungsäußerungen, die vom Grundrecht auf freie Meinungsäußerung gedeckt werden,[156] allein keine Gefahr für die Integrität der Strafrechtspflege dar. Sie können hingegen u. U. Misstrauen der Allgemeinheit gegen diese Persönlichkeiten hervorrufen. Diese Sorge betrifft aber nicht die institutionelle Integrität der Strafrechtspflege.

Institutionell betrachtet ist der Schutz der Integrität der Strafrechtspflege immer situations- und rollenbedingt, wie in dem obigen Beispiel des mitbeschuldigten Staatsanwalts dargelegt wurde (oben II. 2.), ferner sind auch die Rollen von den konkreten Umständen abhängig. Ein vermeintlicher Schutz des Erscheinungsbildes der Strafrechtspflege durch eine deutliche Senkung der Schwelle für die Strafschwere bei der Berufung zum Schöffenamt hat nichts mit der Integrität zu tun, es sei denn, dass „integritätsbedrohliche“ situative Umstände für die Rollenkollision wie bei § 32 Nr. 2 GVG[157] je nach Rollenbedingungen ganz kasuistisch durch den Entwurf hinzugefügt würden. Außerdem greift das Vertrauen als Maßstab – statt Rollen oder zumindest eines Verhaltensmusters – in die Integrität der Strafrechtspflege ein. Falls sich der strafprozessuale Integritätsschutz am Vertrauensverlust oder an der Erschütterung des Vertrauens der Allgemeinheit zu orientieren beginnt, um bestimmte politische, religiöse oder ideologische Einstellungen von vornherein auszuschließen, geht dies zulasten einer relativierten bzw. subjektivierten Ausgestaltung des Strafverfahrens, die den Grundlagen ihrer Integrität institutioneller Art entgegensteht (oben III.). Per definitionem dient die Integrität der Strafrechtspflege als Garant für die Aufrechterhaltung der hierarchischen Machtverhältnisse innerhalb und außerhalb der Institution (oben III. und II. 1.). Dies gelingt durch die sich auf der Mikroebene ständig wiederholenden Rollenverteilungen und -leistungen, die streng an Verhaltensmuster gebunden sind. Wenn der Rolleninhaber die eigene Rolle verleugnet und sich die Gegenrolle anmaßt, dann handelt es sich um Verhaltensmuster, die noch nicht vollzogen sind. Dies führt zu einer Wiederverteilung bzw. -besetzung der Rolle (oben II. 2.).

Wenn das Vertrauen der Allgemeinheit als Maßstab gilt, d.h. das jeweilige Strafverfahren immer wieder unter die Lupe genommen werden kann, ob es in seinem Erscheinungsbild gelungen ist, das von der Allgemeinheit beanspruchte Vertrauen zu erzeugen, müssten andernfalls die Rollen neu verteilt und besetzt werden. In dieser Konstellation gibt das Verhaltensmuster den eigenen Platz in der individuell feststellbaren Erscheinung des Strafverfahrens auf und von diesem Punkt an wird die ganze Institution nur noch von außen nach innen betrachtet, d.h., der Schutz richtet nicht mehr nach innen, wo die institutionelle Integrität unterstützt werden muss, sondern nach außen, wo das Vertrauen der Allgemeinheit erzeugt werden muss. Das Schlimmste ist aber keinesfalls der Wechsel der Schutzrichtung, sondern die Tatsache, dass die Institution zwangsläufig ihre eigenen Komponenten aufgeben müsste, um ihr eigenes Image zu schützen.[158] Ein Integritätsschutz im Einsatz für das institutionelle Image fördert nicht sich selbst, sondern untergräbt im Gegenteil die Integrität und erodiert die Institution wie ein Ouroboros.[159] Entscheidend wäre nämlich nicht mehr das zu pauschalisierende objektiv-voraussehbare Rollenverhalten, sondern die zu relativierenden Emotionen von außen, obwohl sich die Institutionalisierung als Justiz vor die relativierte bzw. subjektivierte Ausgestaltung des Strafverfahrens gestellt hat.[160] Abgesehen davon, wer entscheidet, wer mit welcher politischen, religiösen oder ideologischen Einstellung auf welcher Gefahrenstufe auszuschließen ist, greift dies in den existenziellen Evidenzkonsens der Strafrechtspflege ein, warum die Integrität überhaupt geschützt wird. Wenn der institutionelle Mechanismus sich auf den bloßen Schutz des Vertrauens der Allgemeinheit und der Prozessbeteiligten beschränkt, kann die institutionelle Integrität verloren gehen. Schließlich bleibt keine Integrität übrig, auf die man sich verlassen kann. Die eigene Kritik betrifft deshalb vor allem nicht die gesunkene Schwelle der Schwere der Strafe gem. § 32 GVG-E, sondern den anerkannten Ansatz. Dieser Ansatz öffnet Tor und Tür für eine willkürliche Ausgestaltung der Gesamtstruktur des Strafverfahrens, welche den Ausschluss einer feministischen Staatsanwältin aus der Strafkammer für Sexualdelikte gleichermaßen – zu Unrecht – legitimieren würde.[161]

V. Schlussfazit: Vertrauen der Allgemeinheit als Ouroboros der Integrität

Die Schlussfrage (oben III. 1.) dieser Arbeit kann folgendermaßen beantwortet werden:

Ein Verstoß gegen die Integrität der Strafrechtspflege muss sich entweder in einer faktischen Störung der Machthierarchie niederschlagen oder der Eintritt der Störung muss sich zumindest als unvermeidlich erweisen. Das gestörte hierarchische Machtverhältnis ist nämlich eine Tatsache. Demnach untergliedert es sich in zwei Modalitäten: Rollenverleugnung als Integritätsverletzung, wie im Zwischenfazit dargelegt, und Rollenkollision als Integritätsgefährdung. Eine Gefahr für die Integrität der Strafrechtspflege kommt insoweit vor, wo zumindest eine Rollenkollision unausweichlich erscheint, die aus Sicht eines objektiven Rolleninhabers die Rollenübernahme unzumutbar macht und damit zur Wiederverteilung der Rollen berechtigt.

