von Alicia Althaus und Sina Aaron Moslehi
I. Sachverhalt
Der vom OLG Düsseldorf entschiedene Fall wirft ein Schlaglicht auf ein in der Praxis weit verbreitetes Problem: Es geht um die Auswirkungen verzögerter Protokollfertigstellung auf die Fortdauer der Untersuchungshaft.
Der Angeklagte befand sich seit dem 15. Dezember 2022 in Untersuchungshaft und wurde am 20. August 2024 vom LG Wuppertal – nicht rechtskräftig – wegen bandenmäßigen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zehn Jahren verurteilt. Während das LG das Verfahren bis zur Urteilsverkündung nach 34 Hauptverhandlungstagen zügig durchführte und das 85-seitige schriftliche Urteil unter Ausnutzung der Urteilsabsetzungsfrist nach § 275 Abs. 1 StPO am 19. November 2024 niederlegte, verzögerte sich die Fertigstellung des Hauptverhandlungsprotokolls erheblich.
Das OLG stellte fest, dass das Hauptverhandlungsprotokoll zum Zeitpunkt seiner Entscheidung am 5. Juni 2025 noch immer nicht fertiggestellt war, obwohl der Vorsitzende mit Schreiben vom 3. Juni 2025 dessen Fertigstellung für den Tag der Entscheidung angekündigt hatte. Der Zeitraum zwischen der Absetzung der schriftlichen Urteilsgründe und der Protokollfertigstellung betrug damit mehr als sechs Monate. Diese Verzögerung verhinderte die Zustellung des Urteils zur Auslösung der Revisionsbegründungsfrist (§§ 345 Abs. 1 S. 3, 273 Abs. 4 StPO) und hemmte damit den Fortgang des Verfahrens erheblich.
Die – erst später, nämlich am 5. Juni 2025 bzw. 7. Juni 2025 eingelegte – Beschwerde des Mitangeklagten wurde mit Beschluss desselben Senatsvom 3. Juli 2025 ebenfalls als zulässig und begründet erachtet; die Entscheidungsgründe sind im Wesentlichen gleichlautend.[1]
II. Die Entscheidung des OLG Düsseldorf und ihre rechtliche Würdigung
1. Fortgeltung des Beschleunigungsgebots auch nach erstinstanzlichem Urteil
Das OLG Düsseldorf legt in seiner Entscheidung eine differenzierte und überzeugende Dogmatik zum Beschleunigungsgebot in der Rechtsmittelphase dar, die es der Rechtsprechung des BVerfG entnimmt.[2] Der Senat stellt zunächst fest, dass auch nach Erlass eines erstinstanzlichen Urteils das Beschleunigungsgebot nicht seine Bedeutung verliert, sondern für das gesamte Strafverfahren gilt und auch im Rechtsmittelverfahren bei der Prüfung der Anordnung der Fortdauer von Untersuchungshaft zu beachten ist.[3] Diese grundsätzliche Aussage verdient besondere Beachtung, da sie einer in der Praxis weit verbreiteten Tendenz entgegentritt, nach erfolgter Verurteilung die Anforderungen an die Verfahrensbeschleunigung zu reduzieren.
Das OLG erkennt dabei durchaus an, dass sich mit der Verurteilung das Gewicht des staatlichen Strafanspruchs vergrößert, da aufgrund der gerichtlich durchgeführten Beweisaufnahme die Begehung einer Straftat durch den Verurteilten als erwiesen angesehen worden ist. Dies führt nicht zu einer grundsätzlichen Relativierung des Beschleunigungsgebots, sondern lediglich zu einer anderen Gewichtung in der Verhältnismäßigkeitsprüfung. Das Gericht stellt zutreffend fest, dass Verzögerungen nach dem erstinstanzlichen Urteil geringer ins Gewicht fallen als vor diesem Zeitpunkt, weil sich durch den Schuldspruch das Gewicht des staatlichen Strafanspruchs vergrößert und insoweit die Unschuldsvermutung in geringerem Maße für den Angeklagten streitet.
