Michael Kilchling: Opferschutz innerhalb und außerhalb des Strafrechts. Perspektiven zur Übertragung opferschützender Normen aus dem Strafverfahrensrecht und anderen Verfahrensordnungen

von Prof. Dr. Anja Schiemann 

Beitrag als PDF Version 

2018, Duncker & Humblot, Berlin, ISBN: 978-3-428-15196-7, S. 164, Euro 30,00.

 Der schmale Band geht auf eine explorative Studie des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Strafrecht zurück, die im Auftrag des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz (BMJV) im Zeitraum zwischen Herbst 2016 und Frühjahr 2017 erarbeitet wurde. Es ging um die Frage, ob und in welchem Umfang und auf welche Weise die seit vielen Jahren im Strafprozessrecht etablierten und bewährten Opferschutzstandards auch in andere gerichtliche Verfahrensordnungen übertragen werden könnten und sollten. Der veröffentlichte Band geht dabei über die auch auf der Webseite des BMJV abrufbare Ursprungsversion hinaus, da er um einen Gesetzesanhang aller wesentlichen Normen mit Opferrelevanz erweitert wurde. Zudem ist er insoweit aktualisiert worden, als in der käuflichen Buchversion die Änderungen durch das Gesetz zur Neuregelung der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung mitberücksichtigt worden sind.

Die explorative Studie hat es sich zum Ziel gesetzt, auf der einen Seite einen Vergleich der Opferschutzbestimmungen der StPO und den wichtigsten anderen Verfahrensordnungen wie ZPO, ArbGG, FamFG und SGG vorzunehmen und auf der anderen Seite darauf aufbauend Vorschläge für ein konsistentes justizielles Opferschutzkonzept zu entwickeln. Dies soll dem Verletzten für alle wesentlichen gerichtlichen Angelegenheiten vergleichbare Schutzstandards garantieren (S. 2).

Zunächst wird festgestellt, dass das deutsche Strafprozessrecht im Gegensatz zum österreichischen und schweizerischen Strafprozessrecht keine explizite Opfer- bzw. Verletztendefinition kennt. Entscheidender rechtlicher Anknüpfungspunkt für die Implementierung von Opferschutzrechten sei zunächst der viktimologisch determinierte und definierte Opferstatus einer betroffenen Person. Auf rechtlicher Ebene gäbe es eine strafprozessuale Opfervermutung, d.h. Adressat des Opferschutzes ist das mögliche Opfer, also derjenige, der behauptet, Opfer zu sein.

Systematisch differenziert die Studie nach 4 Kategorien strafprozessualer Opferrechte:

  • Informationsrechte,
  • Schutzrechte,
  • Beistandsrechte,
  • Beteiligungsrechte (S. 10).

Die Informationsrechte sollen sicherstellen, dass das Opfer Kenntnis von allen ihm zustehenden Schutz-, Beistands- und Beteiligungsrechten erhält, um diese effektiv ausüben zu können. Schutzrechte dienen der Prävention und Minimierung sekundärer Viktimisierung, sie sollen eine möglichst opferschonende Verfahrenspraxis garantieren. Beistandsrechte sollen die angemessene Präsenz und Mitwirkung des Verletzten im gesamten Strafverfahren sicherstellen. Den Beteiligungsrechten schließlich komme eine besondere Bedeutung im Strafverfahren zu, da diese dem Verletzten adäquate Beteiligungsoptionen im Verfahren zur Verfügung stellt, wie beispielsweise Nebenklage, Adhäsionsklage und Privatklage. Demzufolge unterscheide sich hier die Situation im Strafverfahren von der in anderen Verfahrensarten. Denn in letzteren ist das Opfer a priori regelmäßig Partei und die Schaffung spezifischer, zusätzlicher Beteiligungsrechte stehe hier nicht im Raum, so dass diese Kategorie von der Studie ausgeblendet wird (S. 10).

In einem nächsten Abschnitt wird den prozessualen Opferschutzbedürfnissen jenseits des Strafprozesses nachgegangen (S. 11 ff.). Dabei werden drei verschiedene Opferrollen unterschieden: als Kläger bzw. Antragsteller, als Beklagter sowie als Zeuge. Opferschutzbedürfnisse könnten sich hier sowohl im Hinblick auf allgemeine situative Aspekte als auch aus den strukturellen Faktoren ergeben, die mit den jeweiligen prozessualen Rahmenbedingungen in Zusammenhang stehen.