Das „Vertrauen der Allgemeinheit und der Prozessbeteiligten“ ergänzt nicht nur die „Integrität der Strafrechtspflege“ mit einem subjektiven Anhaltspunkt, vielmehr dehnt es den strafprozessualen Integritätsschutz auf Bereiche aus, in denen eine faktische Störung auf der institutionellen Ebene nicht feststellbar ist. Dieser Ansatz erachtet die institutionelle Integrität als zu subjektiv bestimmt, um das öffentliche Ansehen der Strafrechtspflege adäquat zu fördern. Diesem Umstand trägt die 5. Novelle des GVG Rechnung. Sie würde den Integritätsschutz auf eine Art institutionelle Gefahrenabwehr zum Schutz des Erscheinungsbildes stützen, sodass sich die Strafrechtspflege dadurch gegen potenziell integritätsgefährdende Schöffen wappnen könnte. Hierbei handelt sich um zwei Grundannahmen:

a) Bestimmte persönliche Einstellungen als Gefahren für die Integrität der Strafrechtspflege stellt die vorliegende Arbeit im Ergebnis in Abrede, weil das Vorhandensein bestimmter persönlicher Einstellungen nicht die Integrität gefährden kann und das geltende Recht bereits Instrumente gegen eine Rollenverleugnung oder -kollision aufgrund religiöser, politischer oder ideologischer Weltanschauung zur Verfügung stellt.

b) Das Vertrauen der Allgemeinheit in das Erscheinungsbild der Strafrechtspflege als Maßstab lehnt die Arbeit ebenso ab, da der zum Schutz des Ansehens der Institution errichtete Integritätsschutz zwangsläufig eigene Komponenten verlassen und erodieren muss. Das Vertrauen der Allgemeinheit in die Integrität der Strafrechtspflege als rechtspolitisches Ziel für das Strafverfahrensrecht ist somit ein Ouroboros, ein unaufhörlicher Kreis, der sich selbst negiert!

Als Ergebnis sollte § 32 GVG-E nicht in dieser Form in Kraft gesetzt werden.

 