Diese differenzierte Betrachtung steht im Einklang mit der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 5 Abs. 3 EMRK. Der EGMR hat in ständiger Rechtsprechung betont, dass die Anforderungen an die „reasonable time“ auch nach erstinstanzlicher Verurteilung bestehen bleiben, auch wenn sich die Faktoren der Abwägung verschieben können. Insbesondere in der Entscheidung Neumeister gegen Österreich hat der EGMR klargestellt, dass eine Verurteilung zwar das Gewicht der Verdachtsgründe verstärkt, aber nicht automatisch jede weitere Verzögerung rechtfertigt.[4]
Wenngleich sich all diese Ausführungen – auch aufgrund des in der Praxis recht häufig zu beobachtenden Verständnisses für „hier und da“ auftretende Verzögerungen – neu anfühlen, sind sie es nicht: Der Senat stützt sich im Wesentlichen auf die Rechtsprechung anderer Obergerichte und des BVerfG.[5]
2. Richterliche Arbeitsorganisation als verfassungsrechtliches Problem
Wegweisend sind auch nicht die weiteren Ausführungen des Senats, der den von der Strafkammer – besser gesagt: von dem Vorsitzenden – vorgetragenen Rechtfertigungsgründen für die Protokollverzögerung eine Absage erteilt. Das OLG weist die Berufung auf den Umfang des Protokolls und auf die hohe Belastung der Kammer mit einem weiteren Großverfahren zurück und stellt fest, dass eine nicht nur kurzfristige Überlastung eines Gerichts kein Grund für die Fortdauer der Untersuchungshaft sein kann, weil sie in den Verantwortungsbereich der staatlich verfassten Gemeinschaft fällt.[6]
Auch hier ist das OLG ganz auf der Linie des BVerfG: „Dem Beschuldigten darf nicht zugemutet werden, eine längere als die verfahrensangemessene Aufrechterhaltung des Haftbefehls nur deshalb in Kauf zu nehmen, weil der Staat es versäumt, seiner Pflicht zur verfassungsgemäßen Ausstattung der Gerichte zu genügen […]“.[7] Diese Rechtsprechungslinie hat das BVerfG bereits 1973 grundgelegt: In seiner wegweisenden Entscheidung zur Überlastung von Schwurgerichten stellte es unmissverständlich fest, dass „die nicht nur kurzfristige Überlastung eines Landgerichts mit Schwurgerichtssachen […] kein ‚wichtiger Grund‘ [ist], der […] die Fortdauer der Untersuchungshaft für einen längeren Zeitraum rechtfertigt“.[8] Das Gericht betonte damals schon, dass „der Staat […] sich dem Untersuchungsgefangenen gegenüber nicht darauf berufen [kann], daß er seine Gerichte nicht so ausstattet, wie es erforderlich ist, um die anstehenden Verfahren ohne vermeidbare Verzögerung abzuschließen“.[9]
Hervorzuheben ist allerdings die kompromisslose Haltung des Senats, die sich in der Entscheidung zeigt. Die landgerichtlich geltend gemachten Umstände – „Umfang des Protokolls“ und „hohe Belastung der Kammer mit einem weiteren Großverfahren“ – seien, so die Entscheidung, (zumindest) „nicht dem Angeklagten anzulasten“.[10] Dies ist ausreichend; genauere Ursachenforschung kann unterbleiben.[11] Die Beschwerdegerichte kommen dadurch letztlich nicht in die „Bredouille“ ihren Richterkollegen von den Untergerichten deutliche(re) Ansagen zu machen. Am Beispiel: Wenn die – von der Politik hingenommene – Überlastung oder mangelnde Ausstattung von Gerichten dazu führt, dass ein Hauptverhandlungsprotokoll monatelang nicht fertiggestellt werden kann, dann ist die entstandene Verzögerung „nur“ nicht dem Angeklagten zuzurechnen. Gesichtswahrend für die Strafkammer, im wahrsten Sinne des Wortes befreiend für den Angeklagten.
