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Abgekürzte Strafverfahren – Zum Alternativ-Entwurf abgekürzte Strafverfahren im Rechtsstaat (AE-ASR) 2019

von Priv.-Doz. Dr. Silke Hüls

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Abstract
Der Arbeitskreis deutscher, österreichischer und schweizerischer Strafrechtslehrer hat sich mit den Formen abgekürzter Strafverfahren auseinandergesetzt und einen Alternativvorschlag zur Regelung unterbreitet. Ziel soll ein abgewogenes Konzept sein, das sowohl den Anforderungen der justiziellen Praxis, insbesondere der Verfahrensökonomie, als auch rechtsstaatlichen Grundsätzen gerecht wird. Verbesserung der Transparenz im Verfahren und der Informations- und Beteiligungsmöglichkeiten des Beschuldigten sind wesentliche Anliegen. Der Beitrag setzt sich mit den Kernvorschlägen des AE-ASR auseinander; diskutiert werden die Einführung einer neu gestalteten materiell-rechtlichen Verwarnung zur Ersetzung des § 153a StPO, die Abschaffung der Verständigungsregelung, an deren Stelle die Einführung einer abgekürzten Verhandlung treten soll, die Reformierung des § 153 SPO sowie die Etablierung eines abgekürzten Strafverfahrens vor dem Strafrichter als Ersatz des Strafbefehlsverfahrens.

 I. Einleitung

Im Jahr 2017 sind etliche strafprozessuale Änderungsgesetze in Kraft getreten; die beiden umfangsreichsten sind wohl das Gesetz zur Reform der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung[1] und das Gesetz zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des Strafverfahrens[2], die zu zum Teil gewichtigen Änderungen im Strafverfahrensrecht geführt haben.[3] Mit letzterem setzte der Gesetzgeber Teile der Änderungsvorschläge der 2014 eingesetzten Expertenkommission zur Reform des Strafverfahrens um – sehr pointiert könnte man mit Kudlich zusammenfassen: „Gerade die Reformvorschläge, welche eher der Sicherung der Beschuldigtenrechte dienen, sind nicht aufgenommen worden. Dagegen ist mit der partiellen Abschaffung des Richtervorbehalts in § 81a StPO, einer (wenn auch nur „kleinen“) Fristenregelung beim Beweisantrag, der Erweiterung der Handlungsmöglichkeiten bei Ablehnungsanträgen, einer erweiterten Suche nach Beinahetreffern bei DNA-Reihenuntersuchungen, der Quellen-TKÜ und nicht zuletzt der Online-Durchsuchung sehr explizit den Effektivitätsinteressen der Strafverfolgungsbehörden entgegengekommen worden.“[4] Ziel war einmal mehr die effektivere Gestaltung des Verfahrens, wie es auch im Titel des Gesetzes klar zum Ausdruck kommt.

Abgekürzte Strafverfahren, wie z.B. das Strafbefehlsverfahren oder die praktisch besonders relevante Einstellung nach § 153a StPO waren nicht Gegenstand der jüngsten Reformen. Hier setzt der Alternativ-Entwurf an und ist ausdrücklich bemüht, rechtsstaatlichen Anforderungen in diesem Bereich besser Rechnung zu tragen, dabei aber das Bedürfnis der Praxis nach effektiver, zeit- und kostensparender Erledigung hinreichend zu berücksichtigen. So soll den im Strafverfahren konfligierenden Interessen bestmöglich Rechnung getragen werden.

Der Alternativ-Entwurf stellt die im Laufe des letzten Jahrhunderts vorrangig durch Aufgreifen praktischer Entwicklungen in die StPO integrierten vereinfachten Formen der Verfahrenserledigung in den Mittelpunkt; greift die an diesen als Ausnahmen eingeführten, praktisch aber seit Beginn nahezu zum Regelfall mutierten Formen geäußerte Kritik auf und schlägt Alternativen vor, die den rechtsstaatlichen Anforderungen an das Strafverfahren besser Rechnung tragen und diesen praktisch zur auch Geltung verhelfen sollen.

Dabei sehen sich die Verfasser nicht allein der Theorie verpflichtet, die es ihnen leicht machte, die Verwirklichung rechtsstaatlicher Prinzipien im Strafprozessrecht, aber damit auch in der täglichen Praxis zu fordern; vielmehr stellen sie sich dem deutlich komplexeren Problem, nicht nur die theoretischen Aspekte und Anforderungen, sondern insbesondere die Bedürfnisse der strafprozessualen Praxis in ihre Vorschläge zu integrieren.

Ziel soll es sein, den tatsächlichen Anforderungen, die eine stetig wachsende Zahl an Verfahren und ihre Komplexität mit sich bringen, genauso gerecht zu werden wie rechtsstaatlichen Prinzipien und Schutzmechanismen. Der Entwurf strebt eine Harmonie von Rechtsstaatlichkeit und Effektivität an; versucht also die als gegenläufig erlebten Anforderungen des Strafverfahrens in einen bestmöglichen Ausgleich zu bringen.

II. Bestandsaufnahme

 Der Alternativ-Entwurf greift mit der heftig umstrittenen Einstellung unter Auflagen nach § 153a StPO, der Einstellung wegen Geringfügigkeit (§ 153 StPO), der nicht weniger umstrittenen Verständigungsregelung (§ 257 StPO), dem Strafbefehlsverfahren (§§ 407 ff StPO) sowie dem beschleunigten Verfahren (§§ 417 ff StPO) Vereinfachungen des vorgesehenen Regelverfahrens der StPO auf, die vornehmlich der Effektivität des Strafverfahrens dienen sollen.