[1]      Hierbei handelt es sich nicht um eine Anlehnung an die Methode der kritischen Theorie, wie sie insbesondere durch Derrida geprägt wurde. Vielmehr geht es um die Enthüllung von Grundlagen der institutionellen Integrität der Strafrechtspflege, indem die Selbstverständlichkeit des Vertrauens der Allgemeinheit in diese Integrität als eines der geschützten Interessen im Strafverfahrensrecht hinterfragt wird.
[2]      Kubiciel/Tiedemann, in: LK-StGB, 12. Aufl. (2025), § 265b Rn. 11.
[3]      Roxin/Greco, Strafrecht AT I, 5. Aufl. (2020), § 2 Rn. 10, 12, 45c. Vgl. ferner zum Vorschlag eines „Drei-Stufen-Tests“ ders., ebenda, § 2 Rn. 45d-f; ders., in: FS Roxin II, 2011, S. 199 (208 ff.).
[4]      BGH, Urt. v. 24.10.1955 – GSSt 1/55, BGHSt 8, 301 (309); Urt. v. 15.2.1957 – 1 StR 471/56, BGHSt 10, 142 (143).
[5]      Zur rechtsdogmatischen Dekonstruktion von Strafrechtspflege als Rechtsgut s. Vormbaum, Schutz des Strafurteils, 1987, S. 113 ff.
[6]      Vormbaum, in: NK-StGB, 6. Aufl. (2023), Vorb. §§ 153-162 StGB Rn. 3; Vormbaum (Fn. 5), S. 109-110.
[7]      Paradigmatisch: § 344 StGB; s. Kuhlen/Zimmermann, in: NK-StGB, § 344 Rn. 4.
[8]      BVerfG, Beschl. v. 14.7.2016 – 2 BvR 661/16, NJW 2016, 3711, Rn. 20; BGH, Urt. v. 15.9.1995 – 5 StR 713/94.
[9]      Kuhlen/Zimmermann, in: NK-StGB, § 339 Rn. 12.
[10]    Die richterrechtlich anerkannte Auslegung zur „Integrität“ der Strafrechtspflege in Zusammenhang mit der Amtspflichtverletzung unter Missbrauch der amtlichen Stellung i.S.d. § 174a StGB lautet: „Die Integrität des Justizvollzugs und der Strafrechtspflege im öffentlichen Erscheinungsbild erfordern eine besondere Zuverlässigkeit des jeweiligen Beamten und ein uneingeschränktes Einstehen für die einschlägigen Gesetze und Rechtsvorschriften“. VG Magdeburg, Urt. v. 8.12.2022 – 15 A 19/22 MD, juris, Rn. 50; Thüringer OVG, Beschl. v. 5.12.2011 – 8 DO 329/08, juris, Rn. 63; OVG NRW, Urt. v. 5.12.2018 – 3d A 931/14.O, juris, Rn. 114; Sächsisches OVG, Urt. v. 12.2.2016 – 6 A 392/15.D, juris, Rn. 24.
[11]    Hörnle, ZStW 127 (2015), 851 (882).
[12]    BGH, Urt. v. 25.2.1999 – 4 StR 23/99, NStZ 1999, 349 (349); BGH, Urt. v. 15.6.2000 – 4 StR 156/00, BeckRS 2000, 30117400; OLG München, Urt. v. 19.12.2014 – 5 OLG 15 Ss 606/14, BeckRS 2015
15258; OLG München, Urt. v. 28.6.2010 – 5 St RR (1) 34/10, NStZ 2011, 464 (465).
[13]    BT-Drs. VI/3521, S. 25; OLG München, Urt. v. 28.6.2010 – 5 St RR (1) 34/10, NStZ 2011, 464 (466); Eisele, in: Schönke/Schröder, StGB, 30. Aufl. (2019), § 174a Rn. 1 m.w.N.
[14]    Vormbaum (Fn. 5), S. 132. Je deutlicher sich ein Verhaltensmuster feststellen lässt, umso mehr wird die Institution unabhängig von der eigenen Komponente anerkannt und weist eine eigenständige Realität auf. Vgl. Knight, Institutionen und gesellschaftlicher Konflikt, 1997, S. 87. Verhaltensmuster werden deswegen nicht nur als rechtliche Vorgaben verstanden, sondern soziologisch als „institutional pattern of behaviour“, wie in Schelsky, Soziologen und das Recht, 2. Aufl. (2002), S. 336, oder als „Erwartungsmuster, das die Mitglieder einer Gesellschaft mit bestimmten Positionen verbinden“ laut Jäckel, Soziologie, 2010, S. 185. Zur „Verhaltensregel“ vgl. auch Feldmann, Soziologie, 4. Aufl. (2006), S. 73 f.; Schäfers, Soziologie, 2. Aufl. (2016), S. 78.
[15]    Zu Konservierung der Werte und Normen, Reduktion der Komplexität durch Entlastung von Entscheidungen und Vorhersehbarkeit von Handlungen s. Feldmann (Fn. 14), S. 197 m.w.N.; Schäfers (Fn. 14), S. 137. Die ersten zwei Voraussetzungen der Institutionalisierung sind nämlich Habitualisierung und objektive Typisierung, denen zugrunde liegt, dass gewisse Handlung abgekoppelt von den Handelnden standardisiert und damit je nach den künftigen Handlungen reaktiv vorweggenommen werden können, s. Vester, Soziologie I, 2009, S. 98. Ferner stellt sich die berechtigte Frage, weshalb Integritätsverletzungen ausschließlich im Zusammenhang mit jenen Verhaltensmustern in Betracht gezogen werden, die der institutionellen Eigenständigkeit zugeschrieben werden, und nicht auch bei Abweichungen von Mustern, die beispielsweise der Effizienz der Strafverfolgung dienen. Diese Problematik unterstreicht, dass eine differenzierte Betrachtung unabdingbar ist: Während die erstere Kategorie den grundlegenden Erhalt der institutionellen Identität zum Ziel hat, stehen Effizienzüberlegungen oftmals im Dienst operativer Optimierungen und berühren primär nicht den Kern der institutionellen Selbstbestimmung.
[16]    Integrität muss vor allem die objektive Wirklichkeit jener Institution betreffen, der gegenüber unabhängig von ihren einzelnen Komponenten wie etwa Arbeitskräften oder Gebäuden, bereits eine Erwartung besteht, wie man sich in oder mit dieser Institution verhalten sollte, s. dazu Feldmann (Fn. 14), S. 198; Jäckel (Fn. 14), S. 195 m.w.N.
[17]    Diese Gleichung erscheint zuerst in der behavioristischen Institutionenlehre von F. H. Allport, s. Schelsky (Fn. 14), S. 336.
[18]    Jäckel (Fn. 14), S. 195.