Im vorliegenden Fall hat es sich der Senat aber – verständlicherweise – nicht nehmen lassen, das LG in den Entscheidungsgründen zu schelten.[12]
Zusammengefasst formuliert: Dem Beschuldigten, Angeschuldigten, Angeklagten ist es völlig gleichgültig, ob er aufgrund unzureichender gerichtlicher Ausstattung – Verantwortungsbereich der Politik – oder aufgrund defizitärer gerichtlicher Arbeitsorganisation – Verantwortungsbereich der Justiz – länger in Untersuchungshaft sitzt. Das gilt auch für die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung, die auf „den Staat“ abstellt: Ist die Verfahrensverzögerung erheblich und nicht von dem Beschuldigten zu vertreten, sachlich nicht zu rechtfertigen und vermeidbar, so steht dies einer weiteren Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft regelmäßig entgegen.[13]
In seiner Entscheidung aus dem Jahre 1973 hat das BVerfG klargestellt, dass organisatorische Defizite in den „Verantwortungsbereich der staatlich verfassten Gemeinschaft“ fallen und dass „es […] seine Aufgabe [ist], im Rahmen des Zumutbaren alle Maßnahmen zu treffen, die geeignet und nötig sind, einer Überlastung der Gerichte vorzubeugen“.[14] Diese verfassungsrechtliche Pflicht zur Justizgewährung als „Bestandteil des in Art. 20 Abs. 3 GG verankerten Rechtsstaatsprinzips“ macht deutlich, dass auch Protokollverzögerungen nicht zu Lasten der Freiheitsrechte gehen dürfen.
Diese Rechtsprechung wirft grundsätzliche Fragen zum Verhältnis zwischen richterlicher Unabhängigkeit und dem Beschleunigungsgebot auf. Während die richterliche Unabhängigkeit die sachliche Unabhängigkeit bei der Entscheidungsfindung gewährleistet, erstreckt sich dieser Schutz erkennbar nicht auf die Verfahrensorganisation, soweit diese Grundrechte Dritter beeinträchtigt. Das OLG entwickelt hier einen „Effizienz-Vorbehalt“ für richterliche Arbeitsabläufe, der für die künftige Kontrolldichte wegweisend sein könnte. Dabei bleibt die Kernaussage verfassungsrechtlich überzeugend: Die richterliche Unabhängigkeit kann nicht dazu dienen, organisatorische Defizite auf Kosten der Freiheitsrechte von Angeklagten zu verschleiern.
3. Digitalisierung als verfassungsrechtlicher Modernisierungsauftrag
Die Entscheidung macht auch deutlich, dass die verfassungsrechtliche Verpflichtung zur angemessenen Justizausstattung nach der Rechtsprechung des BVerfG nicht nur die personelle, sondern zunehmend auch die technische Ausstattung umfasst. Gerichte verschiedener Bundesländer, die sich – aus welchen Gründen auch immer – modernen Hilfsmitteln zur Verfahrensbeschleunigung verschließen, riskieren damit künftig verfassungsrechtliche Konflikte.
Wenngleich das OLG den Aspekt der Digitalisierung nicht explizit anspricht, liegt in der Entscheidung ein klarer Modernisierungsauftrag. Die Feststellung, dass bei einem 34-tägigen Verfahren eine neunmonatige Protokollfertigstellung nicht gerechtfertigt werden kann, lässt sich (hoffentlich nur) durch grundlegend veraltete Arbeitsabläufe erklären. Moderne digitale Lösungen könnten die Protokollfertigstellung erheblich beschleunigen. Angesichts des fortschreitenden digitalen Wandels in allen gesellschaftlichen Bereichen ist davon auszugehen, dass das BVerfG künftig auch die Digitalisierung gerichtlicher Arbeitsprozesse als Teil der verfassungsrechtlichen Pflicht zur angemessenen Justizausstattung einfordern wird. Die elektronische Akte allein – soweit sie funktionsfähig implementiert ist – vermag jedoch die spezifischen Herausforderungen der Protokollfertigstellung nicht zu lösen.
