BVerfG verpflichtet Gesetzgeber zur Regelung der Triage – Benachteiligungsrisiken von Menschen mit Behinderung müssen verhindert werden

BVerfG, Beschl. v. 16.12.2021 – 1 BvR 1541/20 (Volltext)

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Leitsätze:

  1. Aus Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG ergibt sich für den Staat das Verbot unmittelbarer und mittelbarer Diskriminierung wegen Behinderung und einAuftrag, Menschen wirksam vor Benachteiligung wegen ihrer Behinderung auch durch Dritte zu schützen.
  1. Der Schutzauftrag des Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG kann sich in bestimmten Konstellationen ausgeprägter Schutzbedürftigkeit zu einer konkretenSchutzpflicht verdichten. Dazu gehören die gezielte, als Angriff auf die Menschenwürde zu wertende Ausgrenzung von Personen wegen einerBehinderung, eine mit der Benachteiligung wegen Behinderung ein- hergehende Gefahr für hochrangige grundrechtlich geschützteRechtsgüter wie das Leben oder auch Situationen struktureller Ungleichheit.

 Der Schutzauftrag verdichtet sich hier, weil das Risiko der Benachteiligung wegen einer Behinderung bei der Zuteilung knapper, überlebens-wichtiger intensivmedizinischer Ressourcen besteht.

  1. Dem Gesetzgeber steht auch bei der Erfüllung einer konkreten Schutzpflicht aus Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG ein Einschätzungs-, Wertungs- undGestaltungsspielraum zu. Entscheidend ist, dass er hinreichend wirksamen Schutz vor einer Benachteiligung wegen der Behinderung bewirkt.

[…]

Gründe:

A.

1    Die Verfassungsbeschwerde zielt auf wirksamen Schutz vor Benachteiligung von Menschen mit einer Behinderung bei der Entscheidung über die Zuteilung intensivmedizinischer Ressourcen, die im Laufe der Coronavirus-Pandemie nicht für alle Behandlungsbedürftigen ausreichen können, also in einem Fall einer Triage.

2    Die Verfassungsbeschwerde war mit einem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung verbunden. Der Eilantrag wurde mit Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 16.7.2020 zurückgewiesen. Es war zu diesem Zeitpunkt nicht konkret absehbar, dass die Plätze für eineintensivmedizinische Behandlung in den Krankenhäusern nicht ausreichen würden, um notwendige Maßnahmen für alle Behandlungsbedüftigen zu ergreifen.

I. 

3    1. Menschen mit einer Behinderung sind in der Coronavirus-Pandemie spezifisch gefährdet. Sie unterliegen in Heimen und Einrichtungen und bei täglicher Unterstützung durch mehrere Dritte einem hohen Infektionsrisiko und tragen ein höheres Risiko, schwerer zu erkranken und an COVID-19 zu sterben (vgl. u.a. Zander, ZDS 1/2021; Shakespeare et al., Lancet 397 [2021] 1331; Deutsches Institut für Menschenrechte, Das Recht auf gesundheitliche Versorgung von Menschen mit Behinderung in der Corona-Pandemie [2020]; grundsätzlich zu den Risiken World Health Organization, World Report on Disability, 2011, S. 55 ff.; United Nations, Report of the Special Rapporteur on the rights of persons with disabilities, 2018, A 73/161, §§ 22 ff.). Im Rahmen der Vereinten Nationen wurde im Zusammenhang mit der Pandemie auf die Gefahr hingewiesen, dass behinderte Menschen bei Anwendung von Behandlungsschemata im Fall der Triage keinen gleichwertigen Zugang zu medizinischer Versorgung erhalten könnten (United Nations Policy Brief: A Disability-Inclusive Response to COVID-19 [May 2020], S. 5 f., 11, unter Verweis auf Truog et al., The New England Journal of Medicine 2020, 382 [21]:1973; dazu auch COVID-19 Disability Rights Monitor, Disability rights during the pandemic [2020], S. 41 ff.). Daraufhin haben sich 138 Staaten und darunter auch Deutschland in einer Stellungnahme ausdrücklich für eine inklusive, also nicht wegen einer Behinderung benachteiligende Reaktion auf die Pandemie ausgesprochen (Joint Statement on the UN Secreta- ry-General´s call for a disability-inclusive response to COVID-19 – Towards a better future for all, 18 May 2020). Desgleichen haben der Fachausschuss zur Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen und die UN-Sonderberichterstatterin für die Rechte der Menschen mit Behinderungen (Basharu/Reyes, Joint Statement: Persons with Disabilities and COVID-19 by the Chair of the United Nations Committee on the Rigths of Persons with Disabilities, on behalf of the Committee on the Rights of Persons with Disabilities and the Special Envoy of the United Nations Secretary- General on Disability and Accessibility [2020]) wie auch die Weltgesundheitsorganisation in ihren Erwägungen zum Thema Behinderung während des COVID-19 Ausbruchs (WHO, Disability considerations during the COVID-19 outbreak, WHO/2019- nCoV/Disability/2020.1 [2020]) auf die besondere diskriminierungsanfällige Situation von Menschen mit Behinderung in der Pandemie hingewiesen und an die Staatenge meinschaft appelliert,insofern Schutz zu gewährleisten.