Kurz rekapituliert der Entwurf daher auch zunächst die Defizite des geltenden Rechts. Allen Verfahrensvarianten gemein ist, dass diese sich nach und nach aus praktischen Bedürfnissen entwickelt haben, untereinander nicht koordiniert sind und auf Verfahrensökonomie und -beschleunigung zielen.[5] Die Verfolgung dieses staatlichen Interesses hat jedoch einen doppelten Preis, so die Verfasser des Entwurfs. Zum einen implizierten die vereinfachten Verfahrensarten den Verzicht auf eine vollständige Aufklärung des Sachverhalts durch ein unabhängiges Gericht; dadurch gehe die Sicherheit, dass die Sanktionsentscheidung auf der „Wahrheit“ über Tat und Täter beruht, zumindest teilweise verloren. Zum anderen könnten abgekürzte Verfahren die Verteidigungsmöglichkeiten des Beschuldigten beeinträchtigen; dies gelte insbesondere dann, wenn die Sanktion ohne gründliche Prüfung durch ein Gericht nach den Vorgaben der Staatsanwaltschaft verhängt werde.[6] Besonders deutlich treten die Probleme eines „praktischen, aber rechtsstaatlich zweifelhaften Verfahrens“ bei der Verfahrenseinstellung unter Auflagen nach § 153a StPO zu Tage.[7] Die Verfahrenseinstellung fordert formal lediglich, dass der Beschuldigte „freiwillig“ eine oder mehrere Auflagen oder Weisungen der Staatsanwaltschaft erfüllt und dadurch das öffentliche Interesse an seiner Strafverfolgung aufhebt. Zu Recht betonen die Verfasser, dass man schwerlich am Strafcharakter der Zahlungspflichten zweifeln könne, da sich die Auflagen sinnvoll nur als Antwort auf die (vermutete) Straftat des Beschuldigten erklären ließen. Wenn sie daher straftatbezogene Sanktionen seien, verstoße ihre Auferlegung aber eklatant gegen die Unschuldsvermutung, die den bloß Beschuldigten vor genau solchen Nachteilen bewahren soll, die auf nichts anderem als der Annahme beruhen können, dass er die ihm vorgeworfene Straftat tatsächlich begangen hat.[8] Hinzu kommt, dass die Entscheidung über diese Sanktionierung – und zwar sowohl über das Ob als auch über das Wie, z.B. konkret über Art und Höhe der Auflage – vollständig im Ermessen der Staatsanwaltschaft liegt.[9] Auch an der folgenlosen Einstellung nach § 153 StPO wird vor allem der ungeregelte Ermessensspielraum der Staatsanwaltschaft und das Fehlen von Kontrolle gerügt.[10]

Auch das Strafbefehlsverfahren ist deutlicher Kritik ausgesetzt. Diese richtet sich ebenfalls im Wesentlichen gegen die wenig kontrollierte Entscheidungsmacht der Staatsanwaltschaft: Die Staatsanwaltschaft formuliert den Strafbefehl einschließlich des Strafausspruchs vor, ohne dass der Beschuldigte zuvor gehört wird. Durch den Strafbefehlsentwurf wird dem häufig überlasteten Richter am Amtsgericht ein einfacher Weg der mühelosen Erledigung durch schlichtes Unterschreiben des vorgelegten Dokuments offeriert; die eigenverantwortliche Entscheidung bleibt weitgehend Theorie.[11]

Der im Jahr 2009 eingeführte § 257c StPO, der das Verfahren der Verständigung regelt, stößt seit seiner Einführung auf nicht minder deutliche Kritik. Die Möglichkeit, durch eine Absprache das Verfahrensergebnis festzulegen, kollidiert unausweichlich – trotz anderslautender Formulierung im Gesetz – mit der Verpflichtung zur Sachverhaltsaufklärung und dem Schuldprinzip. Zudem entsteht notwendig für den Angeklagten ein Kooperationsdruck.[12]

III. Diskussion der Vorschläge des Alternativ-Entwurfs

Kennzeichnend für die nun vorgelegten Vorschläge insgesamt ist das Bestreben, im Strafjustizsystem für alltägliche Fälle leichterer Straftaten vereinfachte Verfahrensweisen vorzuhalten und dadurch sowohl die Ressourcen der staatlichen Justiz zu schonen und zugleich dem Beschuldigten die Belastung durch eine aufwändige und stigmatisierende öffentliche Hauptverhandlung zu ersparen. Ziel ist ein wohlabgewogenes Konzept, das sowohl der Verfahrensökonomie und den damit verbundenen Anforderungen der Justizpraxis als auch rechtsstaatlichen Grundsätzen gerecht wird.[13] Der Arbeitskreis schlägt deshalb vor, „an die Stelle dieser (zuvor kritisierten) Regelungen ein neues, materiell-rechtliche und prozessuale Elemente umfassendes Gesamtkonzept zu setzen, das auch den legitimen Verteidigungsinteressen des Beschuldigten gerecht wird“.[14] Das Verständigungsverfahren soll angesichts seiner Widersprüchlichkeit und der Unmöglichkeit, es in die tragenden Prinzipien des Strafverfahrensrechts zu integrieren, gänzlich abgeschafft werden; gibt der Angeklagte ein Geständnis ab, soll die Möglichkeit einer abgekürzten Verhandlung (unter noch genauer zu erörternden Voraussetzungen) dem Bedürfnis nach Verfahrensabkürzung Rechnung tragen.[15] An die Stelle des Strafbefehlsverfahrens soll im strafrichterlichen Verfahren ein neuartiges Verfahren ohne Hauptverhandlung treten, das auch vom Beschuldigten initiiert, ihm aber nicht aufgezwungen werden kann.[16]

Auch die Einstellung gegen Erfüllung von Auflagen (§ 153a StPO) soll entfallen; stattdessen schlägt der AE eine materiell-rechtliche Lösung vor: Eine Verwarnung, die mit Auflagen und Weisungen verbunden werden kann. Voraussetzung für eine solche Verwarnung ist ein Schuldspruch.[17] Bereits hier ist festzuhalten, dass durch diese materiell-rechtliche Lösung der Kardinalfehler des § 153a StPO beseitigt werden könnte: Die (nahezu unkontrollierte) Sanktionsmacht der Staatsanwaltschaft bei derartigen Verfahrenseinstellungen.

Hingegen sollen § 153 StPO und §§ 417 ff. StPO grundsätzlich fortbestehen, allerdings wesentlich geändert werden, um rechtsstaatlicher Kritik zu begegnen und insbesondere den Anwendungsbereich zu konkretisieren.