[19]    Macht bedeutet hier im Anschluss an Knight (Fn. 14), S. 46 die Möglichkeit, die vorhandene Menge von Handlungsalternativen eines Akteurs (i.S.d. Rolleninhabers, dazu s. u. II. 2.) zu beeinflussen. In eine ähnliche Richtung s. Balzer, Soziale Institutionen, 1993, S. 26, 211, 282. Zu sonstigen Ansichten s. Jäckel (Fn. 14), S. 170; Feldmann (Fn. 14), S. 222 ff.; Vester (Fn. 15), S. 138 ff.
[20]    Ähnlich wie die Abgrenzung von „Macht über andere Menschen“ und „Macht mit anderen“, vgl. Vester (Fn. 15), S. 140.
[21]    Vgl. Schäfers (Fn. 14), S. 135.
[22]    Schäfers (Fn. 14), S. 67 ff.
[23]    Machtsymmetrie als Ausnahmefall s. Feldmann (Fn. 14), S. 225; als Idealtyp s. Balzer (Fn. 19), S. 30.
[24]    Knight (Fn. 14), S. 46.
[25]    Knight (Fn. 14), S. 158.
[26]    Knight (Fn. 14), S. 159.
[27]    Zur Kritik tritt an dieser Stelle die von Jäckel (Fn. 14), S. 170 eingeführte Feststellung hinzu, je mehr Individuen an einer konkreten Situation beteiligt sind, desto schwieriger werde es, Machtformen durch die Abgrenzung von Überlegenheit/Unterlegenheit in Form eines Machtsaldos darzustellen. Diese Arbeit stellt daher unter II. 2. bei der Machtbeziehung auf situationsbedingte Rollen der Prozesssubjekte ab, die sich entsprechend konkreten Umständen rekonstruieren.
[28]    Strelitz, Verständigung, 2022, S. 48.
[29]    Beulke/Swoboda, Strafprozessrecht, 16. Aufl. (2020), § 19 Rn. 594: „Absprache ist aus der Praxis nicht mehr wegzudenken“.
[30]    Gesetz zur Regelung der Verständigung im Strafverfahren vom 29.7.2009, BGBl. I 2009, S. 49.
[31]    Dies ist schon vom Gesetzgeber zugegeben worden, indem er mit dem Verständigungsgesetz darauf abgezielt hat, „[die Absprache] mit den überkommenen Grundsätzen des Strafverfahrens in Übereinklang zu bringen“. BT-Drs. 16/12310, S. 1. Dazu s. Feichtlbauer, Verständigung als Fremdkörper, 2021, S. 269.
[32]    Niemöller, in: NSW-Verständigungsgesetz, 2010, Teil A Rn. 32, 34; Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, 30. Aufl. (2017), § 17 Rn. 8, Stuckenberg, in: LR-StPO, 27. Aufl. (2021), § 257c Rn. 19.
[33]    LG Frankfurt, Urt. v. 9.4.2003 – 22 Ks 2/03, NJW 2005, 692. Roxin/Greco, § 15 Rn. 103.
[34]    Herdegen, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, 55. Lfg. (2009), Art. 1 Abs. 1 Rn. 51: „Der Gesetzgeber müsste seiner Verantwortung für grundrechtsrelevante Regelungen zur Schmerzzufügung nachkommen. Die gesetzliche Normierung abgestufter ‚Instrumente‘ im Dienste der Gefahrenabwehr würde einen schweren Einbruch in die Rechtskultur bedeuten“.
[35]    Schünemann, Wetterzeichen, 2005, S. 17; Stuckenberg, in: LR-StPO, § 257c Rn. 9. Zum Gesetzlichkeitsprinzip im Zusammenhang mit der Absprachenpraxis s. Greco, Strafprozesstheorie, 2015, Fn. 1031; Velten, in: SK-StPO, 5. Aufl. (2016), Vorb. §§ 257b–257c ff. Rn. 19a. Ausführlich zu bewusst erschaffener Unbestimmtheit in der Rechtslage s. Feichtlbauer (Fn. 31), S. 95-96, 155, 163-164; Strelitz (Fn. 28), S. 135.
[36]    Roxin/Greco, § 15 Rn. 104. Zum Schutzgut als „Integrität der im Gesetz genannten Verfahrensarten“ neben Willensfreiheit s. Kuhlen/Zimmermann, in: NK-StGB, § 343 Rn. 3.
[37]    EGMR, Urt. v. 1.6.2010 – 22978/05, juris, Rn. 175.
[38]    EGMR, Urt. v. 1.6.2010 – 22978/05, juris, Rn. 90-91.
[39]    Röhl, Rechtssoziologie, 1987, § 6 II.: „Rechtsstaben“ im Weber’schen Terminus.
[40]    Schünemann, SuS, 2020, S. 495-496; Schünemann (Fn. 35), S. 38.
[41]    Gesetz zur Regelung der Verständigung im Strafverfahren vom 29.7.2009, BGBl. I 2009, S. 49.
[42]    Niemöller, Teil A Rn. 2; Stuckenberg, in: LR-StPO, § 257c Rn. 1-2; Strelitz (Fn. 28), S. 48.
[43]    Roxin/Schünemann, § 17 Rn. 8; Stuckenberg, in: LR-StPO, § 257c Rn. 25
[44]    Velten, in: SK-StPO, Vorb. §§ 257b–257c Rn. 12.
[45]    EGMR (5. Kammer), Urt. v. 1.6.2010 – 22978/05, juris, Rn. 175 a. E.
[46]    Roxin/Greco, § 15 Rn. 107a; Greco, in: FS Schünemann, 2014, S. 68, (69-70).
[47]    Neuhaus, Rettungsfolter, 2023, S. 65 f.
[48]    Feldmann (Fn. 14), S. 197.
[49]    Hier gemeint ist explizit die Rollenlehre von Dahrendorf, Homo Sociologicus, 16. Aufl. (2006), S. 38, demnach ist „jede einzelne Rolle ein Komplex von Verhaltenserwartungen“. Für die Bedeutung und Geschichte der Rollenlehre in der Soziologie s. Vester (Fn. 15), S. 52.
[50]    Jäckel (Fn. 14), S. 197.
[51]    Dahrendorf (Fn. 49), S. 32. Zur Gegenauffassung siehe Goffman, Interaction Ritual, 1967, S. 108 f.; dazu s. auch Jäckel (Fn. 14), S. 205; Abels, Interaktion, 4. Aufl. (2007), S. 161-162.
[52]    Jäckel (Fn. 14), S. 198-199.
[53]    Dahrendorf (Fn. 49), S. 37.
[54]    Feldmann (Fn. 14), S. 73.
[55]    Feldmann (Fn. 14), S. 69.
[56]    Goffman, Encounters,1961, S. 77. Wie Jäckel (Fn. 14), S. 159 zu Recht hervorhebt, „wer von Gesellschaft spricht, denkt dabei gleichzeitig an die Rolle des Individuums, wer den Streit als eine Form der Vergesellschaftung einordnet, verdeutlicht die Grenzen von Selbstständigkeit“ oder wie Dahrendorf (Fn. 49), S. 63 rebellisch ausdrückte, „der rollenlose Mensch ist für Gesellschaft und Soziologie ein nicht existierendes Wesen“.
[57]    Nach Goffman (Fn. 56), S. 78 müssen die Rollen nicht allein konstruktive Eigenschaften (eufunction) tragen, sondern sie können nicht selten auch destruktive Funktionen (dysfunction) erfüllen. Hierfür schließt sich die Funktionalität des Rollenbegriffs an institutionsbedingte Machtsymmetrie und Machtasymmetrie an (s.o. II. 1.), denen die institutionsbedingte Ressourcenverteilung zwischen Akteuren zugrunde liegt. Die zugrundeliegende Ressourcenverteilung geht deshalb immer mit der Rollenverteilung einher, bei der sich gleichfalls die Machtstellungen andeuten. Dazu s. Knight (Fn. 14), S. 158-159.