4    In Deutschland haben die Behindertenbeauftragten von Bund und Ländern in ihrer Düsseldorfer Erklärung schon im Jahr 2019 – also noch unabhängig von der Coronavirus-Pandemie – darauf hingewiesen, der Zugang zur medizinischen Versorgung müsse ohne Diskriminierung erfolgen und dies müsse auch durch Ausbildung gewährleistet werden (vgl. Behindertenbeauftragte von Bund und Ländern, Düsseldorfer Erklärung [2019], S.1 f. [4]). Eine von der Antidiskriminierungsstelle des Bundes in Auftrag gegebene Studie zu Diskriminierungsrisiken und Diskriminierungsschutz im Gesundheitswesen hält im Ergebnis fest, die Forschung zeige derzeit, dass für Menschen mit Behinderungen weder einchancengleicher Zugang zu Leistungen des Gesundheitssystems noch eine diskriminierungsfreie Diagnosestellung und Behandlung gewährleistet sei (Bartig/Kalkum/Le/Lewicki im Auftrag der Antidiskriminierungsstelle des Bundes, Diskriminierungsrisiken und Diskriminierungsschutz imGesundheitswesen [2021], S. 50).

5    2. Im Rahmen der Coronavirus-Pandemie hat das Thema der begrenzten intensivmedizinischen Behandlungskapazitäten in den Krankenhäusernbesondere Aufmerksamkeit erlangt. Das Risiko einer Triage in der Intensivmedizin war mehrfach Gegenstand der öffentlichen Diskussion. So warnte die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) im Jahr 2020, es könne im Falle hoher Infektionszahlen zu Kapazitätsengpässen in der intensivmedizinischen Versorgung kommen (vgl. BVerfG, Beschl. d. Ersten Senats v. 19.11.2021 – 1 BvR 781/21 u.a., Rn. 181 – Bundesnotbremse I). Nach Berichten in den Medien, wonach es in Alten- und Pflegeheimen sowie in Einrichtungen für Menschen mit Behinderung zu einer „Triage vor der Triage“ komme, hat der Ausschuss für Gesundheit des Deutschen Bundestages dazu in nichtöffentlicher Sitzung am 3.3.2021 ein Fachgespräch geführt (Pressemitteilung v. 3.3.2021, heute im bundestag Nr. 279). Auch zum Zeitpunkt dieser Entscheidung wird angesichts der hohen Zahl der Infektionen und vor allem wegen der Zunahme von intensivmedizinisch Behandlungsbedürftigen in Krankenhäusern und der konkreten Auslastung der intensivmedizinischen Behandlungskapazitäten die verschärfte Gefahr gesehen, dass im Laufe der Coronavirus-Pandemie eine Entscheidung über die Verteilung knapper intensivmedizinischer Ressourcen notwendig wird.

6    3. Um in der Pandemie auftretende Knappheitssituationen in der Intensivmedizin und damit eine Triage schon von vornherein zu verhindern, wurden zahlreiche Verordnungen und Gesetze in Kraft gesetzt oder geändert. Gesetzliche Vorgaben für die Entscheidung über die Zuteilung nicht für alle ausreichender intensivmedizinischer Kapazitäten gibt es bislang aber nicht.