Insgesamt legt der Arbeitskreis ein in sich geschlossenes Konzept vor, das auf die jeweilige Verfahrenssituation abgestimmte Möglichkeiten eines rechtsstaatlich tragfähigen zügigen Verfahrens bieten soll. Zusammenfassend sind die wesentlichen Anliegen die Verbesserung der Wahrung rechtsstaatlicher Anforderungen, Transparenz und die Verringerung des strukturellen Gerechtigkeitsdefizits, das den bisherigen abgekürzten Verfahrensvarianten immanent ist.[18] Zu den wesentlichen Vorschlägen im Einzelnen:

1. Ersetzung des § 153a StPO durch die Verwarnung als neue strafrechtliche Rechtsfolge

Um im Bereich bis zu mittlerer Kriminalität einen Verzicht auf Geldstrafen zu ermöglichen, wenn sie zur Verteidigung der Rechtsordnung und zur Einwirkung auf den Täter nicht notwendig sind, schlägt der Arbeitskreis die Einführung einer neu gestalteten Verwarnung als neue strafrechtliche Rechtsfolge vor. Wesentlicher Kern des Vorschlags ist damit die Überführung der verfahrensrechtlichen Opportunitätseinstellung in das materielle Strafrecht. Die Reaktionsmöglichkeiten, die derzeit in § 153a StPO vorgesehen sind, sollen in das materielle Rechtsfolgenrecht integriert werden. Die Umgestaltung zu einer materiell-strafrechtlichen Rechtsfolge hat automatisch zur Folge, dass das Gericht prozessual ordnungsgemäß die Begehung einer Straftat feststellen muss. Damit wird der größte Kritikpunkt des § 153a StPO beseitigt und die Sanktionierung der Staatsanwaltschaft aus der Hand genommen. Rechtsstaatlich unanfechtbar liegt danach die Sanktionierung in der Hand des Richters.[19] Konsequent folgt, dass auch die Staatsanwaltschaft keine Zustimmung zu dieser gerichtlichen Entscheidung erteilen muss, ihr verbleibt lediglich die Möglichkeit einer Anfechtung der Rechtsfolgenentscheidung. Diese Transferierung der prozessualen Regelung in das materielle Recht verdient volle Zustimmung. Der Anwendungsbereich des bisherigen § 59 StGB wird deutlich erweitert; um tatsächlich auch den Bereich der mittleren Kriminalität zu erfassen, sollen Verwarnungen als Alternative zu einer sonst verwirkten Geldstrafe bis zu 360 Tagessätzen möglich sein. Konkret für die praktisch besonders bedeutsame Geldauflage wird – anders als bei § 153a StPO – eine Obergrenze der Geldauflage eingeführt, um zu gewährleisten, dass Fälle, in denen eine Verwarnung völlig unangemessen erscheint, aus dem Anwendungsbereich herausfallen. Diese Obergrenze darf den Betrag einer Geldstrafe von 360 Tagessätzen nicht überschreiten, danach ergibt sich nach derzeitigem Tagessatz-Höchstmaß 10.800.000,- €. Insgesamt soll das Rationalisierungspotenzial des bei der Geldstrafe geltenden Tagessatzsystems so weit wie möglich nutzbar gemacht werden. Anknüpfend an die Ausweitung der Nebenstrafe Fahrverbot auf Straftaten ohne Straßenverkehrsbezug sieht auch der Alternativ-Entwurf die Anordnung eines Fahrverbots als Auflage vor. Insgesamt ist der Katalog der vorgesehenen Auflagen abschließend, was jedenfalls – unabhängig von der streitigen Frage der Geltung des Art. 103 II GG für diese Rechtsfolgen – überzeugend ist, um eine willkürliche Handhabung auszuschließen. Nicht abschließend ist der Katalog der Weisungen nach Abs. 3.

Anders als die bisherige Verwarnung nach § 59 StGB ist die neue Regelung nicht als bedingte Verurteilung konzipiert; sie soll auch nicht im Bundeszentralregister eingetragen werden. Damit will der Arbeitskreis eine stigmatisierende Wirkung trotz des nunmehr erfolgenden Schuldspruchs wie bislang bei § 153a StPO vermeiden; es bleibt aber bei der Eintragung in das staatsanwaltschaftliche Verfahrensregister (§ 492 StPO). Damit ist sichergestellt, dass der mit der Verwarnung erfolgte Schuldspruch in folgenden Verfahren bei der Strafzumessung Berücksichtigung finden kann.

Insgesamt verdient diese vorgeschlagene Neukonzeption der Verwarnung als Ersatz für den abzuschaffenden § 153a StPO volle Zustimmung. Die Sanktionsentscheidung wird in die Hand des dafür zuständigen Richters gelegt und die kaum zu kontrollierende strafrechtliche Ahndung eines bloßen Verdachts durch die Staatsanwaltschaft verhindert. Aus rechtsstaatlicher Perspektive zu begrüßen ist zudem, dass die Sanktionierung die prozessordnungsgemäße Feststellung der Schuld erfordert. Die wesentlichen Konstruktionsfehler des § 153a StPO werden so behoben; das Legitimationsdefizit der Verhängung von Sanktionen aufgrund der „freiwilligen Zustimmung“ formal Unschuldiger entfällt. Aus Sicht der Praxis erfordert diese Umstellung jedoch einen deutlich höheren Aufwand, der in der prozessordnungsgemäßen Feststellung der Schuld begründet liegt. Dieser Aufwand ist jedoch als notwendiger Preis einer legitimen, rechtsstaatlich fundierten Sanktionierung zu verstehen, zudem greift der Entwurf dieses Problem mit dem Vorschlag des als Ersatz für das Strafbefehlsverfahren neu einzuführenden Verfahrens ohne Hauptverhandlung auf und berücksichtigt damit die Effektivitätsinteressen der Praxis.