[58]    Dahrendorf (Fn. 49), S. 39; Goffman (Fn. 56), S. 82.
[59]    Rollen-Haben und Rollen-Leistung sowie Erwartung-Erfüllen bilden insoweit keine deterministische, von vornherein feststellbare Kausalkette, auf die sich Rolleninhaber permanent unabhängig von ihrer Positionierung und der konkreten Situation blind verlassen können. Es wäre nicht üblich gewesen, die Rollenlehre immer ergänzend mit der psychologischen und dynamischen Seite des Menschen mitzudenken, dazu vgl. Dahrendorf (Fn. 49), S. 62.
[60]    Goffman (Fn. 56), S. 82.
[61]    Abels (Fn. 51), S. 175.
[62]   Goffman (Fn. 56), S. 92. Die Institution kann die zeitlichen und strukturellen Herausforderungen nicht allein durch die strenge Einhaltung von Verhaltensmustern bewältigen, ohne sich die Möglichkeit für Regelverstöße und Regelabänderungen offenzuhalten, dazu s. Jäckel (Fn. 14), S. 190.
[63]    Feldmann (Fn. 14), S. 71: „Positionen und Rollen bleiben, Menschen gehen“.
[64]    Desorientierung und Orientierung gehören paradoxerweise gleichermaßen zu dem gesellschaftlichen Bedarf an die Institutionalisierung, s. dazu Jäckel (Fn. 14), S. 191; Abels(Fn. 51), S. 184; Schäfers (Fn. 14), S. 81.
[65]    Goffman (Fn. 56), S. 77, 129; ders. (Fn. 51), S. 116. Wechselhafte Verhaltenserwartungen halten sich auf Dauer nur, solange „sich die Akteure erfolgreich und unzweideutig signalisieren können, dass sie die handlungssichernden Erwartungsverkettungen kennen und deren ‚Funktionalität‘ respektieren“, vgl. Schmid, Der Neue Institutionalismus,2018, S. 16.
[66]    Jäckel (Fn. 14), S. 189; Vester (Fn. 15), S. 52.
[67]    Goffman (Fn. 51), S. 116; Jäckel (Fn. 14), S. 201.
[68]    Feldmann (Fn. 14), S. 328 f.
[69]    Zur rollenbezogenen Basis für das Arzt-Patient-Verhältnis s. Feldmann (Fn. 14), S. 330.
[70]    Feldmann (Fn. 14), S. 72.
[71]    Vgl. Knight (Fn. 14), S. 87; Jäckel (Fn. 14), S. 189.
[72]    Dazu s.o. Fn. 14-15.
[73]    Jäckel (Fn. 14), S. 190; Feldmann (Fn. 14), S. 330.
[74]    Goffman (Fn. 51), S. 11. Zur Analyse der Richterrolle s. Vester (Fn. 15), S. 53.
[75]    Schünemann (Fn. 40), S. 369; Vormbaum (Fn. 5), S. 132; ders., in: NK-StGB, Vorb. §§ 153-162, Rn. 15.
[76]    Enttäuschte Verhaltenserwartung anlässlich einer schlechten Rollenleistung könnte als strafbarer Angriff auf die Rechtspflege an sich in Betracht kommen, wie Vormbaum (Fn. 5), S. 254 i.R.d. § 153 StGB impliziert hat. Das Strafrecht hat bereits gewisse Fälle, in denen ein konkreter Verfahrenszweck (Vormbaum, in: NK-StGB, Vorb. §§ 153-162, Rn. 11.) offenbar droht, in den Griff bekommen, ohne einen zusätzlichen rechtswidrigen Eingriff in die Integrität der Strafrechtspflege zu benötigen. Dazu s. Vormbaum (Fn. 5), S. 254 m.w. N.
[77]    Vormbaum, in: NK-StGB, Vorb. §§ 153-162, Rn. 15-18.
[78]    Vester (Fn. 15), S. 53. Dagegen kritisch s. Schäfers (Fn. 14), S. 81.
[79]    Sofern die institutionsbedingte Ungleichheit zwischen Akteuren durch die Rolleneinnahme aufrechterhalten ist, s. dazu Balzer (Fn. 19), S. 283.
[80]    Vgl. Balzer (Fn. 19), S. 283; Schünemann (Fn. 40), S. 369.
[81]    Denn ein (institutionalisiertes) Rollenverhalten muss unbedingt realisiert werden, um die institutionelle Integrität wiederherzustellen und die institutionelle Selbstständigkeit aufzuzeigen, vgl. Dahrendorf (Fn. 49), S. 52.
[82]    BGH, Urt. v. 16.12.2024 – 6 StR 335/23, Pressemitteilung Nr. 236/2024; ausführlich s. Sehl, in: LTO, Beitrag v. 16.12.2024, online abrufbar unter: https://www.lto.de/recht/justiz/j/bgh-revision-6str335/23-staatsanwalt-unter-verdacht-kokain-korrupt-hannover-justiz (zuletzt abgerufen am 13.1.2025).
[83]    LG Hannover, Urt. v. 14.3.2023 – 96 KLs 6031 – Js 9834/22 (16/22); ausführlich s. Sehl, in: LTO, Beitrag v. 30.10.2024, online abrufbar unter: https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/staatsanwalt-kokain-mafia-niedersachsen (zuletzt abgerufen am 13.1.2025).
[84]    Sehl (Fn. 83).
[85]    Ebd.
[86]    Sehl (Fn. 82).
[87]    Ebd.
[88]    Ebd.
[89]    Ebd.
[90]    Ebenso im Ergebnis s. Roxin/Schünemann, § 26 Rn. 7.
[91]    BVerfG, Beschl. v. 16.4.1969 – 2 BvR 115/69, BVerfGE 25, 336 (345); BGH, Urt. v. 3.5.1960 – 1 StR 155/60, BGHSt 14, 265; Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 67. Aufl. (2024), Vorb. § 22 Rn. 3–5; Siolek, in: LR-StPO, 27. Aufl. (2016), Vorb. § 22 Rn. 8; Heil, in: KK-StPO, 9. Aufl. (2023), Vorb. § 22 Rn. 1; Conen/Tsambikakis, in: MüKo-StPO, 2. Aufl. (2023), § 22 Rn. 4.
[92]    Landesrechtlich (vgl. § 11 BWAGGVG, § 95 NdsJG) sind deshalb die kollidierenden Verfahrensrollen wie bei § 22 ff. StPO gesondert aufgeführt. Ausführlich dazu s. Roxin/Schünemann, § 9 Rn. 15; Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, Vorb. § 22 Rn. 3; Siolek, in: LR-StPO, Vorb. § 22 Rn. 15.
[93]    Damit wird bereits der Zweck des Hauptverfahrens im sog. reformierten Strafprozessrecht verfehlt, vgl. Hamm/Pauly, Revision in Strafsachen, 8. Aufl. (2021), Rn. 549.