Reformüberlegungen zur Schaffung eines verbesserten Opferschutzes, so die Forderung der Studie, müssen die strukturellen Bedingungen der jeweiligen Verfahrensordnung berücksichtigen. Relevante Unterschiede beispielsweise zwischen Straf- und Zivilverfahren bestehen wiederum im Hinblick auf vier verschiedene Aspekte:

  • Ziele und Zwecke der Verfahren
  • Offizialprinzip versus Beibringungsgrundsatz
  • Amtswegig versus privatautonom veranlasste Verfahrensbeteiligung
  • Grundsatz der Waffengleichheit (S. 13).

Sodann werden die Verfahren der unterschiedlichen Gerichtsbarkeiten verglichen. Das Verfahren bei den Sozialgerichten wird als dem Strafverfahren strukturell am ähnlichsten erkannt. In beiden Prozessen stünden sich Opfer und Staat gegenüber, wobei vor den Sozialgerichten das Opfer typischerweise in der Kläger-, der Staat in der Beklagtenrolle auftrete. Am sensibelsten benennt die Studie die Eingriffe in die adversatorischen Parteiverfahren, sofern der Opferschutz überdacht werde. Hier sei stets kritisch zu prüfen, ob ein verstärkter Opferschutz Ungleichgewichte erzeugen könnte, die die prozessuale Stellung der gegnerischen Partei beeinträchtigen könnten. Während prozessuale Rechte des Täters im inquisitorischen Verfahren durch opferschützende Vorschriften grundsätzlich nicht tangiert würden, seien dem Transfer von Opferschutzbestimmungen in parteiförmigen Verfahren, die dem Beibringungsgrundsatz folgen, strukturelle Grenzen gesetzt.

Zudem sei zu beachten, dass in jedem Prozess – auch einem ausschließlich zivilrechtlichen Verfahren – die Gefahr sekundärer Viktimisierung bestehe. Daher müsse dem erneuten Kontakt von Opfer und Täter, Verletztem und Schädiger besondere Aufmerksamkeit zukommen. Das spezifisch zivilprozessuale Risikopotenzial könne dabei aus situativen wie auch aus strukturellen Aspekten resultieren. Beispielsweise beziehen sich die strukturellen Faktoren auf spezifische verfahrensimmanente Prozesssituationen, wie das persönliche Erscheinen der Parteien, die Parteivernehmung, die eingeschränkte bzw. fehlende Kontrolle über Art und Inhalt des Prozessstoffes sowie das Kostenrisiko (S. 22). Alle vier Aspekte könnten einzeln oder in Kombination das Risiko sekundärer Viktimisierung erhöhen. Dies scheine umso bedenklicher, als die Opfer bereits oftmals mit dem Ausgang des Strafverfahrens unzufrieden sind und sich die Zivilklage dann zumeist als letzte Hoffnung zur Erreichung justizieller Gerechtigkeit darstelle (S. 24).

Nach dieser Erkenntnis wird in einem weiteren Kapitel der gegenwärtige Status Quo der Opferschutzrechte in Deutschland detailliert analysiert (S. 25 ff.). Nach einem Blick auf die aktuelle Rechtslage im Strafprozess, den zivilrechtlichen Verfahrensordnungen und den sozialgerichtlichen Verfahren werden in einem kleinen Exkurs Besonderheiten des Opferschutzes in Österreich und der Schweiz dargestellt.

Diese vergleichende Analyse nimmt ihren Höhepunkt in einem synoptischen Überblick über den aktuellen Regelungsbestand der einzelnen Verfahrensordnungen (S. 66 f.). Diese Gegenüberstellung lässt deutliche Unterschiede und evidente Lücken erkennen, die den Reformbedarf indizieren.

Im Einzelnen: Opferrelevante Schutzlücken im Bereich der Informationsrechte werden nicht festgestellt. Dagegen zeigt sich im Bereich der Schutzrechte Anpassungsbedarf aufgrund einzelner Regelungslücken. So seien evidente Regelungslücken im Bereich des personalen Opferschutzes erkennbar, der die Rolle des Opfers als Partei ebenso betrifft wie seine Rolle als Zeuge. Die strafprozessuale allgemeine Pflicht des Gerichts zur Berücksichtigung der besonderen Schutzbedürftigkeit von Opferzeugen, die Schutzregelung gegen eine Einsicht in persönliche Daten und bestimmte Inhalte findet in den anderen Prozessordnungen keine Entsprechung. Auch die Ratio der audiovisuellen Vernehmung sei in den anderen Verfahrensordnungen ausschließlich die Prozessökonomie und nicht der Opferschutz. Hier sei eine Klarstellung wünschenswert. Auch der Schutz kindlicher bzw. minderjähriger Opfer könne in den anderen Verfahrensordnungen verbessert werden.