Digitale Protokollführung in Echtzeit während der Hauptverhandlung, automatisierte Transkription bei audiovisueller Aufzeichnung und Workflow-Management-Systeme zur Priorisierung von Haftsachen sind technisch längst verfügbare Lösungen, deren Einführung durch Entscheidungen wie die hier besprochene des OLG Düsseldorf erheblich an Dringlichkeit gewinnt. Darüber hinaus könnte auch die digitale Zustellung zur Verkürzung der Übermittlungswege beitragen und damit das gesamte Revisionsverfahren beschleunigen.
Die verfassungsrechtliche Pflicht zur angemessenen Justizausstattung umfasst angesichts des technischen Fortschritts zunehmend auch die Verpflichtung zur technischen Modernisierung. Gerichte können sich damit nicht mehr darauf berufen, traditionelle Arbeitsweisen beibehalten zu wollen, wenn dadurch Grundrechte von Verfahrensbeteiligten beeinträchtigt werden.
4. Kompensationsdogmatik zwischen Theorie und Praxis
Besonders bemerkenswert ist, dass das OLG explizit prüft, ob die eingetretene Verzögerung durch besondere Verfahrensbeschleunigung in anderen Verfahrensabschnitten kompensiert werden könnte, dies aber mangels erkennbarer Anhaltspunkte verneint.[15] Diese Kompensationsprüfung zeigt die Bereitschaft des Gerichts auf, „Heilungsmöglichkeiten“ zu berücksichtigen, macht aber gleichzeitig die praktischen Grenzen dieser Rechtsfigur deutlich.
Zunächst fällt auf, dass der Senat seine Kompensationsprüfung zwar mit Nachweisen versieht;[16] bei ihnen handelt es sich allerdings weder um gefestigte verfassungsgerichtliche Rechtsprechung[17] noch um Judikatur des BGH in Strafsachen.
Soweit ersichtlich, hat sich bislang der BGH zur „Kompensationsfrage“ im Kontext der Untersuchungshaft nicht verhalten. Die höchstrichterliche Rechtsprechung außerhalb des Strafrechts bejaht zwar ausdrücklich die Möglichkeit, „dass ein Ausgleich von Verzögerungen in einem späteren Verfahrensabschnitt durch eine besonders zügige Bearbeitung ‚in davor oder danach liegenden Verfahrensabschnitten‘ möglich ist“.[18] Auch der BGH in Strafsachen stellt auf die Gesamtverfahrensdauer ab.[19] All diese Judikatur betrifft allerdings nur die Frage einer Verzögerung gemäß § 198 GVG bzw. – im strafprozessualen Kontext – einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung (Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK) und ihre etwaigen Folgen. Es liegt auf der Hand, dass der Prüfungsmaßstab in Fällen, in denen es um die Frage der Fortdauer der Untersuchungshaft geht, erheblich strenger ausfallen muss.
Zudem sind Konstellationen denkbar, in denen die Verfahrensverzögerung „nur“ zu einer Zeit entsteht, in der der Betroffene sich in Untersuchungshaft befindet – etwa dann, wenn ein Teil des Ermittlungsverfahrens besonders zügig voranschreitet, der Beschuldigte im Anschluss daran in Untersuchungshaft genommen wird, und die Verzögerungen (erst) danach auftreten. Der Blick auf die Gesamtverfahrensdauer erweist sich in solchen Konstellationen als ungerechtfertigt, denn der Betroffene hat – mit Blick auf seinen Freiheitsanspruch – nichts davon, wenn andere Verfahrensabschnitte, in denen er sich (noch) auf freiem Fuß befand, zügig vorangeschritten sind. Zudem kann zum Beschwerdezeitpunkt – jedenfalls für eine belastbare Einschätzung – ohnehin nur auf die vergangenen Verfahrensabschnitte geblickt werden. Was innerhalb der nächsten Tage, Wochen oder Monate zügig vonstatten gehen könnte (!), kann nicht von Relevanz sein.
