Thomas Giering: Die Wechselwirkung zwischen Strafe und Sicherungsverwahrung bei der Strafzumessung. Zugleich ein Versuch der Bestimmung des Verhältnisses von Strafe und Sicherungsverwahrung nach vorpositiven Begründungsansätzen und geltender Rechtslage

von Prof. Dr. Anja Schiemann

Beitrag als PDF Version 

2018, Duncker & Humblot, Berlin, ISBN: 978-3-428-15181-3, S. 385, Euro 89,90.

Die Dissertation beschäftigt sich mit dem Verhältnis von Strafe und Sicherungsverwahrung gem. §§ 66, 66a StGB, wobei primär die Rechtsprechung überprüft wird, die eine Wechselwirkung zwischen Strafe und Sicherungsverwahrung im Bereich der Strafzumessung annimmt. Da die Sicherungsverwahrung neben der Strafe einen Freiheitsentzug für den Täter bedeutet, der über das Maß der verwirklichten Schuld deutlich hinausgehen kann, schränkt die Rechtsprechung diese Belastung dadurch ein, dass unter dem Gesichtspunkt der Wechselwirkung die Sicherungsverwahrung bei der Bemessung der Freiheitsstrafe berücksichtigt wird.

Um die Wechselwirkung zwischen Strafe und Sicherungsverwahrung auf ein theoretisches Fundament zu stellen, erläutert der Verfasser zunächst sehr dezidiert historische und aktuelle Ansätze der Straftheorie (S. 36 ff.), um danach die Straftheorie der Rechtsprechung vor dem Hintergrund der geltenden Gesetzeslage zu beleuchten (S. 89 ff.). Giering kommt zu dem Ergebnis, dass die Rechtsprechung die verschiedenen Strafzwecke miteinander kombiniert und vereint – und insofern eine Vereinigungstheorie auf der Grundlage des Schuldausgleichs vertreten wird. Der Verfasser kritisiert hier aber eine Beliebigkeit in der Argumentation in den Urteilen, da der Theorie das ordnende Prinzip fehle. Das Nebeneinander der straftheoretischen Elemente, die die Rechtsprechung je nach Fall argumentativ nutzt, lehnt Giering demzufolge ab (S. 98 f.).

Der Verfasser positioniert sich im folgenden schmalen Kapitel eindeutig und bringt die freiheitsgesetzliche Straftheorie zur Anwendung. Diese Theorie weise einen strikten Tat- und Täterbezug auf. Die Tatschuld begründe und begrenze die staatliche Strafe. Der Vorteil dieser Theorie gegenüber der h.M. sei die stringente Ableitung, zudem löse sich die Antinomie der Strafzwecke auf (S. 100). Weiterhin bekennt sich der Verfasser zur Willensschuld (S. 101).

Nach diesem ersten theoretischen Teil zur Strafe, werden in einem zweiten Teil die Maßregeln der Besserung und Sicherung in den Blick genommen (S. 102 ff.). Die Maßregeln des geltenden Rechts werden in erfrischender Kürze vorgestellt, um sich dann den eigenständigen Maßregeltheorien sowie den aus den Straftheorien entwickelten Maßregeltheorien zu widmen. Der Verfasser kommt hier zu dem Ergebnis, dass alle Begründungsansätze für die Maßregeln der Besserung und Sicherung Einwänden ausgesetzt sind (S. 137). Die verschiedenen Maßregeln der Besserung und Sicherung nach geltendem Recht seien daher jeweils nur für sich zu rechtfertigen, so dass auf einen einheitlichen Rechtfertigungsgrund verzichtet werden müsse (S. 138).

Daher geht Giering im Folgenden auf die Rechtfertigung der Sicherungsverwahrung explizit ein und sieht diese vorpositiv nach einem freiheitsgesetzlichen Ansatz als staatliche Reaktion auf habituelle Schuld – sie habe demnach Strafcharakter. Allerdings sei ihre Ausgestaltung als Strafe (noch) nicht angezeigt, was primär an den Schwierigkeiten der Feststellung des Ausmaßes habitueller Schuld im Strafverfahren liege. Bis aber nach freiheitsgesetzlichen Gesichtspunkten ein überzeugendes Konzept geliefert werden könne, müsse man im Grunde die zweispurige Ausgestaltung nach geltendem Recht dulden (S. 144). An dieser Stelle hätte es sich durchaus angeboten, ein wenig tiefer zu schürfen und zumindest grundsätzliche Ideen für ein solches „überzeugendes“ Konzept zu präsentieren.