[94]    Dagegen spricht zuerst die Vermutung des BGH, dass die Mitwirkung eines ausgeschlossenen Staatsanwalts nicht als ein absoluter Revisionsgrund unter § 338 StPO anzuerkennen und nur im Rahmen des § 337 Abs. 1 StPO zu prüfen ist. Dazu s. BGH, Urt. v. 3.5.1960 – 1 StR 155/60, NJW 1960, 1358 (1359); BGH, Urt. v. 19.3.1996 – 1 StR 497/95, NJW 1996, 2239 (2241); BGH, Urt. v. 19.9.2019 – 1 StR 235/19, NStZ 2020, 180 (180); Hamm/Pauly, Rn. 530, 598 m.w.N.
[95]    BVerfG, Beschl. v. 22.9.2005 – 2 BvR 93/05, BVerfGK 6, 235 (237); BGH, Urt. v. 17.9.2014 – 1 StR 212/14, NStZ 2015, 181 (181); BGH, Urt. v. 4.4.2017 – 3 StR 71/17, NStZ 2019, 234 (234); BGH, Urt. v. 27.6.2018 – 1 StR 616/17, NStZ 2019, 481 (482).
[96]   Beulke/Swoboda, § 29 Rn. 854; Hamm/Pauly, Rn. 551; Meyer-Goßner, in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, § 338 Rn. 36; Gericke, in: KK-StPO, § 338 Rn. 70; Knauer/Kudlich, in: MüKo-StPO, § 338 Rn. 85.
[97]    Gericke, in: KK-StPO, § 338 Rn. 72; Hamm/Pauly, Rn. 598; Knauer/Kudlich, in: MüKo-StPO, § 338 Rn. 85; Meyer-Goßner, in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, § 338 Rn. 39.
[98]    Jäckel (Fn. 14), S. 201 zufolge ist es höchst pathologisch, wenn die in solchen Fällen psychologisch gebotene Rollendistanz nicht eingehalten wird. Der BGH und Teile der Literatur (vor allem Conen/Tsambikakis, in: MüKo-StPO, § 22 Rn. 8) neigen eher zur unrealistischen Gegenansicht. Mit dem Urteil v. 22.1.2008 – 1 StR 607/07 – NStZ 2008, 353 (353) sieht der 5. Senat darin keinen revisiblen Fehler, dass z.B. die Zeugenrolle zusätzlich von dem Staatsanwalt eingenommen wurde. Der 1. Senat geht noch einen Schritt weiter und hält in BGH, Urt. v. 7.12.1993 – 5 StR 171/93, NStZ 1994, 194 (194) die Trennbarkeit der Rolle für rechtlich möglich. In ähnliche Richtung s.a. BGH, Urt. v. 30.1.2007 – 5 StR 465/06, NStZ 2007, 419 (420); BGH, Urt. v. 31.7.2018 – 1 StR 382/14, NStZ 2019, 234 (235). Kritisch hierzu s. Roxin/Schünemann, § 26 Rn. 8.
[99]    Zum Begriff s. Roxin/Schünemann, § 26 Rn. 8.
[100]   Hamm/Pauly, Rn. 560. Zur anderen Ansicht s. Gericke, in: KK-StPO, § 338 Rn. 71; Knauer/Kudlich, in: MüKo-StPO, § 338 Rn. 84; Meyer-Goßner, in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, § 338 Rn. 14.
[101]   Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, Vorb. § 22 Rn. 3; Siolek, in: LR-StPO, Vorb. § 22 Rn. 12; Heil, in: KK-StPO, Vorb. § 22 Rn. 1, 7; Conen/Tsambikakis, in: MüKo-StPO, § 22 Rn. 7.
[102]   Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, Vorb. § 22 Rn. 7. Wie beim schlafenden Staatsanwalt s. OLG Hamm, Beschl. v. 2.3.2006 – 2 Ss 47/06, NJW 2006, 1449 (1449).
[103]   So ausdrücklich Hamm/Pauly, Rn. 552. Zur Abgrenzung von bloßen Gewaltakten und rechtlich anerkannten justiziellen Akten s. Greco (Fn. 35), S. 252 ff.
[104]   Dahrendorf (Fn. 49), S. 37-38.
[105]   Vgl. Dahrendorf (Fn. 49), S. 52.
[106]   BVerfG, Beschl. v. 14.1.2020 – 2 BvR 1333/17, NJW 2020, 1049 (1053); BayObLG, Beschl. v. 15.1.2024 – 204 VAs 177/23, juris, Rn. 81 f.; LG Lüneburg, Beschl. v. 25.1.2010 – 26 Qs 306/09, juris, Rn. 16; VG Magdeburg, Urt. v. 30.3.2017 – 15 A 16/16, juris, Rn. 15, 44.
[107]   Börner, ZIS 2018, 178 (181); Kaiske, JR 2017, 16 (17); Trüg, StV 2011, 111 (116); Wohlers, StV 2011, 252 (254). Zweifelnd, aber teilweise zustimmend Albrecht, ZStW 135 (2023), 523 (533, 564).
[108]   Das berufserforderliche Vertrauen bezieht sich immer auf das konkretisierbare und abgrenzbare Verhältnis des Amtsträgers zum Dienstherrn und ggf. der Öffentlichkeit, aber jedenfalls auf die persönliche Integrität. Zur „Vertrauenswürdigkeit einer Person“ s. BVerwG, Urt. v. 18.6.2015 – 2 C 9/14, BVerwGE 152, 228, juris, Rn. 11, 19; BVerwG, Beschl. v. 2.5.2017 – 2 B 21/16, juris, Rn. 6.
[109]   Zum Zusammenhang s. Kaiske, JR 2017, 16 (17); Trüg, StV 2011, 111 (116); Wohlers, StV 2011, 252 (254).
[110]   Insbesondere bei dem Kopftuchstreit, wo die Richterin bei der Wahrnehmung ihrer Rolle auf das Ablegen des Kopftuchs verzichtet, beschränkt sich die richterliche Argumentation nicht auf das konkrete Vertrauensverhältnis zwischen den Prozessbeteiligten, sondern richtet sich gezielt auf das Vertrauen in die Integrität bzw. Funktionalität der Strafrechtspflege, wie das BVerfG, Urt. v. 14.1.2020 – 2 BvR 1333/17, NJW 2020, 1049 (1053) festgestellt hat.
[111]   Eser, ZStW 97 (1985), 1 (3); Nisco, ZIS 2021, 1 (1).
[112]   Engländer, in: Matt/Renzikowski, StGB, 2. Aufl. (2020), § 223 Rn. 1, 18 ff.; Eser, ZStW 97 (1985), 1 (5), Nisco, ZIS 2021, 1 (2).
[113]   Vgl. Engländer, in: Matt/Renzikowski, StGB, § 223 Rn. 20, 21;      Eser, ZStW 97 (1985), 1 (7 ff.); Putzke, in: FS Herzberg, 2008, S. 669 (673).
[114]   Roxin/Greco, § 13 Rn. 12, 29.
[115]   Jäckel (Fn. 14), S. 197, 199: Obgleich die beiden Ansichten, namentlich Rollenlehre und Gesellschaft als Organismus, einander nicht ausschließen, folgen m. E. beide, obwohl sie in der Soziologie populär sind, voneinander trennbaren Methoden, bei denen es auf die individuelle Kraft ankommt, inwieweit sich die Einzelnen losgelöst von ihren Rollen oder ihren Funktionen wie Zellen autonom verhalten und damit zur Funktionalität der Rollen bzw. der gesellschaftlichen Zellen beitragen können.