7    Auch in der Praxis gibt es für die Triage kein international konsentiertes System und – ebenso nach den Stellungnahmen in diesem Verfahren – keine allgemein geltenden oder rechtlich verbindlichen Standards. Es finden jedoch standardisierte Entscheidungshilfen Anwendung. Für die Rettungsdienste gilt eine unter Federführung des Bundesministeriums des Innern erarbeitete Einigung der Konsensuskonferenz an der Akademie für Notfallplanung und Zivilschutz aus dem Jahr 2002 (dazu Sefrin/ Weidringer/Weiss, DÄBl. 2003, A 2057). Zudem sind notärztliche „Leitplanken“ derBundesvereinigung der Arbeitsgemeinschaften der Notärzte Deutschlands (BAND) und Hinweise des Deutschen Ethikrates (Solidarität und Verantwortung in der Corona-Krise – Ad-hoc-Empfehlung, 27.3.2020) von Bedeutung.

8    Weithin wird in der Praxis auf die klinisch-ethischen Empfehlungen zu „Entscheidungen über die Zuteilung von Ressourcen in der Notfall- und Intensivmedizin im Kontext der COVID-19-Pandemie“ der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) – die mit sieben weiteren Fachgesellschaften abgestimmt wurden – Bezug genommen (erste Version vom 25.3.2020, zweite Version vom 17.4.2020, dritte Version in der Vorabfassung vom 23.11.2021). Diese Empfehlungen haben den Status einer S1-Leitlinie der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften, gelten also als Handlungsempfehlung einer Expertengruppe im informellen Konsens. Solche Leitlinien sind allerdings kein Synonym für den medizinischen Standard, können aber bei dessen Präzisierung helfen (vgl. BGH, Urt. v. 15.4.2014 – VI ZR 382/12, Rn. 17; Kern/Rehborn, in: Laufs/Kern/Rehborn, Handbuch des Arztrechts, 5. Aufl. [2019], § 96 Rn. 14; dazu auch BT-Drs. 17/10488, S. 19). Ausdrücklich heißt es in den Empfehlungen, sie könnten eine juristische Einschätzung nicht ersetzen.

9    Die Empfehlungen der DIVI behandeln allgemeine Grundsätze, Verfahren und Kriterien für die Priorisierungsentscheidungen. Ausgangspunkt ist (2.1.) der individuelle Bedarf der Behandlungsbedürftigen. Wenn die Ressourcen nicht ausreichen, müsse unausweichlich entschieden werden, welche kritisch kranken Patienten intensivmedizinisch behandelt werden und welche nicht, analog der Triage in der Katastrophenmedizin. Die Priorisierungen erfolgten (2.2.) nicht in der Absicht, Menschen oder Menschenleben zu bewerten, sondern mit dem Ziel, möglichst vielen Patienten eine Teilhabe an der Versorgung zu ermöglichen. Entscheidend sei deshalb das Kriterium der klinischen Erfolgsaussicht. Danach werden diejenigen nicht intensivmedizinisch behandelt, bei denen nur eine sehr geringe Aussicht besteht zu überleben. Vorrangig wird demgegenüber behandelt, wer durch diese Maßnahmen eine höhere Überlebenswahrscheinlichkeit hat. Ausdrücklich stellt die zweite Version der Empfehlungen klar, dass aufgrund des Gleichheitsgebots eine Priorisierung aufgrund bestimmter Grunderkrankungen oder Behinderungen nicht zulässig sei. In der dritten Version wird betont, dass bei einer Entscheidung über knappe Ressourcen weder zwischen an COVID-19 und anderen Erkrankten noch nach dem Impfstatus zu unterscheiden sei, sondern alle kritisch Kranken einbezogen werden. In der Liste der Kriterien für Priorisierungsentscheidungen (3.2.) wird ausgeführt, dass (nach Nr. 3) Komorbiditäten und (nach Nr. 4) der Allgemeinzustand einschließlich Gebrechlichkeit, z.B. mit der „Clinical FrailtyScale“, einbezogen werden sollen (zur Diskussion Heinemann, in: FS Plagemann, 2020, S. 411 ff.). Diese dienen nach 3.2.1. der Empfehlungen zur Einschätzung der individuellen Erfolgsaussicht einer Behandlung und stellen – in Abhängigkeit von ihrer Ausprägung – Indikatoren für eine schlechteErfolgsaussicht intensivmedizinischer Maßnahmen dar. Komorbiditäten sind dies nach den Empfehlungen nur, wenn sie in ihrer Schwere oder Kombination die Überlebenswahrscheinlichkeit bei einer Intensivtherapie erheblich verringern; die Gebrechlichkeit ist insoweit als allgemeiner (prämorbider) Gesundheitsstatus nicht weiter qualifiziert.