Für den Fall, dass sich der Betroffene nahezu durchgängig in Untersuchungshaft befindet und innerhalb dieses Zeitraumes ein Verfahrensabschnitt besonders zügig durchgeführt wird – während es früher oder später zu einer Verfahrensverzögerung gekommen ist bzw. kommt –, erweist sich der abstrakte „Kompensationsgedanke“ des Senats als theoretisch elegante, praktisch allerdings begrenzte Rechtsfigur. Zum einen wird man auch hier nur die vergangenen Verfahrensabschnitte bewerten können. Wird die Beschwerde zu einem Zeitpunkt erhoben, zu der (noch) keine besondere Verfahrensbeschleunigung erfolgt ist, wird das Gericht lediglich die (existierende) Verfahrensverzögerung als Entscheidungsgrundlage nehmen können. Zum anderen setzt die zeitliche Komponente der Kompensationsmöglichkeit zusätzliche Grenzen: Je länger die ursprüngliche Verzögerung andauert, desto schwieriger wird eine effektive Kompensation. Bei einer sechsmonatigen Verzögerung wie im vorliegenden Fall wäre eine vollständige Kompensation praktisch nur durch eine entsprechende Verkürzung des gesamten Revisionsverfahrens möglich, was systemisch kaum realisierbar ist. Die vom Senat vertretene Kompensationsdogmatik kann vielleicht punktuelle Verzögerungen abmildern, bei systematischen Organisationsdefiziten aber nicht helfen.
5. Verhältnismäßigkeitsprüfung und Orientierungswerte für die Praxis
Die konkrete Verhältnismäßigkeitsprüfung des OLG überzeugt durch ihre differenzierte Abwägung und die Entwicklung praxistauglicher Orientierungswerte. Das Gericht führt eine umfassende Rechtsprechungsvergleichung durch und stellt fest, dass in der obergerichtlichen Rechtsprechung effektive Verzögerungen von drei bis vier Wochen bei einer Gesamtfreiheitsstrafe von zehn Jahren und acht Monaten beziehungsweise von 15 Wochen bei einer Gesamtfreiheitsstrafe von 13 Jahren noch für hinnehmbar erachtet wurden, während Verzögerungen von zwei Monaten bei einer Freiheitsstrafe von zehn Jahren oder von sechs Monaten bei einer Gesamtfreiheitsstrafe von 15 Jahren bereits als nicht mehr hinnehmbar beurteilt wurden.[20]
Anhand dieser Orientierungswerte kommt das OLG zu dem überzeugenden Ergebnis, dass die vorliegende Verzögerung von sechs Monaten bei einer Gesamthaftdauer von zweieinhalb Jahren und einer nicht rechtskräftig ausgesprochenen Freiheitsstrafe von zehn Jahren über das noch hinnehmbare Maß hinausgeht. Dabei berücksichtigt das Gericht zutreffend, dass zwar ein erheblicher Strafanspruch der Allgemeinheit in der nicht rechtskräftigen Verurteilung zu zehn Jahren konkretisiert wurde, dieser aber nicht ausreicht, um eine durch organisatorische Defizite verursachte Verzögerung von sechs Monaten zu rechtfertigen.[21]
III. Rechtspolitische Bewertung und Ausblick
Die Entscheidung des OLG Düsseldorf ist – mit nüchternem Blick auf die Rechtsprechung des BVerfG, auf die sich die Entscheidung auch stützt – keine Überraschung. Mit Blick auf die beschwerdegerichtliche Praxis und den dort häufig festzustellenden Drang, Verfahrensverzögerungen „gerade noch“ durchgehen zu lassen, darf die Entscheidung allerdings als bemerkenswert bezeichnet werden.
Sie legt den Finger – mittelbar – auch in die Wunde, wenn es um die Ausstattung der Justiz geht und macht klar, dass die Zeit der Hinnahme verfahrensbedingter Verzögerungen vorbei ist und dass Effizienzdefizite in der Justiz zu einem verfassungsrechtlichen Problem werden können. Dieser Ansatz verdient Zustimmung, da er das Spannungsfeld zwischen effektiver Strafverfolgung und Freiheitsrechten des Einzelnen beleuchtet und dabei die Verantwortung der staatlichen Gemeinschaft für eine funktionsfähige Justiz betont.