2. Reform der Einstellung wegen Geringfügigkeit (§ 153 StPO)

Bei der Reformierung der Einstellung wegen Geringfügigkeit nach § 153 StPO hat sich der Arbeitskreis – anders als bei § 153a StPO – gegen eine materiell-rechtliche Lösung entschieden. Dabei wäre eine materiell-rechtliche Regelung anstelle beider Verfahrenseinstellungen zumindest auf den ersten Blick konsequent. Der Arbeitskreis begründet das Festhalten an der prozessualen Lösung zum einen damit, dass eine materielle Entkriminalisierung die generalpräventive Wirkung strafrechtlicher Verbote schwäche, da die Grenzen der Geringfügigkeit, sobald sie nicht an monetäre Wertgrenzen gebunden werden können, nicht eindeutig kommunizierbar seien. Vorteil der prozessualen Lösung sei die Möglichkeit zu einem flexiblen, auf den Einzelfall abgestimmten Vorgehen.[20] Zum anderen scheint das Beibehalten der flexibleren Einstellungsmöglichkeit eine Anerkennung der Bedürfnisse der Rechtspraxis zu sein. Dies insbesondere auch dadurch, dass § 153 StPO nicht auf Fälle absoluter Geringfügigkeit beschränkt werden soll. Denn nach Entfallen des § 153a StPO bestehe das nachvollziehbare Bedürfnis der Justiz, bei den Vorschriften, die bisher die folgenlose Opportunitätseinstellung ermöglicht haben, keine weiteren Einschränkungen vorzunehmen.[21] Dem Ziel der Justizentlastung soll weiterhin dadurch Rechnung getragen werden, dass die richterliche Zustimmung komplett entfallen soll.[22] Ferner schlägt der Alternativ-Entwurf gegenüber der aktuellen Rechtslage weitere Änderungen und Präzisierungen vor. Die Einstellung wird als Verfahrenshindernis gestaltet; Geringfügigkeit soll zur Einstellung des Verfahrens zwingen; zudem sollen die Begriffe der Schuld und des öffentlichen Interesses im Gesetzestext genauer festgelegt werden.[23] Bei Vorliegen der Voraussetzungen ist die Staatsanwaltschaft zur Einstellung verpflichtet. Aufgrund der Ausgestaltung als Verfahrenshindernis wäre zwar eine Einstellung nach § 170 Abs. 2 StPO konsequent, die gesonderte Regelung in § 153 StPO soll aber den Besonderheiten der Geringfügigkeitseinstellung gerecht werden.[24] Nach Anklageerhebung bleibt es bei dem Erfordernis der Zustimmung des Angeschuldigten; der Arbeitskreis sieht zwar das Spannungsverhältnis zur Ausgestaltung der Einstellung als Verfahrenshindernis, bewertet aber überzeugend das Interesse des Angeschuldigten nach Anklageerhebung an einem Freispruch in öffentlicher Hauptverhandlung überzeugend als legitim und wichtiger.[25] Positiv hervorzuheben und besonders zu begrüßen ist die Öffnung des Klageerzwingungsverfahrens für die Kontrolle von Einstellungen nach § 153 StPO mit dem Ziel, die Staatsanwaltschaft zur Fortführung des Verfahrens zu verpflichten,[26] insoweit letztlich auch formal konsequent bei Ausgestaltung als Verfahrenshindernis, das nach allgemeinen Regeln eigentlich zur Einstellung nach § 170 Abs. 2 StPO führte.

Den ersten, naheliegenden Kritikpunkt an der Umgestaltung des § 153 StPO greift der Arbeitskreis selbst auf, um ihn zu entkräften. Nicht fernliegend ist nämlich – auch angesichts der historischen Entwicklung von §§ 153, 153a StPO – die Gefahr, dass in der Praxis die Einstellung mit Leistungen oder Verpflichtungen des Beschuldigten verbunden wird. Dies gilt insbesondere aufgrund der vorgeschlagenen Streichung des § 153a StPO und auch des Hinweises in § 153 StPO-AE auf die Bedeutung des Nachtatverhaltens. Dieser Gefahr will der Alternativ-Entwurf durch die Formulierung eines ausdrücklichen Verbots begegnen. Angesichts der praktischen Erfahrungen mit der Wahrung gesetzlicher Grenzen in § 257c StPO[27] erscheint die Aufnahme des Verbots doch eher als frommer Wunsch, denn als wirkliches Hindernis. Gerade Umgehungsmöglichkeiten erscheinen daher als Achillesferse des Vorschlags.

Im Übrigen könnte man noch grundsätzlicher überlegen, ob die Ablehnung einer materiell-rechtlichen Lösung wirklich überzeugt. Diese müsste nicht notwendig in Form einer allgemeinen Regelung zu Bagatelldelikten umgesetzt werden. Denkbar wäre z.B. in Ergänzung der materiell-rechtlichen Lösung zu § 153a StPO eine materiell-rechtliche Rechtsfolge in Form des Absehens von Strafe. Dass dieser Vorschlag in der Praxis angesichts der fehlenden Vereinfachung und Verkürzung des Ermittlungsverfahrens bzw. des Verfahrens insgesamt auf Ablehnung stoßen würde, ist aber nicht nur denkbar, sondern nahezu gewiss. Zielführend wäre aber jedenfalls eine grundsätzliche Überprüfung der einzelnen Normen des StGB hinsichtlich konkreter Möglichkeiten der Entkriminalisierung, die auch unmittelbar zur Entlastung der Strafverfolgungsorgane führte.

3. Einführung einer abgekürzten Verhandlung als Ersatz für die gegenwärtige Verständigungsregelung

Der vom Arbeitskreis gerügte Widerspruch zwischen dem konsensualen Format der Verständigung und dem nach wie vor geltenden Gebot, dass der Inhalt eines Strafurteils nicht zwischen den Beteiligten auszuhandeln, sondern vom Gericht im Wege der Rechtsanwendung zu bestimmen ist, ist so fundamental, dass er auch durch eine Korrektur und Umgestaltung der gesetzlichen Vorgaben zur Verständigung nicht zu beseitigen ist.[28] Auch das BVerfG betonte, dass sich nicht nur aus der Regelung des § 257c StPO, sondern auch aus dem verfassungsrechtlichen Schuldprinzip ergebe, dass an der Verpflichtung zur Aufklärung der materiellen Wahrheit und der Verhängung einer tat- und schuldangemessenen Strafe festzuhalten sei; von Verfassung wegen hat ein strafrechtliches Urteil daher auch bei einer Verständigung der materiellen Rechtslage zu entsprechen.[29] Den Gerichten fehlt also der für eine Verständigung über das Ergebnis des Verfahrens unerlässliche Spielraum sowohl hinsichtlich des Schuldspruchs als auch hinsichtlich der Strafzumessung.

Daher ist es allein überzeugend, dieses konsensuale Format einer Verständigung über das Ergebnis des Verfahrens grundsätzlich abzuschaffen. Diesen Weg geht der AE-ASR;[30] Ziel soll es aber sein, nicht die gesamte Regelung der Verständigung im Strafverfahren inhaltlich zu beseitigen, sondern eine Möglichkeit zu finden, diejenigen Aspekte beizubehalten und neu zu gestalten, an denen die Beteiligten legitime Interessen haben. Neben dem Bedürfnis nach Abkürzung des Verfahrens soll deshalb insbesondere dem Informationsbedürfnis des Angeklagten Rechnung getragen werden.[31] Denn die Befriedigung des Informationsbedürfnisses lasse sich durchaus mit der Geltung der Amtsaufklärungspflicht und der Bindung an das materielle Recht vereinbaren.

