KriPoZ-RR, Beitrag 06/2023

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BGH, Urt. v. 30.11.2022 – 3 StR 249/22: Zum Anwendungsbereich des § 177 Abs. 2 Nr. 1 StGB

Amtliche Leitsätze:

Die Unfähigkeit, einen sexuellen Handlungen entgegenstehenden Willen zu bilden oder zu äußern (§ 177 Abs. 2 Nr. 1 StGB), kann auch auf der altersmäßigen Entwicklung eines Kindes beruhen. Eine Vergewaltigung unter Ausnutzung dieser Lage steht in Idealkonkurrenz mit schwerem sexuellen Missbrauch von Kindern. Insoweit stellt sich die Rechtslage seit der Neufassung des § 177 StGB durch das Fünfzigste Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuches – Verbesserung des Schutzes der sexuellen Selbstbestimmung vom 4. November 2016 anders dar als bei dem Tatbestand des sexuellen Missbrauchs widerstandsunfähiger Personen nach § 179 Abs. 1 StGB aF (Abgrenzung von BGHSt 30, 144).

Sachverhalt:

Der Angeklagte wurde vom LG Krefeld unter anderem wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit Vergewaltigung und Körperverletzung zu einer mehrjährigen Freiheitsstrafe verurteilt. Nach den tatgerichtlichen Feststellungen ist der Angeklagte in die zum Tatzeitpunkt einjährige Geschädigte mit seinem Finger eingedrungen, wodurch Blutungen entstanden. Der Angeklagte filmte und verschickte weitere Tathandlungen. Sowohl die Staatsanwaltschaft als auch der Angeklagte legten Rechtsmittel gegen die Entscheidung ein. 

Entscheidung des BGH:

Der Strafsenat hat die Revisionen des Angeklagten und der Staatsanwaltschaft als unbegründet verworfen. Im Hinblick auf die kinderpornografischen Inhalte wurde der Schuldspruch dahingehend geändert, dass kein Verbreiten, sondern eine Drittbesitzverschaffung i.S.d. § 184b Abs. 1 Nr. 2 StGB vorliege.

Der Schuldspruch wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit Vergewaltigung und Körperverletzung weise hingegen keine Rechtsfehler auf. Zutreffend habe das LG eine Strafbarkeit nach dem milderen § 176a Abs. 2 Nr. 1, § 176 Abs. 1 StGB angenommen. Auch stehe die Vergewaltigung gemäß § 177 Abs. 2 Nr. 1, Abs. 6 S. 1 und 2 Nr. 1 StGB in Tateinheit (Idealkonkurrenz) mit diesen Taten. Der Strafsenat verweist in seinen Ausführungen auf die neue Rechtslage des § 177 StGB, wonach der Schutz der sexuellen Selbstbestimmung verbessert werden solle. Die Schutzrichtung des § 179 Abs. 1 StGB a.F. hingegen ziele auf den Schutz widerstandsunfähiger Personen ab.

Der Wortlaut, die Systematik, Historie und Sinn und Zweck der Norm sprächen für eine weite Auslegung des Anwendungsbereichs des § 177 Abs. 2 Nr. 1 StGB. Die neue Norm sei weiter formuliert als § 179 Abs. 1 StGB a.F. Auf den Grund der fehlenden Willensbildung komme es nicht mehr an. Der Regelungszusammenhang des neuen § 177 StGB spreche ebenfalls für eine solche Auslegung. Beispielsweise sehe § 177 Abs. 4 StGB einen erhöhten Strafrahmen vor, wenn die fehlende Willensbildung auf einer Krankheit oder Behinderung des Opfers beruht. Bei § 177 Abs. 2 Nr. 1 StGB fehlen bestimmte Gründe, sodass im Umkehrschluss dieser weit auszulegen sei. Der BGH verweist ferner auf den Gesetzgebungsprozess, wonach „sowohl Menschen mit Behinderung als auch Menschen ohne Behinderung zukünftig gleichermaßen von § 177 StGB-E erfasst“ werden sollen (BT-Drucks. 18/9097 S. 23).  

Anmerkung der Radaktion:

Mit dem Fünfzigsten Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuches – Verbesserung des Schutzes der sexuellen Selbstbestimmung vom 4. November 2016 (BGBl. I S. 2460) wurde u.a. § 177 StGB neu gefasst. In § 177 Abs. 1 StGB wird erstmalig die sog. „Nichteinverständnislösung“ gesetzlich geregelt, wonach jede sexuelle Handlung, die gegen den erkennbaren Willen einer Person vorgenommen wird, strafbar ist.

Hintergründe zum Gesetzgebungsverfahren können Sie hier nachlesen. 

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