10   Daneben hat die Bundesärztekammer 2020 anlässlich der Coronavirus-Pandemie die Orientierungshilfe „zur Allokation medizinischer Ressourcen am Beispiel der SARS-CoV-2-Pandemie im Falle eines Kapazitätsmangels“ vom 5.5.2020 herausgegeben (DÄBl. 2020, A 1084). Danach handeln Ärzteund Ärztinnen rechtmäßig, sofern sie sich an ihre Berufsordnung halten und den aktuellen Stand der medizinischen Erkenntnisse beachten; an den ethischen Grund-sätzen des ärztlichen Berufs sei auch in der Pandemie festzuhalten. Kein Menschenleben sei mehr wert als ein anderes; es gelte der Grundsatz der Gleichbehandlung. Daher sei einzelfallbezogen und nicht schematisiert zu entscheiden. Zentrale Kriterien seien die Indikation, derPatientenwille und die klinischen Erfolgsaussichten. Das dürfe zeitlich und inhaltlich nicht so weit über den unmittelbaren Behandlungskontext hinaus ausgeweitet werden, dass sich daraus ein pauschaler Ausschluss bestimmter Patientengruppen ergebe. Auch hier wird betont, dass sich die Erfolgsaussicht nicht aus dem Vorliegen einer bestimmten Erkrankung oder Behinderung, sondern aus dem Zusammenspiel verschiedener Faktoren ergebe. Auch nach der Orientierungshilfe der Bundesärztekammer sind Komorbiditäten und der allgemeine Gesundheitszustand/Gebrechlichkeit zu berücksichtigen (DÄBl. 2020, A 1084 [1086]). Dabei verweist die Orientierungshilfe auf aktuelle Stellungnahmen und Empfehlungen auch der DIVI. Keine von ihnen ist rechtlich verbindlich.

II. 

11   1. Mit der Verfassungsbeschwerde rügen die Beschwerdeführenden, dass der Gesetzgeber sie nicht vor einer Diskriminierung aufgrund ihrer Behinderung schütze, wenn es im Verlauf der Coronavirus-Pandemie zu einer Triage kommen sollte.

[…]

21   2. Die Beschwerdeführenden rügen mit ihrer am 27.6.2020 eingereichten Verfassungsbeschwerde, dass der Gesetzgeber das Benachteiligungsverbot aus Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG und auch die Anforderungen aus Art. 25 der Behindertenrechts konvention verletze, weil er für den Fall einer Triage im Laufe der Coronavirus-Pandemie nichts unternommen habe, um sie wirksam vor einer Benachteiligung zu schützen. Handele der Gesetzgeber nicht, drohe ihnen zudem die Verletzung ihrer Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) und ihrer Rechte auf Leben und Gesundheit (Art. 2 Abs. 2 GG).

22   Die Beschwerdeführenden zu 1) bis 8) tragen vor, sie seien aufgrund ihrer körperlichen Beeinträchtigungen und aufgrund ihres Assistenz- und Unterstützungsbedarfs durch die Coronavirus-Pandemie besonders stark gefährdet. Sie müssten befürchten, im Fall der Knappheit von medizinischen Ressourcen aufgrund ihrer Behinderung schlechtere Behandlungsmöglichkeiten zu haben oder gar von einer lebensrettenden medizinischen Behandlung ausgeschlossen zu werden. Sie wiesen spezifische Beeinträchtigungen auf, die in der medizinischen Wahrnehmung und insbesondere in den klinisch-ethischen Empfehlungen der wissenschaftlichen Fachgesellschaften als Komorbiditäten oder Gebrechlichkeit gesehen würden, was statistisch belegt die Erfolgsaussicht, auf die bei einer intensivmedizinischen Behandlung meist abgestellt werde, verschlechtere. Damit sei ihr Anspruch auf Schutz vor Diskriminie rung aus Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG verletzt, denn diese Benachteiligung sei nicht zu rechtfertigen.