Die Verfasser des AE-ASR entwickeln daher eine neuartige Verfahrensart, in der es einerseits dem Angeklagten ermöglicht wird, nach Eröffnung des Hauptverfahrens und noch vor Beginn der Hauptverhandlung eine vorläufige Entscheidung des Gerichts über die nach den Ergebnissen des bisherigen Verfahrens zu erwartenden Rechtsfolgen zu beantragen. Wenn der Angeklagte von diesem Recht Gebrauch macht, kann er eine vereinfachte Form der Verhandlung beantragen, in der das Gericht versucht, sich bereits auf der Grundlage der geständigen Einlassung des Angeklagten[32] und des Ergebnisses des bisherigen Verfahrens eine hinreichende Überzeugung von dessen Schuld oder Unschuld zu bilden. Ist es dem Gericht dann nicht möglich, eine hinreichende Überzeugung von der Schuld zu gewinnen, muss es einen Termin zur Hauptverhandlung bestimmen; gelingt die Überzeugungsbildung, ergeht das Urteil in der abgekürzten Verhandlung. Ausgeschlossen ist diese vereinfachte Form der Hauptverhandlung, wenn eine lebenslange Freiheitsstrafe zu erwarten ist bzw. Sicherungsverwahrung oder die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus in Betracht kommt.[33]

Dem entwickelten Konzept ist deutlich das Anliegen der Verfasser zu entnehmen, dem Informationsbedürfnis und damit den Verteidigungsinteressen des Angeklagten zu entsprechen, also den Informationsaspekt zur Entwicklung der Verteidigungsstrategie aus der bisherigen Regelung der Verständigung herauszulösen und soweit als möglich vom Risiko des Geständnisdrucks zu befreien. Ziel soll es sein, eine Bevormundung des Angeklagten zu vermeiden, ihm die Möglichkeit der Information über die derzeitige Einschätzung des Gerichts einzuräumen und gleichzeitig seinem „Recht auf Nichtwissen“ Rechnung zu tragen, indem ihm das Antragsrecht überlassen wird.[34]

In der öffentlichen abgekürzten Verhandlung darf das Gericht zur Bildung seiner Überzeugung die Ergebnisse des bisherigen Verfahrens heranziehen, muss seine Überzeugung also anders als in der regulären Hauptverhandlung nicht allein aus dem Inbegriff der Verhandlung schöpfen. Die Verfasser des AE-ASR begründen dies damit, dass so lediglich ein Verfahren kodifiziert werde, das in der gerichtlichen Praxis bei geständigen Einlassungen seit jeher üblich ist. Gerade die Verpflichtung aus dem Schuldprinzip zur Überprüfung des Geständnisses verlange auch einen Abgleich mit dem Ergebnis der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen. Konsequent schlagen die Verfasser daher für die abgekürzte Verhandlung keine Beteiligung von Schöffen vor, denen die Kenntnisnahme vom Inhalt der Akten verwehrt ist.[35]

Hier ist allerdings zu konstatieren, dass die Beteiligung der Öffentlichkeit in dieser Verfahrensform eine deutliche Einschränkung erfährt. Wenn Erkenntnisse aus den Akten zur Urteilsfindung herangezogen werden, werden Unmittelbarkeits- und Mündlichkeitsgrundsatz deutlich eingeschränkt. Zwar stellt die öffentliche Verhandlung an sich gegenüber einem rein schriftlichen Verfahren schon einen deutlichen Gewinn dar, es ist dann besonders darauf zu achten, dass die Überprüfung des Geständnisses anhand der Akten durch die Erläuterungen des Vorsitzenden in der Verhandlung zumindest nachvollziehbar werden. Andernfalls ist eine öffentliche Verhandlung eine Farce.

Auch wenn allein durch das Entfallen der Hauptverhandlung mit einer aufwendigen Beweisaufnahme Bestrebungen der Praxis nach Prozessökonomie sicherlich Rechnung getragen wird, liegt doch eindeutig der wesentliche Grund für den Vorschlag dieses abgekürzten Verfahrens in der Erhaltung der Vorteile der Verständigung für den Angeklagten aufgrund der Informationsgewinnung. Das Bestreben, in dieser vereinfachten Form der Verhandlung den Schutz des Angeklagten weitmöglich zu gewährleisten, wird dann in der abschließend vorgeschlagenen Regelung des § 212e StPO-AE besonders deutlich. Dieser enthält ein ausdrückliches Verwendungsverbot des Geständnisses außerhalb des abgekürzten Verfahrens. So wird dem Angeklagten in allen Fällen, in denen keine Entscheidung im abgekürzten Verfahren getroffen werden kann und die Hauptverhandlung anberaumt werden muss, die Möglichkeit erhalten, seine Verteidigungsstrategie auf die neue Situation einzustellen, ohne von dem zuvor abgegebenen Geständnis gehindert zu sein.[36] Noch weitergehend wäre nur die Übertragung der gerichtlichen Zuständigkeit auf einen anderen Spruchkörper, um unbewusste Einflüsse auf die Überzeugungsbildung des Gerichts auszuschließen. Dies lehnen die Verfasser jedoch aus Gründen der Verfahrensökonomie ab.[37]

Grundsätzlich soll das aufgrund einer abgekürzten Verhandlung ergangene Urteil mit den allgemeinen Rechtsmitteln anfechtbar sein; dieser Grundsatz erfährt nur für das Urteil des Schöffengerichts eine Einschränkung: Auch dieses ist allein mit der Revision anfechtbar. Eine zweite Tatsacheninstanz sei aufgrund des (überprüften) Geständnisses hinsichtlich des Schuldspruchs nicht notwendig.[38] Für die Überprüfung des Rechtsfolgenausspruchs sieht der Entwurf ein Einspruchsrecht (beschränkt auf den Rechtsfolgenausspruch) des Angeklagten und der Staatsanwaltschaft vor, § 212g StPO-AE. Die daraufhin erfolgende Hauptverhandlung ist dann aufgrund der Rechtskraft des Schuldspruchs auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkt (§ 212g Abs. 2 S. 2 StPO-AE).[39]