[116]   Dabei wurde impliziert, dass jede Amtspflichtverletzung einen Integritätsverstoß darstellt (s.o. II. 2.).
[117]   Die Rollenkollision betrifft hier den Interrollenkonflikt (Konflikt zwischen zwei Rollen) im soziologischen Terminus nach Dahrendorf (Fn. 49), S. 97; Feldmann (Fn. 14), S. 71 f.; Jäckel (Fn. 14), S. 203; Schäfers (Fn. 14), S. 81; Vester (Fn. 15), S. 56. Hierbei handelt es sich um nicht zu vereinbarende Erwartungshorizonte, die offensichtlich miteinander kollidieren. Der Intrarollenkonflikt (Konflikt innerhalb der Rolle) befindet sich dagegen nicht unmittelbar auf institutioneller Ebene.
[118]   Zur Erweiterung des Anwendungsbereichs von § 24 StPO durch „Vertrauen in die Rechtspflege bzw. Rechtsprechung“ s. Albrecht, ZStW 135 (2023), 523 (547); Siolek, in: LR-StPO, § 24 Rn. 7–8, 13. In eine ähnliche Richtung vgl. Conen/Tsambikakis, in: MüKo-StPO, § 24 Rn. 17–18.
[119]   BVerfG, Beschl. v. 16.6.1973 – 2 BvQ 1/73, 2 BvF 1/73, BVerfGE 35, 246 (253); BVerfG, Beschl. v. 12.7.1986 – 1 BvR 713/83, BVerfGE 73, 330 (335); BVerfG, Beschl. v. 29.6.2004 – 1 BvR 336/04, NJW 2004, 3550 (3551); BGH, Urt. v. 13.3.1997 – 1 StR 793/96, BGHSt 43, 16 (18); Beulke/Swoboda, § 4 Rn. 112; Roxin/Schünemann, § 8 Rn. 1; Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, § 24 Rn. 8; Heil, in: KK-StPO, § 24 Rn. 5.
[120]   Folglich kennt die intensive Medienberichterstattung nur irrelevante bzw. unerhebliche Gefahren gegen die Integrität der Strafrechtspflege. Aus diesem Grund wendet sich Albrecht, ZStW 135 (2023), 523 (546, 554) methodologisch gegen „das Vertrauen der Allgemeinheit“ und relativiert damit die objektiv festgelegte Grundlage von §§ 22 ff. StPO. Dies ist keinesfalls ein neuer Ansatz im Strafprozessrecht. Das Vertrauen der Allgemeinheit als Maßstab findet sich nicht selten in Entscheidungen des BVerfG, z.B. stellt das BVerfG, Beschl. v. 15.1.2020 – 2 BvR 1763/16, juris, Rn. 38 fest, dass „ein Verzicht auf die effektive Verfolgung zu einer Erschütterung des Vertrauens und einem Klima der Rechtsunsicherheit führen“ kann. Ausführlich und kritisch s. Erdem, Die Grenzen der Subjektstellung des Opfers, in: JuWissBlog Nr. 56/2023, online abrufbar unter: https://www.juwiss.de/56-2023/ (zuletzt abgerufen am 3.3.2025).
[121]   Mit dem sog. manifesten Vertrauensverlust der Allgemeinheit in die Integrität der Strafverfolgung spricht sich Trüg, StV 2011, 111 (116); gegen die Verwertung rechtswidrig gewonnener und staatlich angekaufter Daten aus; ebenfalls Wohlers, StV 2011, 252 (254) mit der sog. Dignität der Strafrechtspflege.
[122]   BayObLG, Beschl. v. 15.1.2024 – 204 VAs 177/23, juris, Rn. 81 f.
[123]   VG Magdeburg, Urt. v. 30.3.2017 – 15 A 16/16, juris, Rn. 15, 44.
[124]   BVerfG, Beschl. v. 14.1.2020 – 2 BvR 1333/17, NJW 2020, 1049 (1053).
[125]   Börner, Legitimation durch Strafverfahren, 2014, S. 154 ff.; Börner, ZIS 2018, 178 (181 f).
[126]   Börner (Fn. 125), S. 160; Börner, ZIS 2018, 178 (182).
[127]   Börner (Fn. 125), S. 159; Börner, ZIS 2018, 178 (181).
[128]   Börner (Fn. 125), S. 159, 163 ff.; Börner, ZIS 2018, 178 (179).
[129]   Börner (Fn. 125), S. 160; Börner, ZIS 2018, 178 (179).
[130]   Börner Börner, ZIS 2018, 178 (182).
[131]   Börner (Fn. 125), S. 146 ff.; Börner, ZIS 2018, 178 (179).
[132]   Als naturalistischer Fehlschluss, s. Greco (Fn. 35), S. 154.
[133]   Feldmann (Fn. 14), S. 197; Schäfers (Fn. 14), S. 137; Vester (Fn. 15), S. 98.
[134]   Dahrendorf (Fn. 49), S. 52: „Der Begriff der Rolle bezeichnet nicht Verhaltensweisen, über deren Wünschbarkeit ein mehr oder minder eindrucksvoller Consensus der Meinungen besteht, sondern solche, die für den Einzelnen verbindlich sind und deren Verbindlichkeit institutionalisiert ist, also unabhängig von seiner oder irgendeiner anderen Meinung gilt“.
[135]   Börner (Fn. 125), S. 162; Börner, ZIS 2018, 178 (179, 181).
[136]   Vor allem s. Greco (Fn. 35), S. 154: „[Der systemtheoretische Ansatz] beobachtet das Verfahren von außen, während der Jurist für seinen Blick aus der Innenperspektive Licht benötigt“.
[137]   Börner (Fn. 125), S. 162-163.
[138]   Indem die Angst vor einem Grundrechtseingriff mit einer konkreten Grundrechtsverletzung gleichgestellt wurde, vgl. Schewe, Das Sicherheitsgefühl und die Polizei, 2009, S. 205, 215, oder als ethische Erwartung, s. Volk, in: FS Roxin, 2011, S. 215 (223). In eine ähnliche Richtung s. Nisco, ZIS 2021, 1 (4 ff). Dagegen kritisch s. Roxin/Greco, § 2 Rn. 27 ff.
[139]   So im Ergebnis Roxin/Greco, § 2 Rn. 26.
[140]   Dies bedeutet selbstverständlich nicht, dass die StPO strikt von strafrechtlichen Grundprinzipien abhängend angewendet werden müsste, sondern zeigt vor allem, dass die Emotionalisierung bzw. Subjektivierung nicht besorgniserregender scheint als in dem strafrechtlichen Diskursrahmen.
[141]   Regierungsentwurf v. 4.12.2024 zur Änderung des Gerichtsverfassungsgesetzes und zur Vererblichkeit bei Persönlichkeitsrechtsverletzungen (Veröffentlichung des Referentenentwurfs am 30.8.2024).
[142]   Barthe, in: KK-StPO, § 32 GVG Rn. 2, 3; Gittermann, in: LR-StPO, § 32 GVG Rn. 3, 5; Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, § 32 GVG Rn. 1, 3; Schuster, in: MüKo-StPO, 2. Aufl. (2025), § 32 GVG Rn. 1.