23   Der Gesetzgeber müsse die Triage regeln. Die Regierungen in Bund und Ländern hätten zwar Maßnahmen ergriffen, um eine Ressourcenknappheit in der Medizin zu verhindern. Ob dies gelinge, sei jedoch ungewiss. Für Priorisierungsentscheidungen und zum Schutz vor Diskriminierung gebe eskeine Rechtsgrundlage. Nur im Gesetzgebungsverfahren könnten Betroffene Einfluss nehmen und nur eine gesetzliche Regelung könne sicherstellen, dass nach überprüfbaren Kriterien entschieden werde, sie nicht benachteiligt würden und schlimmstenfalls wenigstens Rechtsschutz eröffnet sei.

III.

[…]

B.

66   Die Verfassungsbeschwerde der Beschwerdeführenden zu 1) bis 8) ist zulässig. Sie richtet sich gegen gesetzgeberisches Unterlassen, was zulässiger Gegenstand eines solchen Verfahrens ist (I). Die besonderen Anforderungen an die Beschwerdebefugnis sind erfüllt (II). Auch der Grundsatz der Subsidiarität ist gewahrt, da jedenfalls keine zumutbare Möglichkeit bestand, vorrangig regulären Rechtsschutz in Anspruch zu nehmen (III).

[…]

 C.

86   Die Verfassungsbeschwerde der Beschwerdeführenden zu 1) bis 8) ist begründet.

87   Nach der Verfassungsbeschwerde ist hier allein zu entscheiden, ob der Gesetzgeber verpflichtet ist, wirksame Vorkehrungen zu treffen, dass niemand bei einer Entscheidung über die Verteilung von pandemiebedingt knappen intensivmedizinischen Behandlungsressourcen, also in einem Fall einer Triage, aufgrund einer Behinderung benachteiligt wird. Der Gesetzgeber hat solche Vorkehrungen bislang nicht getroffen. Damit hat er die hier aus dem Schutzauftrag des Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG folgende Handlungspflicht verletzt.

88   Aus Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG ergibt sich für den Staat ein Auftrag, Menschen wirksam davor zu schützen, wegen einer Behinderung benachteiligt zu werden (1). Aus diesem Schutzauftrag kann unter bestimmten Bedingungen eine Handlungspflicht des Gesetzgebers folgen (2). Deren Verletzung ist aufgrund des weiten Spielraums zur Ausgestaltung des Schutzes vom Bundesverfassungsgericht nur begrenzt überprüfbar (3). Diese grundrechtlichen Maßstäbe tragen den gemäß Art. 1 Abs. 2 GG in der Auslegung des Grundgesetzes zu berücksichtigenden völkerrechtlichen Normen insbesondere der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen Rechnung (4).

89   1. Aus Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG ergibt sich ein Auftrag, Menschen wirksam vor einer Benachteiligung wegen ihrer Behinderung zu schützen.

90   a) Eine Behinderung im Sinne des Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG liegt vor, wenn eine Person in der Fähigkeit zur individuellen und selbstständigen Lebensführung längerfristig beeinträchtigt ist. Gemeint sind nicht geringfügige Beeinträchtigungen, sondern längerfristige Einschränkungen von Gewicht. Auf den Grund der Behinderung kommt es nicht an (BVerfGE 151, 1 [23 f. Rn. 54] m.w.N.). Nach diesen Maßgaben schützt das Grundrecht auch chronisch Kranke, die entsprechend längerfristig und entsprechend gewichtig beeinträchtigt sind (vgl. Eckertz-Höfer, in: AK-GG, 3. Aufl. [2001], Art. 3 Abs. 2, 3 Rn. 135; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, 16. Aufl. [2020], Art. 3 Rn. 164; Langenfeld, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 3 Abs. 3 Rn. 112, 88. EL [08/2019]; vgl. auch Art. 1 S. 2 des Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, Behindertenrechtskonvention, BRK).

91   b) Eine Benachteiligung wegen einer Behinderung liegt vor, wenn einem Menschen wegen einer Behinderung Entfaltungs- und Betätigungsmöglichkeiten vorenthalten werden, die anderen offenstehen, soweit dies nicht durch eine auf die Behinderung bezogeneFördermaßnahme hinlänglich kompensiert wird (vgl. BVerfGE 96, 288 [302 f.]; 99, 341 [357]; 128, 138 [156]; 151, 1 [24 Rn. 55].