Insgesamt bietet der Entwurf mit diesem Vorschlag ein wohlabgewogenes Konzept, um die Vorteile des Verständigungsverfahrens zu erhalten, seine Nachteile und Risiken aber deutlich zu minimieren. Dafür „zerlegen“ die Verfasser in ihrer Begründung die derzeitige Verständigungsregelung in ihre Einzelteile. Überzeugend ist dann, dass sie die Einigung über das Ergebnisdes Verfahrens als Hauptfehler der aktuellen Rechtslage herausstellen, da das strafrechtliche Urteil – nicht allein aufgrund der Vorgaben des § 257c StPO, sondern schon von Verfassung wegen – der materiellen Rechtslage zu entsprechen hat und es deshalb auf die Zustimmung der Verfahrensbeteiligten zu diesem Ergebnis nicht ankommen kann – die geltende Regelung suggeriert Verhandlungsspielraum dort, wo gar keiner ist! Diesen Nachteil überwindet der Entwurf durch den Vorschlag der abgekürzten Verhandlung, die insofern dem Interesse der Verfahrensökonomie Rechnung tragen kann. Dass aber die Entwicklung des Strafverfahrens hin zu einem offeneren Kommunikationsstil nicht vollständig rückgängig gemacht werden kann, schätzen die Verfasser nicht nur realistisch angesichts der Vorgeschichte des § 257c StPO – informelle Kommunikation, „Deals“ außerhalb der öffentlichen Verhandlung[40]– ein, sondern begründen überzeugend, weshalb eine Rückkehr zum vom klassischen Strafprozess erstrebten Stil, bei dem „ein Strafgericht sich während der Verhandlung nicht „in die Karten schauen“ ließ“, auch nicht wünschenswert ist.[41] Das vorgeschlagene abgekürzte Strafverfahren ermöglicht weitgehende Informationen des Angeklagten über die zu erwartenden Rechtsfolgen, die Grundlage seiner Verteidigungsstrategie werden können, unter größtmöglicher Vermeidung des Geständnisdrucks. Die Verpflichtung, nur Urteile auszusprechen, die der materiellen Wahrheit entsprechen, wird dadurch eingelöst, dass das Gericht verpflichtet ist, im abgekürzten Verfahren das Geständnis zu überprüfen. Die Bindung an die mitgeteilten Rechtsfolgen reicht nur soweit, als diese nicht dazu zwingen, eine materiell-rechtlich falsche Entscheidung zu treffen. Passten die mitgeteilten Rechtsfolgen nicht mehr zu den aus der abgekürzten Verhandlung gewonnenen Erkenntnissen, muss das Gericht einen Termin zur Hauptverhandlung bestimmen; hinsichtlich des Geständnisses besteht nach § 212e StPO-AE ein Verwendungsverbot.

Insgesamt ist dieser vom Arbeitskreis AE vorlegte Vorschlag zur Ersetzung der bisherigen Regelungen einer Verständigung im Strafverfahren damit vollumfänglich zu begrüßen, da er das rechtsstaatlich unmöglich einzulösende Versprechen einer offenen Verständigung über das Urteil eindeutig aufgibt, einen deutlichen Gewinn an Informationssicherheit und Schutz des Angeklagten vor Geständnisdruck bietet sowie der Verfahrensökonomie durch Vereinfachung der Verhandlung bei Vorliegen eines Geständnisses Rechnung trägt. Naiv wäre es allerdings zu glauben, auf diesem Weg wäre nun informellen Absprachen und „Hinterzimmerdeals“ der Boden entzogen – es liegt damit aber ein Vorschlag auf dem Tisch, allen Interessen im Rahmen eines auch rechtsstaatlich möglichen öffentlichen Verfahrens entgegenzukommen.

4. Abgekürztes Strafverfahren vor dem Strafrichter

Ein abgekürztes Strafverfahren ohne Hauptverhandlung vor dem Strafrichter soll das Verfahren mit abgekürzter Verhandlung (s. 3.) ergänzen, da letzteres von den Verfassern als zu aufwendig für strafrichterliche Verfahren eingeschätzt wird. Das abgekürzte Verfahren ohne Hauptverhandlung soll das Strafbefehlsverfahren (§§ 407 ff. StPO) ersetzen, an welchem seit langem Kritik geübt wird. Aus dieser Kritik heben die Verfasser besonders hervor, dass der Beschuldigte keinerlei Gestaltungsmöglichkeiten hat, vielmehr allein der Staatsanwaltschaft die Entscheidung der Wahl der Verfahrensart, und damit auch die Entscheidung für die Durchführung des Strafbefehlsverfahrens, obliegt. Vor Erlass des Strafbefehls durch das Gericht wird der Angeklagte nicht gehört. Auch dem Gericht selbst ist lediglich eine Statistenrolle zugewiesen. Schlimmstenfalls unterschreibt der Richter den vorgefertigten Strafbefehlsentwurf der Staatsanwaltschaft wie ein „Staatsnotar“[42], trifft also tatsächlich keine eigene Entscheidung und wird seiner Prüfungsaufgabe nicht gerecht. Auch sonst verbleibt dem Richter allein die Wahl, den Strafbefehl antragsgemäß zu erlassen oder das Hauptverfahren zu eröffnen.[43]

Das neu vorgeschlagene Verfahren ohne Hauptverhandlung vor dem Strafrichter soll die Mitwirkungsrechte des Beschuldigten deutlich stärken und dokumentiert damit ebenso wie das abgekürzte Verfahren eine ganz wesentliche Zielsetzung des Entwurfs.[44] Einem Antrag der Staatsanwaltschaft auf Durchführung des Verfahrens ohne Hauptverhandlung kann der Beschuldigte widersprechen, zugleich erhält er das Recht, selbst ein Verfahren ohne Hauptverhandlung zu beantragen. Indem erst das Gericht, nicht schon die Staatsanwaltschaft in ihrem Antrag, die Rechtsfolgen festsetzt, soll sichergestellt werden, dass der Richter die Ermittlungsergebnisse tatsächlich prüft und eine eigenständige Entscheidung trifft.[45]