Die präventive Wirkung der Entscheidung ist bereits absehbar: Instanzgerichte werden ihre Protokollpraxis überdenken müssen. Beschwerdegerichte werden künftig genauer prüfen müssen. Gerade vor dem Hintergrund, dass eine tiefgehende Ursachenforschung beim Verzögerungsgrund nicht zwingend ist, werden sie dem Staat zuzurechnende Verfahrensverzögerungen als solche benennen.
Die Entscheidung sollte zum Anlass genommen werden, abermals das Thema Digitalisierung und auch die weitere finanzielle Ausstattung der Justiz auf die (politische) Tagesordnung zu bringen. Sie zeigt, dass Verfahrensbeschleunigung nicht nur ein Gebot der Rechtsstaatlichkeit, sondern auch der Modernisierung ist, und verdient daher breite Beachtung und Nachahmung in der Rechtspraxis.
[1] OLG Düsseldorf, Beschl. v. 3.7.2025 – III-2 Ws 306/25.
[2] BVerfG, StraFo 2009, 375; BVerfG, StraFo 2010, 461; BVerfG, NJW 2006, 677; BVerfG, NJW 2005, 2612.
[3] OLG Düsseldorf, Beschl. v. 5.6.2025 – III-2 Ws 156/25 Rn. 12.
[4] EGMR, Urt. v. 27.6,1968 – 1936/63.
[5] Siehe die Nachweise in OLG Düsseldorf, Beschl. v. 5.6.2025 – III-2 Ws 156/25 Rn. 10 ff.
[6] OLG Düsseldorf, Beschl. v. 5.6.2025 – III-2 Ws 156/25 Rn. 15.
[7] BVerfG, BeckRS 2014, 54605 Rn. 25.
[8] BVerfG, NJW 1974, 307.
[9] BVerfG, NJW 1974, 307 (309).
[10] OLG Düsseldorf, Beschl. v. 5.6.2025 – III-2 Ws 156/25 Rn. 15.
[11] Hierzu etwas klarer die Parallelentscheidung OLG Düsseldorf, Beschl. v. 3.7.2025 – III-2 Ws 306/25 Rn. 15.
[12] OLG Düsseldorf, Beschl. v. 5.6.2025 – III-2 Ws 156/25 Rn. 15 („Ein sachlicher Grund […] ist nicht ersichtlich“, „diese Umstände“ seien „nicht ausreichend“, „kein Grund ersichtlich, der eine Protokollfertigstellung innerhalb von neun Monaten […] unmöglich macht“).
[13] BVerfG, NStZ-RR 2021, 50 (51 f.).
[14] BVerfG, NJW 1974, 307 (309).
[15] OLG Düsseldorf, Beschl. v. 5.6.2025 – III-2 Ws 156/25 Rn. 16.
[16] OLG Düsseldorf, Beschl. v. 5.6.2025 – III 2 Ws 156/25 Rn. 10.
[17] Siehe nur Gericke, in: KK-StPO, 9. Aufl. (2023), § 121 Rn. 22a.
[18] Siehe nur BSG, Urt. v. 24.3.2022 – B 10 ÜG 4/21 Rn. 30 f., jeweils mit zahlreichen weiteren Nachweisen.
[19] Siehe beispielhaft BGH, NStZ-RR 2007, 150 (151); BGH, Beschl. v. 20.8.2024 – 6 StR 221/24 Rn. 10; kritisch zur Gesamtverfahrensdauer Krehl/Eidam, NStZ 2006, 1 (4).
[20] OLG Düsseldorf, Beschl. v. 5.6.2025 – III-2 Ws 156/25 Rn. 17.
[21] OLG Düsseldorf, Beschl. v. 5.6.2025 – III-2 Ws 156/25 Rn. 17, vgl. auch Rn. 3.