[143]   RegE (Fn. 141), S. 1, 5.
[144]   Barthe, in: KK-StPO, § 51 GVG Rn. 1, 3; Gittermann, in: LR-StPO § 51 GVG Rn. 1; Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, § 51 GVG Rn. 1; Schuster, in: MüKo-StPO, § 51 GVG Rn. 2.
[145]   Gärditz, NJW 2024, 9, 407 Rn. 1, 2.
[146]   Gärditz, a.a.O., Rn. 22: „Die Integrität der Institutionen des demokratischen Rechtsstaats ist daher zu schützen und insbesondere Extremisten sind konsequent von öffentlichen Ämtern fernzuhalten bzw. aus solchen zu entfernen. […] Gerade im Richterdienstrecht sind aber fortbestehende Regelungsdefizite greifbar, auch weil ein Extremismus in Robe die Funktionsfähigkeit rechtsstaatlicher Kontrolle kategorial beschädigt.“
[147]   Zweifelnd Anger, NJW 2008, 3041 (3042); Wagner, Rechte Richter, 2. Aufl. (2023), S. 259.
[148]   Schöffen aus dem „Reichbürger“-Milieu, welche die Legitimität der gesamten Verfassungsordnung der BRD leugnen und dies aktiv propagieren, OLG Dresden, Beschl. v. 8.12.2014 – 2 (S) AR 37/14, juris, Rn. 11; OLG Hamm, Beschl. v. 14.6.2017 – 1 Ws 258/17, juris, Rn. 6; vgl. Barthe, in: KK-StPO, § 51 GVG Rn. 2; Gittermann, in: LR-StPO, § 51 GVG Rn. 4; Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, § 51 GVG Rn. 2; Schuster, in: MüKo-StPO, § 51 GVG Rn. 5; Wagner (Fn. 147), S. 264.
[149]   Schöffen, die auf digitalen Plattformen Hassbotschaften gegen Straftäter verbreiten und öffentlich für die Todesstrafe für Sexualdelikte plädieren, KG Berlin, Beschl. v. 25.5.2016 – 3 ARs 5/16, juris, Rn. 17; vgl. Barthe, in: KK-StPO, § 51 GVG Rn. 2; Gittermann, in: LR-StPO, § 51 GVG Rn. 4, 4b; Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, § 32 GVG Rn. 2; Schuster, in: MüKo-StPO, § 51 GVG Rn. 5; Wagner (Fn. 147), S. 265.
[150]   Schöffen, die sich der deutschen Rechtspflege widersetzen oder in der Absicht handeln, die deutsche Strafrechtspflege zu sabotieren, BVerfG, Nichtannahmebeschl. v. 6.5.2008 – 2 BvR 337/08
BVerfGK 13, 533, juris, Rn. 26; OLG München, Beschl. v. 21.3.2016 – 2 Ws 131/16, juris, Rn. 13; vgl. Anger, NJW 2008, 3041 (3043); Barthe, in: KK-StPO, § 51 GVG Rn. 2; Gittermann, in: LR-StPO, § 51 GVG Rn. 4a; Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, § 32 GVG Rn. 2; Schuster, in: MüKo-StPO, § 51 GVG Rn. 5; Wagner(Fn. 147), S. 264.
[151]   Barthe, in: KK-StPO, § 51 GVG Rn. 2; Gittermann, in: LR-StPO, § 51 GVG Rn. 3; Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, § 51 GVG Rn. 2; Schuster, in: MüKo-StPO, § 51 GVG Rn. 8.
[152]   Barthe, in: KK-StPO, § 51 GVG Rn. 3, 4; Gittermann, in: LR-StPO, § 32 GVG Rn. 6; Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, § 51 GVG Rn. 5; Schuster, in: MüKo-StPO, § 51 GVG Rn. 9.
[153]   BGH, Urt. v. 21.6.1978 – 3 StR 81/78 (S), BGHSt 28, 61 (63); Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, § 52 GVG Rn. 1; Schuster, in: MüKo-StPO, § 52 GVG Rn. 7. Zweifelnd Barthe, in: KK-StPO, § 52 GVG Rn. 4; Gittermann, in: LR-StPO, § 52 GVG Rn. 4.
[154]   KG Berlin, Beschl. v. 9.10.2012 – (3) 121 Ss 166/12 (120/12), juris, Rn. 3–5; LG Bielefeld, Beschl. v. 16.3.2006 – 3221 b E H 68, juris, Rn. 11; Gittermann, in: LR-StPO, § 31 GVG Rn. 19a; Bader, NJW 2007, 2964 (2966); Erdem (Fn. 120). Dagegen OLG Hamm, Beschl. v. 11.4.2024 – III-5 Ws 64/24, juris, Rn. 7; LG Dortmund, Beschl. v. 7.11.2006 – 14 (VIII) Gen Str K, juris, Rn. 3; Krauß, in: LR-StPO, § 176 GVG Rn. 25.
[155]   OLG Hamm, Beschl. v. 12.3.2019 – III-1 Ws 111/19, juris, Rn. 8; BT-Drs. 539/10, S. 21; Gittermann, in: LR-StPO, § 51 GVG Rn. 4; Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, § 51 GVG Rn. 2; Schuster, in: MüKo-StPO, § 51 GVG Rn. 4.
[156]   Ausführlich Barthe, in: KK-StPO, § 51 GVG Rn. 2. Arg. e contrario s. OLG München, Beschl. v. 21.3.2016 – 2 Ws 131/16, juris, Rn. 19–20.
[157]   Obwohl die herrschende Meinung hier als Anhaltspunkt zu dessen Verfassungsmäßigkeit die sog. „Gefahr des Vertrauensverlustes“ heranzieht (BGH, Urt. v. 6.8.1987 – 4 StR 319/87, BGHSt 35, 28
Gittermann, in: LR-StPO, § 32 GVG Rn. 8; Schuster, in: MüKo-StPO, § 32 GVG Rn. 7), handelt es sich hier m.E. um nichts anderes als eine Rollenkollision, die die Integrität der Strafrechtspflege verletzt (oben IV. 1.). Das Vertrauen der Allgemeinheit bzw. der Prozessbeteiligten in diejenigen, gegen die ein Ermittlungsverfahren läuft, spielt hier keine Rolle.

[158]   Dahrendorf (Fn. 49), S. 52.

[159]   Mythische Kreatur, die sich in den eigenen Schwanz beißt.

[160]   Feldmann (Fn. 14), S. 197; Schäfers (Fn. 14), S. 137; Vester (Fn. 15), S. 98.

[161]   Bei der Teilnahme einer feministischen Sitzungsvertreterin der Staatsanwaltschaft wendet der 5. Strafsenat des BGH § 24 Abs. 1 2. Alt StPO nach dem seinerseits festgelegten objektiven Maßstab (s.o. Fn. 119) an und hält eine solche politische Einstellung an sich nicht für eine Gefahr für die Integrität, BGH, Urt. v. 18.1.2024 – 5 StR 473/23, juris, Rn. 12. Kritisch Walter, JZ 2024, 1043 (1044, 1046), soweit der Gesetzgeber sich bereiterklären würde, das allgemeine Vertrauen in die Integrität der Strafrechtspflege vor jenem Misstrauen zu schützen, wäre er bereits bereit, sich gegen jede politische Richtung zu stellen.

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