92   Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG schützt abwehrrechtlich gegen staatliche Benachteiligung (aa). Das Grundrecht enthält zugleich einen Förderauftrag (bb). Zudem ist es als objektive Wertentscheidung in allen Rechtsgebieten zu beachten (cc). Schließlich ergibt sich aus Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG ein Schutzauftrag für den Gesetzgeber (dd), der ihn in bestimmten Konstellationen zum Handeln verpflichtet (dazu 2).

93   aa) Als subjektives Abwehrrecht umfasst Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG das Verbot unmittelbarer und mittelbarer Diskriminierung (vgl. BVerfGE 151, 1 [24 Rn. 55] m.w.N.), also von Unterscheidungen mit benachteiligender Wirkung. Diese liegt nicht nur bei Regelungen und Maßnahmen vor, die die Situation von Behinderten verschlechtern, sondern auch bei einem Ausschluss von Entfaltungs- und Betätigungsmöglichkeiten durch die öffentliche Gewalt, der nicht hinlänglich kompensiert wird (vgl. BVerfGE 96, 288 [303]). Eine rechtliche Schlechterstellung von behinderten Menschen ist nur dann zu rechtfertigen, wenn sie unerlässlich ist, um behindertenbezogenen Besonderheiten Rechnung zu tragen (vgl. BVerfGE 99, 341 [357]; dazu auch BVerfGE 151, 1 [25 Rn. 57]).

94   bb) Als verfassungsrechtliche Wertentscheidung bindet Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG alle staatliche Gewalt. Auch der Gesetzgeber ist aus Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG verpflichtet, Vorkehrungen gegen Benachteiligungen behinderter Menschen zu treffen. Das Grundrecht zielt darauf, rechtliche und gesellschaftliche Ausgrenzung zu verhindern und zu überwinden (vgl. BVerfGE 96, 288 [302]; so auch BT-Drs. 12/8165, S. 28). Insoweit ergibt sich aus Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG ein Schutzauftrag. Dieser ließe sich nicht erfüllen, wenn Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG nur in Konstellationen griffe, die dem Staat unmittelbar kausal zurechenbar sind, denn der Ausschluss von behinderten Menschen ist nicht allein auf staatliches Handeln zurückzuführen. Um behinderte Menschen vor Ausgrenzung zu bewahren, begründet Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG auch einen Auftrag an den Gesetzgeber, sie vor einer Benachteiligung wegen Behinderung durch Dritte zu schützen (dazu Jarass/Pieroth, GG, 16. Aufl. [2020], Art. 3 Rn. 160; Kingreen, in: Bonner Kommentar, 207. EL [02/2020], Art. 3 Rn. 310 ff., 698; Krieger, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 14. Aufl. [2018], Art. 3 Rn. 13 f.; Peters/König, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, 2. Aufl. [2013], Kap. 21 Rn. 91; Sachs, in: Isensee/Kirchhof, HStR VIII, 3. Aufl. [2010], § 182 Rn. 144; siehe auch Langenfeld, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 3 Abs. 3 Rn. 125 f.; Kischel, in: BeckOK-GG, [Stand: 08/2021], Art. 3 Rn. 237; Nußberger, in: Sachs, GG, 9. Aufl. [2021], Art. 3 Rn. 312; zum Landesverfassungsrecht Staatsgerichtshof der Freien Hansestadt Bremen, Urt. v. 13.8.2020 – St 2/19, Rn. 45).