Im nächsten Unterabschnitt führt der Verfasser eine eigene Terminologie ein. Er differenziert nach klassischer Strafe und „strafrechtsgleicher Unterbringung“ für die Sicherungsverwahrung (S. 144). Gleichwohl benutzt er im Laufe seiner Arbeit wohlüberlegt die Begriffe „Sicherungsverwahrung“ und „Sicherungsverwahrter“, sofern die geltende Rechtslage der §§ 66 ff. StGB beurteilt wird (S. 145).

Die historische Entwicklung des Rechts der Sicherungsverwahrung wird im Anschluss nur in einem knappen Überblick geschildert, um den Zugang zu den Normen herzustellen (S. 146 ff.). Details zu den einzelnen Gesetzesänderungen werden dagegen zu Recht ausgespart, da diese nicht zielführend für die Untersuchung wären. Danach werden grundsätzliche Bedenken gegen die Sicherungsverwahrung referiert (S. 150 ff.). Fokussiert wird hierbei auf die Zweifel an der Erforderlichkeit der Sicherungsverwahrung, den betroffenen Personenkreis und den Katalog der Adressaten sowie die Unsicherheiten im Umgang mit den notwendigen Prognosen.

In einem weiteren Unterabschnitt wird der Einordnung der Sicherungsverwahrung in den europa- und verfassungsrechtlichen Kontext nachgegangen (S. 158 ff.). Der Verfasser kommt zu dem Ergebnis, dass weder die EMRK an sich, noch der EGMR die Zulässigkeit einer sichernden Maßnahme wie der Sicherungsverwahrung nach deutschem Recht in Abrede stellen. Lediglich die nachträgliche Anordnung oder Verlängerung der Sicherungsverwahrung entspräche nicht den Vorgaben der Konvention. Konventionsrechtlich sei die Unterbringung nach §§ 66, 66a StGB als „Strafe“ i.S. des Art. 7 Abs. 1 EMRK einzustufen, was nach Auffassung von Giering seine Einordnung der Sicherungsverwahrung als strafrechtsgleiche Unterbringung unterstreiche (S. 175).

Durch die Deutung der Unterbringung gem. §§ 66, 66a StGB als Strafe ließen sich im Unterschied zur herrschenden Auffassung auch unmittelbare Einsichten in die Notwendigkeit der Anwendung von Verfassungsnormen gewinnen. So seien die Zuständigkeit des Bundesgesetzgebers und die Anwendung des Bestimmtheitsgebotes ohne weiteres begründbar. Zudem lasse sich aus dem aus der Strafgerechtigkeit ableitbaren Resozialisierungserfordernis nicht mehr an der Vereinbarkeit der Sicherungsverwahrung mit der Menschenwürdegarantie zweifeln.

Erst recht spät, nämlich ab S. 222 ff. geht Giering in einem dritten Teil auf die Strafzumessung ein. Dies erstaunt angesichts der Tatsache, dass der Obertitel der Dissertation als Schwerpunkt der Arbeit auf die Wechselwirkung zwischen Strafe und Sicherungsverwahrung bei der Strafzumessung verweist. Allerdings ist über die Hälfte der Ausarbeitung eher grundsätzlichen Ausführungen gewidmet. Dies rechtfertigt sich jedoch vor dem Hintergrund, dass der Verfasser einen eigenen Standpunkt jenseits der herrschenden Meinung zu legitimieren versucht.

Nach einer dezidierten Untersuchung der Rechtsprechung zur Wechselwirkung von Strafe und Sicherungsverwahrung bei der Strafzumessung, stellt Giering fest, dass die Rechtsprechung von einem einheitlichen Ziel geprägt sei. Pauschal werde darauf abgestellt, dass die Strafe niedriger ausfallen könne, wenn eine Unterbringung nach § 66 StGB angeordnet werde. In der Begründung divergieren die Entscheidungen allerdings. Die Unterschiede ließen sich bereits innerhalb der jeweiligen Rechtsprechung der Tat- und Revisionsgerichte ausmachen. Zudem folgten die Tatgerichte nicht stets der Rechtsprechung der Obergerichte.

Die inhaltlichen Argumente seien dabei vielschichtig und reichten von spezialpräventiven Begründungen über eine möglicherweise negativ generalpräventive Begründung auf präventiver Ebene der Spielraumtheorie bis hin zu allgemeinen Erwägungen bzgl. der belastenden Folgen kumulierender Anordnung einer freiheitsentziehenden Strafe und einer Sicherungsverwahrung (S. 253). Die revisionsrechtliche Sicht des BGH verkompliziere zudem die Problematik und trage zur Revisibilität der Strafzumessungsentscheidungen des Tatgerichts, sowie die beschränkte Anfechtung von Straf- und Maßregelausspruch mit ihrem eigenständigen Maßstab zur Uneinheitlichkeit der Rechtsprechung bei. Dadurch sei eine erhebliche Anwendungsunsicherheit entstanden.