Die Staatsanwaltschaft ist nach § 170 Abs. 3 StPO-AE verpflichtet, die Anklageerhebung mit einem Antrag auf Verurteilung ohne Hauptverhandlung zu verbinden, wenn eine Verurteilung ohne Hauptverhandlung wahrscheinlich ist. Neu ist also, dass der Strafbefehlsantrag nicht als Alternative neben die Anklageerhebung tritt, sondern mit dieser verbunden wird; es folgt ein Zwischenverfahren. Die Trennung soll verdeutlichen, dass die Entscheidung über die Eröffnung des Hauptverfahrens und die über eine Verurteilung strikt zu unterscheiden sind.[46] Um dem Angeklagten Einwendungen vor Ergehen der gerichtlichen Entscheidung zu ermöglichen und so möglichst umfassend rechtliches Gehör zu gewährleisten, wird er über den Antrag der Staatsanwaltschaft auf Verurteilung ohne Hauptverhandlung bei Mitteilung der Anklage informiert.[47] Da auch in diesem Verfahren dem Angeklagten die Verfahrensart und insbesondere die Mitteilung der Rechtsfolgen nicht aufgezwungen werden soll, gewährt § 201a I StPO-AE ihm die Möglichkeit, dem Antrag der Staatsanwaltschaft zu widersprechen. Dann ist nach allgemeinen Regeln über die Eröffnung des Hauptverfahrens zu entscheiden.

Wenn der Angeklagte nicht widerspricht, hat der Strafrichter nach § 407 Abs. 1 StPO-AE zu prüfen, ob der Angeklagte ohne Hauptverhandlung zu verurteilen ist. Liegen die Voraussetzungen dafür nach § 409 Abs. 1 StPO-AE vor, verurteilt der Strafrichter den Angeklagten durch Beschluss. Kann er keine Überzeugung von dessen Schuld gewinnen, hält er ihn aber für hinreichend verdächtig, ordnet er entweder einzelne Beweiserhebungen an (§ 408 StPO-AE) oder eröffnet das Hauptverfahren.

Verurteilt der Strafrichter den Angeschuldigten durch Beschluss zu einer Geldstrafe von höchstens 90 Tagessätzen oder verwarnt er ihn, erwächst die Entscheidung dann in Rechtskraft, wenn weder Staatsanwaltschaft noch Angeschuldigter widersprechen. Eine höhere Verurteilung ohne Hauptverhandlung wird nur dann rechtskräftig bzw. steht einem rechtskräftigen Urteil gleich, wenn der Angeschuldigte schriftlich oder zu Protokoll der Geschäftsstelle seine Zustimmung erklärt. Diese Differenzierung und die ausdrücklich erforderliche Zustimmung zu Verurteilungen über Geldstrafe von 90 Tagessätzen hinaus, bedeutete einen erheblichen Zuwachs an Schutz der Verteidigungsrechte des Beschuldigten und ist ausdrücklich zu begrüßen. Dass im geltenden Strafbefehlsverfahren nur der fristgerechte Einspruch dem Beschuldigten die Möglichkeit der Verteidigung gegen seine Verurteilung ohne Hauptverhandlung bietet und damit für ihn auch die einzige Möglichkeit darstellt, überhaupt rechtliches Gehör zu erhalten, wird seit langem scharf kritisiert.[48] Zu Recht weisen die Verfasser des AE-ASR darauf hin, dass aus unterschiedlichsten Gründen ein Einspruch unterbleiben kann und diese keinesfalls immer als konkludente Zustimmung zu verstehen sind.[49] Ebenfalls positiv ist zu bewerten, dass nach dem AE-ASR in einer auf einen Einspruch folgenden Hauptverhandlung die allgemeinen Regelungen uneingeschränkt gelten sollen, insbesondere das Beweisantragsrecht.[50]

Eine deutliche Stärkung der Gestaltungsrechte des Angeschuldigten erfolgt dadurch, dass er selbst nach § 201a StPO-AE einen Antrag auf Entscheidung ohne Hauptverhandlung stellen kann, wenn die Staatsanwaltschaft die Eröffnung des Hauptverfahrens beantragt hat. Eine solche Möglichkeit fehlt im aktuellen Recht gänzlich, der Beschuldigte hat keinen Anspruch auf die Durchführung des Strafbefehlsverfahrens, lediglich verbleibt ihm die Möglichkeit – sofern er überhaupt die entsprechenden Kenntnisse hat bzw. verteidigt ist – auf die Beantragung eines Strafbefehls bei der Staatsanwaltschaft hinzuwirken. Das vom Alternativ-Entwurf vorgeschlagene Verfahren nach Antrag des Beschuldigten entspricht dem des Verfahrens nach Antrag der Staatsanwaltschaft; jedoch hat diese kein Widerspruchsrecht gegen die Verurteilung ohne Hauptverhandlung. Ihr bleibt aber die Möglichkeit, gegen die Verurteilung Rechtsmittel einzulegen.

Unter dem Aspekt des Verfahrensziels, die materielle Wahrheit im Strafverfahren zu ermitteln und als Grundlage für ein legitimes Urteil zu fordern, bleibt das Verfahren ohne Hauptverhandlung – ebenso wie das derzeitige Strafbefehlsverfahren – deutlich hinter den Möglichkeiten eines Verfahrens mit Hauptverhandlung zurück. An der Entscheidungsgrundlage für den Richter soll sich nämlich im Regelfall nichts ändern; Grundlage der Entscheidung sind auch für das neu vorgeschlagene Verfahren ohne  Hauptverhandlung die Ermittlungsergebnisse der Staatsanwaltschaft. Obwohl ihre Entscheidungsmacht durch den Vorschlag des Alternativ-Entwurfs deutlich beschnitten und die Entscheidung über die Verurteilung, insbesondere über die Rechtsfolgen zu Recht in die Hand des Richters (zurück-)gelegt werden soll; würde i.d.R. allein die Staatsanwaltschaft durch ihr Ermittlungsergebnis am Abschluss des Ermittlungsverfahrens die Tatsachengrundlage bestimmen. Dieses Problem wird aber jedem Verzicht auf eine Hauptverhandlung innewohnen und ist im vorgeschlagenen Verfahren schon durch die gestärkten Gestaltungsmöglichkeiten des Angeschuldigten und damit durch seine Möglichkeit, Einfluss auf die Art des Verfahrens zu nehmen und auch seine Sicht der Dinge vorzutragen, deutlich entschärft.