97   2. Der grundrechtliche Schutzauftrag aus Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG kann sich unter bestimmten Bedingungen zu einer Handlungspflicht des Staates verdichten. Aus dem Schutzauftrag des Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG folgt keine umfassende, auf die gesamte Lebenswirklichkeit behinderter Menschen und ihres Umfelds bezogene Handlungspflicht des Gesetzgebers. Insofern ist auch zu berücksichtigen, dass Private nicht wie der Staat unmittelbar an das grundrechtliche Benachteiligungsverbot gebunden sind (Art. 1 Abs. 3 GG). Der Schutzauftrag kann sich aber in bestimmten Konstellationen ausgeprägter Schutzbedürftigkeit zu einer konkreten Schutzpflicht verdichten (vgl. BVerfGE 142, 313 [338 Rn. 71]; BVerfG, Beschl. d. Ersten Senatsv. 8.6.2021 – 1 BvR 2771/18, Rn. 35). Zu solchen Konstellationen gehört die gezielte, als Angriff auf die Menschenwürde zu wertende Ausgrenzung von Personen wegen einer Behinderung (zur Verankerung des Benachteiligungsverbots in der Menschenwürde BT-Drs. 12/6323, S. 12; dazu auch BVerfGE 144, 20 [207 f. Rn. 541]). Zudem kann eine Handlungspflicht bestehen, wenn mit einer Benachteiligung wegen Behinderung Gefahren für hochrangige grundrechtlich geschützte Rechtsgüter einhergehen (vgl. BVerfGE 49, 89 [142]; 88, 203 [252]). Das ist insbesondere der Fall, wenn der Schutz des Lebens in Rede steht (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG). Darüber hinaus kann sich eine konkrete Handlungspflicht auch in Situationen struktureller Ungleichheit ergeben. Die Schutzbedürftigkeit ist gemindert, wenn die Betroffenen die zumutbare Möglichkeit haben, sich vor einer Schädigung selbst zu schützen oder ihr auszuweichen (vgl. BVerfGE 142, 313 [338 f. Rn. 73]; BVerfG, Beschl. d. Ersten Senats v. 8.6.2021 – 1 BvR 2771/18, Rn. 40). Sie hängt zudem von Art, Nähe und Ausmaß der in der gesellschaftlichen Wirklichkeit vorfindlichen oder drohenden Benachteiligungen ab.

98   Besteht eine konkrete Schutzpflicht, kann das BVerfG deren Verletzung nur feststellen, wenn Schutzvorkehrungen entweder überhaupt nicht getroffen sind, wenn die getroffenen Regelungen und Maßnahmen offensichtlich ungeeignet oder völlig unzulänglich sind, das gebotene Schutzziel zu erreichen, oder wenn sie erheblich hinter dem Schutzziel zurückbleiben (zu Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG BVerfGE 142, 313 [337 f. Rn. 70]).

99   Dem Gesetzgeber steht bei der Erfüllung grundrechtlicher Schutzpflichten grundsätzlich ein weiter Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum zu (vgl. BVerfGE 96, 56 [64]; 121, 317 [356]; 133, 59 [76 Rn. 45]; 153, 182 [268 Rn. 224]). Dessen Umfang hängt von verschiedenen Faktoren ab, im Besonderen von der Eigenart des in Rede stehenden Sachbereichs und der Bedeutung der betroffenen Rechtsgüter (vgl. BVerfGE 76, 1 [51 f.]; 77, 170 [214 f.]; 88, 203 [262]; 153, 182 [268 Rn. 224]). Aus einer grundrechtlichen Schutzpflicht folgt in der Regel keine bestimmte Handlungsvorgabe (vgl. BVerfGE 125, 39 [78]). Die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers kann sich nur unter besonderen Umständen so verengen, dass allein durch eine bestimmte Maßnahme dem Schutzgebot Genüge getan werden kann (vgl. BVerfGE 56, 54 [73 ff.]; 77, 170 [214 f.]; 79, 174 [202]; 88, 203 [254 ff., 257]). Innerhalb seines Spielraums kann sich der Gesetzgeber für Regelungen des materiellen Rechts ebenso entscheiden wie für solche des Verfahrensrechts, soweit dies für einen effektiven Grundrechtsschutz erforderlich ist (vgl. BVerfGE 53, 30 [65 ff.]; 84, 34 [45 f.]; 113, 29 [57]; 147, 253 [311 Rn. 120]).

100  4. Diese Maßstäbe tragen den in der Auslegung des Grundgesetzes zu beachtenden völkerrechtlichen Verpflichtungen Rechnung.

101 a) Insbesondere die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) entfaltet in der Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) Wirkung auf die Grundrechte des Grundgesetzes (vgl. BVerfGE 74, 358 [370]; 82, 106 [114]; 111, 307 [317]; 151, 1 [28 Rn. 64]; stRspr). Art. 14 EMRK untersagt die Diskriminierung aufgrund eines sonstigen Status. Der Gerichtshof geht davon aus, dass es einen europäischen und weltweiten Konsens gibt, dass Menschen mit Behinderungen vor diskriminierender Behandlung geschützt werden müssen; das verdeutlicht die von der Parlamentarischen Versammlung des Europarates am 29.1.2003 angenommene Empfehlung 1592 (2003) über die volle soziale Inklusion von Menschen mit Behinderungen (vgl. EGMR, Glor v. Switzerland, Urt. v. 30.4.2009, Nr. 13444/04, § 53). Danach müssen auch staatliche Leistungen diskriminierungsfrei gewährt werden (vgl. EGMR [GK], Stec et al. v. the United Kingdom, Urt. v. 12.4.2006, Nr. 65731/01 und 65900/01, § 53). Grundsätzlich berücksichtigt die Rechtsprechung auch staatliche positive Verpflichtungen, effektiven und klaren Schutz gegen Diskriminierung im Erwerbsleben bereitzustellen (vgl. EGMR, Danilenkov et al. v. Russia, Urt. v. 30.7.2009, Nr. 67336/01, § 136).