Daher folgt nach dieser Bestandsaufnahme eine ausführliche kritische Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung. Dem hehren Ziel der Rechtsprechung, die strafrechtlichen Sanktionen gegenüber dem Straftäter nicht unverhältnismäßig auszugestalten, werde nicht Genüge getan. Auf Basis der Spielraumtheorie komme eine Berücksichtigung ohnehin nur innerhalb des Schuldrahmens der zur Aburteilung stehenden Straftaten in Betracht. Als tragfähiges Argument zur Begründung der Wechselwirkung lasse sich lediglich der Aspekt der Gesamtabwägung von Rechtsfolgen herausstellen. Die Wechselwirkung sei aber auf Vorschlag des Verfassers grundsätzlich nur bei der Gesamtstrafenbildung vorzunehmen (S. 311). Letztlich kommt Giering aber zu dem Ergebnis, dass die strafzumessungsrechtliche Abstimmung den Zusammenhang zwischen der abzuurteilenden Tat und der habituellen Schuld des Täters nur unzureichend aufgreift und in der Folge den gesteigerten Resozialisierungsanspruch des Gewohnheitstäters nur eingeschränkt umsetzt (S. 312).

Daher spürt der Verfasser im Folgenden weiteren theoretischen Ansätzen nach (S. 312 ff.). Alternative Konzepte überzeugten im Vergleich mit der Rechtsprechung durch ihre Klarheit, da sie den Zusammenhang zwischen Strafe und Sicherungsverwahrung als Aspekt eines strikt unrechts- und schuldgebundenen Zumessungsvorgangs ausweisen würden (S. 334). Allerdings sei auch nach diesen Strafzumessungstheorien die Reichweite der Wechselwirkung beschränkt. Giering plädiert daher dafür, eine intensive Abstimmung von Strafe und Sicherungsverwahrung als Recht des Täters zum Nutzen der Gesellschaft unter Inanspruchnahme des vikariierenden Systems vorzunehmen (S. 335).

Daher ist der letzte Teil der Dissertation einem eigenen Ansatz gewidmet (S. 336 ff.). Strafe und Sicherungsverwahrung werden als zwei Komponenten der Strafgerechtigkeit verstanden. Der konsequente Vorwegvollzug der Sicherungsverwahrung beruhe auf dem gesteigerten Resozialisierungsinteresse und -anspruch des Straftäters sowie der gesellschaftlichen Mitverantwortung. Durch die Aufnahme in das vikariierende System des § 67 StGB erfolge eine Anrechnung des Maßregelvollzugs auf die Höhe der Freiheitsstrafe. Zudem finde eine Orientierung an der Aussetzung zur Bewährung zum Zweidrittelzeitpunkt statt. Dadurch sei eine weitergehende strafmildernde Berücksichtigung der Sicherungsverwahrung bei der Strafzumessung der unbedingten Freiheitsstrafe nicht notwendig (S. 350). Dadurch würden die Interessen aller Beteiligten optimal berücksichtigt. Denn den Gewohnheitstätern werde frühzeitig ein Hilfsangebot zur Seite gestellt und damit ihrem gesteigerten Wiedereingliederungsinteresse Rechnung getragen. Durch die frühzeitige Arbeit mit den Sicherungsverwahrten werde zudem das Sicherheitsbedürfnis der Allgemeinheit optimal umgesetzt. Ein frühzeitiges Eingehen auf die in habitueller Weise verkehrte Rechtseinsicht fördere dieses Ziel im Vergleich zu einem nachfolgenden Vollzug besser (S. 356).

Die Dissertation von Giering bietet zweierlei. Zum einen gelingt eine theoretische Fundierung von Strafe, Maßregel und Strafzumessung unter Einbeziehung aller wichtigen Quellen. Zum anderen werden Denkanstöße gegeben, wie die  Wechselwirkung  von  Strafe  und  Sicherungsverwahrung nicht nur rechtstheoretisch, sondern auch in praktischer Hinsicht gelingen kann. Insoweit kann die Lektüre dazu anregen, den theoretischen Ansatz des Autors kritisch zu reflektieren und in weitere Reformüberlegungen einfließen zu lassen.

 

Unsere Webseite verwendet sog. Cookies. Durch die weitere Verwendung stimmen Sie der Nutzung von Cookies zu. Informationen zum Datenschutz

Die Cookie-Einstellungen auf dieser Website sind auf "Cookies zulassen" eingestellt, um das beste Surferlebnis zu ermöglichen.
Wenn Sie diese Website ohne Änderung der Cookie-Einstellungen verwenden oder auf "Akzeptieren" klicken, erklären Sie sich damit einverstanden.

Weitere Informationen zum Datenschutz entnehmen Sie bitte unserer Datenschutzerklärung. Hier können Sie der Verwendung von Cookies auch widersprechen.

Schließen