5. Reform des beschleunigten Verfahrens

Trotz der neu vorgeschlagenen Verfahrensarten sieht der Arbeitskreis ein eng begrenztes Bedürfnis für das beschleunigte Verfahren, insbesondere für Fälle, in denen wegen fehlenden festen Wohnsitzes in Deutschland die Gefahr besteht, dass sich der Verdächtige durch Flucht dem Verfahren entzieht, die Verhängung von Untersuchungshaft für die Dauer des Normalverfahrens jedoch unverhältnismäßig wäre. Daher schlägt der Entwurf vor, das beschleunigte Verfahren beizubehalten. Vor allem aufgrund der wesentlichen Änderungen zum Schutz der Verteidigungsinteressen des Beschuldigten überzeugt das Festhalten am beschleunigten Verfahren für die benannten Ausnahmefälle.

IV. Schluss

Die Verfasser des Alternativ-Entwurfs Abgekürzte Strafverfahren im Rechtsstaat erreichen mit dem vorgelegten Vorschlag das von ihnen selbst gesetzte Ziel, eine Balance zwischen Verfahrensökonomie, Schutzrechten des Beschuldigten und allgemeiner gesprochen rechtsstaatlichen Verfahrensgrundsätzen herzustellen. Trotz einiger Kritik im Detail wäre die Umsetzung des Vorschlags uneingeschränkt zu begrüßen und würde die Rechtsstaatlichkeit des Strafverfahrens bei sog. abgekürzten Verfahren deutlich verbessern. Ob der Vorschlag oder zumindest einzelne Elemente Aufnahme in die Erörterungen des Gesetzgebers finden werden, ist diesem Vorschlag zu wünschen, angesichts der derzeitigen Entwicklung der Gesetzgebung im Strafverfahren aber zweifelhaft. Ob schließlich auch die Praxis sich auf die Anwendung der Regelungen abgekürzter Verfahren beschränkte, oder (erneut) eigene Wege  jenseits  der   Regelungen  zur  Verfahrensvereinfachung wählte, stünde dann auch noch auf einem anderen Blatt.

 

[1]     BGBl 2017, 872.
[2]     BGBl 2017, 3202.
[3]     Kudlich, ZRP 2018, 9.
[4]     A.a.O.
[5]     AE-ASR, GA 2019, 1 (4).
[6]     AE-ASR, GA 2019, 1 (4).
[7]     AE-ASR, GA 2019, 1 (5).
[8]     A.a.O.
[9]     Vgl. AE-ASR, GA 2019, 1 (5).
[10]   Vgl. AE-ASR, GA 2019, 1 (6). Ausf. zur Kritik an den Opportunitätseinstellungen Hüls, Polizeiliche und staatsanwaltschaftliche Ermittlungstätigkeit, S. 67 ff., S. 75 ff.
[11]   AE-ASR, GA 2019, 1 (5). Ausf. Hüls, Polizeiliche und staatsanwaltschaftliche Ermittlungstätigkeit, S. 147 ff.
[12]   AE-ASR, GA 2019, 1 (6 f.).
[13]   AE-ASR, GA 2019, 1 (7).
[14]   A.a.O.
[15]   A.a.O.
[16]   AE-ASR, GA 2019, 1 (7 f.).
[17]   AE-ASR, GA 2019, 1 (8).
[18]   Vgl. AE-ASR, GA 2019, 1 (8).
[19]   Vgl. Hoven, FAZ Einspruch Magazin, https://einspruch.faz.net/einspruch-magazin/2019-0327/93ec371b579799207544575ac3a72165/?GEPC=s5 (zuletzt abgerufen am 1.5.2019).
[20]   AE-ASR, GA 2019, 1 (42).
[21]   A.a.O.
[22]   AE-ASR, GA 2019, 1 (43).
[23]   AE-ASR, GA 2019, 1 (42 f.).
[24]   AE-ASR, GA 2019, 1 (44).
[25]   AE-ASR, GA 2019, 1 (45).
[26]   AE-ASR, GA 2019, 1 (46 f.).
[27]   Vgl. Eschelbach, in: BeckOK-StPO, Stand: 1.4.2019, § 257c vor Rn. 1.
[28]   § 257c StPO: Abs. 1 S. 1 spricht von einer Verständigung über das Ergebnis des Verfahrens und Abs. 3 regelt das Verfahren; dagegen erhält Abs. 1 S. 2 die Amtsaufklärungspflicht aufrecht und verlangt in Abs. 4 S. 1, dass das Ergebnis der Verständigung tat- und schuldangemessen sein muss.
[29]   BVerfGE 133, 168 (225 ff.).
[30]   AE-ASR, GA 2019, 1 (49 ff.).
[31]   AE-ASR, GA 2019, 1 (52).
[32]   Zur Präzisierung der Auswirkungen eines Geständnisses auf die Strafzumessung s. den Vorschlag des AE-ASR, GA 2019, 1 (14 ff.).
[33]   AE-ASR, GA 2019, 1 (56 f.).
[34]   AE-ASR, GA 2019, 1, 52 (55 ff.).
[35]   AE-ASR, GA 2019, 1, 57 (59).
[36]   AE-ASR, GA 2019, 1 (61).
[37]   A.a.O.
[38]   AE-ASR, GA 2019, 1 (59).
[39]   AE-ASR, GA 2019, 1 (59 f.).
[40]   Vgl. Weider, StV 1982, 545; ausf. zur historischen Entwicklung Moldenhauer/Wenske,in: KK-StPO, 8. Aufl. (2019), § 257c Rn. 1 ff.
[41]   AE-ASR, GA 2019, 1 (58 f.).
[42]   Ausf. zu Problem der fehlenden Prüfung durch den Richter Hüls, Polizeiliche und staatsanwaltschaftliche Ermittlungstätigkeit, S. 153 ff.
[43]   AE-ASR, GA 2019, 1 (84 f.).
[44]   AE-ASR, GA 2019, 1 (85 f.).
[45]   A.a.O.
[46]   AE-ASR, GA 2019, 1 (87).
[47]   A.a.O.
[48]   Hüls, Polizeiliche und staatsanwaltschaftliche Ermittlungstätigkeit, S. 156 f. m.w.N.
[49]   Vgl. AE-ASR, GA 2019, 1 (89).
[50]   Vgl. AE-ASR, GA 2019, 1 (90).

 

 

 

 

 

 

 

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