Während die Strafprozessordnung umfassende Beistandsrechte für Opfer einer Straftat gewährt, fehlt es an einem vergleichbaren Schutzstandard in anderen außerstrafprozessualen Verfahrensordnungen, auch wenn dort einige Beistandsrechte vorgesehen sind. Vor allem die psychosoziale Prozessbegleitung sei auch für andere Verfahren auszubauen, zudem seien kostenrechtliche Anpassungen erforderlich, da das Kostenrisiko für Opfer in allen Verfahren außerhalb des Strafverfahrens deutlich höher sei.

In einem abschließenden Kapitel werden – ausgehend von den identifizierten Schutzlücken – konkrete Vorschläge für eine Übertragung ausgewählter Schutz- und Beistandsrechte in die anderen Verfahrensordnungen entwickelt (S. 77 ff.). Der erste Vorschlag weist auf das Erfordernis einer grundlegenden Überarbeitung der Vorschriften zum Adhäsionsverfahren hin, um dessen Praxisprobleme zu beheben. Leider werden hier konkrete Vorschläge nicht gemacht, da diese den Rahmen der explorativen Studie sprengen würden (S. 82). Konkrete de lege ferenda Vorschläge werden aber dahingehend unterbreitet, das Kostenrisiko von Opfern zu minimieren oder dieses sogar von den Kosten umfassend freizustellen. De lege ferenda Vorschläge finden sich ebenfalls zur Erweiterung der einfachen Prozessbegleitung und der psychosozialen Prozessbegleitung sowie zur opfersensiblen Beschränkung der Anordnung des persönlichen Erscheinens. Mehr Opfersensibilisierung soll schließlich durch die de lege ferenda Vorschläge zur Beschränkung der Parteivernehmung sowie im Umgang mit Schriftsätzen und Dokumenten und im Umgang mit Zeugen erreicht werden.

Abschließend stellt sich die Studie die Frage nach einer erweiterten Bindungswirkung strafprozessualer Feststellungen. Eine solche Bindungswirkung wurde auch vom letzten Strafkammertag gefordert. Den Mehrwert sieht der Verfasser der Studie, ganz im Sinne des Opferschutzes, darin, wiederholte Beweiserhebungen von Opfern zu vermeiden. Dagegen spräche allerdings, dass eine erweiterte Bindungswirkung den unterschiedlichen Grundsätzen beider Gerichtsbarkeiten nicht gerecht würde. Zudem könne eine mögliche Bindungswirkung auch gegen die Interessen des Opfers wirken. Dies wäre dann der Fall, wenn nachteilige Tatsachenfeststellungen im Strafverfahren strenge Beweiskraft auch für den Zivilprozess entfalten würden. Insofern spricht sich der Verfasser der Studie gegen eine erweiterte Bindungswirkung aus, da diese letztlich nicht im Sinne des Opferschutzes wäre (S. 102).

Auch wenn es in dieser Studie um die Übertragung des –glücklicherweise hohen – Opferschutzes auf andere Gerichtsbarkeiten geht, so ist doch der Mehrwert auch für die Strafrechtswissenschaft unverkennbar. So wird durch diese Studie einmal mehr die Unvollkommenheit des Adhäsionsverfahrens deutlich und zeigt hier Forschungspotenzial auf. Neben einer grundsätzlichen Auseinandersetzung und Überarbeitung der Vorschriften der §§ 403 ff. StPO könnten hier empirische Erhebungen Aufschluss darüber geben, warum trotz mehrfacher Reformen der StPO in Bezug auf das Adhäsionsverfahren die praktische Bedeutung bislang ausgeblieben ist.

Schließlich können die Angleichungen des Opferschutzes in den einzelnen Verfahrensordnungen zu mehr Rechtssicherheit  beitragen  und  die Standards  für Opfer und Verletzte erhöhen. Die Studie tut gut daran, auch immer darauf hinzuweisen, dass gerade im Parteiprozess eine Stärkung des Opferschutzes nicht zulasten der anderen Partei führen darf. Und immer wieder sei an die Einleitung der Studie erinnert: das Opfer im Strafverfahren wie auch in anderen Verfahren ist vor Urteilsspruch immer nur ein mögliches Opfer, dessen Opfereigenschaft sich erst noch herausstellen muss.

 

Unsere Webseite verwendet sog. Cookies. Durch die weitere Verwendung stimmen Sie der Nutzung von Cookies zu. Informationen zum Datenschutz

Die Cookie-Einstellungen auf dieser Website sind auf "Cookies zulassen" eingestellt, um das beste Surferlebnis zu ermöglichen.
Wenn Sie diese Website ohne Änderung der Cookie-Einstellungen verwenden oder auf "Akzeptieren" klicken, erklären Sie sich damit einverstanden.

Weitere Informationen zum Datenschutz entnehmen Sie bitte unserer Datenschutzerklärung. Hier können Sie der Verwendung von Cookies auch widersprechen.

Schließen