102  b) Auch das Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (Behindertenrechtskonvention, BRK) ist beider Auslegung des Grundgesetzes zu berücksichtigen (vgl. BVerfGE 128, 282 [306]; 142, 313 [345 Rn. 88]; 149, 293 [329 Rn. 90]; 151, 1 [26 ff.Rn. 61 ff.]). Die Konvention behandelt den Anspruch auf Gleichbehandlung und das Schutzgebot gegen die Benachteiligung wegen einerBehinderung, die auch in Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG enthalten sind. Das Grundgesetz lässt sich ohne weiteres entsprechend auslegen. In der Sache geht auch die Konvention über den deutschen Grundrechtsschutz nicht hinaus.

103 Nach Art. 1 Abs. 1 BRK zielt die Konvention darauf, „den vollen und gleichberechtigten Genuss aller Menschenrechte und Grundfreiheiten durch alle Menschen mit Behinderungen zu fördern, zu schützen und zu gewährleisten und die Achtung der ihnen innewohnenden Würde zu fördern.“ Die Vertragsstaaten sind nach Art. 25 BRK insbesondere verpflichtet, Menschen mit Behinderung einen in jeder Hinsicht diskriminierungsfreien Zugang zu der für sie notwendigen Gesundheitsversorgung zu verschaffen (vgl. Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen, Allgemeine Bemerkung Nr. 6 zu Gleichberechtigung und Nichtdiskriminierung, UN Doc. CRPD/C/GC/6 vom 26.4.2018, Rn. 66). Das entspricht im Wesentlichen dem Benachteiligungsverbot aus Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG (vgl. BSG, Urt. v. 15.10.2014 – B 12 KR 17/12 R, Rn. 30 f., BSGE 117, 117 [125 f. Rn. 30 f.];BSG, Urt. v. 8.3.2016 – B 1 KR 26/15 R, Rn. 24, unter Verweis auf die Rechtsprechung des BVerfG).

104  Die Vertragsstaaten sind nach Art. 4 Abs. 1 BRK verpflichtet, die Verwirklichung aller Menschenrechte für alle Menschen mit Behinderungen ohne jede Diskriminierung aufgrund von Behinderung zu gewährleisten und zu fördern. Zu diesem Zweck sind nach Art. 4 Abs. 1 S. 2e BRK alle geeigneten Maßnahmen zur Beseitigung der Diskriminierung aufgrund von Behinderung durch Personen, Organisationen oder private Unternehmen zu ergreifen.

105 Nach Art. 10 BRK sind alle erforderlichen Maßnahmen zu treffen, um den wirksamen und gleichberechtigten Genuss des angeborenen Rechts aufLeben durch Menschen mit Behinderungen zu gewährleisten. Das gilt nach Art. 11 BRK ausdrücklich auch in Gefahrensituationen, bei Naturkatastrophen und humanitären Notlagen; gerade dann ist dem erhöhten Risiko der Diskriminierung entgegenzutreten (dazu Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen, Allgemeine Bemerkung Nr. 6, UN Doc. CRPD/C/GC/6, 26.4.2018, § 43). Das verdeutlicht die Geltung desBenachteiligungsverbots auch im Laufe einer Pandemie.

106 In Art. 25 BRK anerkennen die Vertragsstaaten das Recht von Menschen mit Behinderungen auf das erreichbare Höchstmaß an Gesundheit ohne Diskriminierung aufgrund von Behinderung. Gesundheitsversorgung ist nach Art. 25 S. 3a BRK in derselben Bandbreite, von derselben Qualität und auf demselben Standard wie anderen Menschen zu gewährleisten. Nach Art. 25 S. 3d BRK erlegen die Vertragsstaaten den Angehörigen der Gesundheitsberufe die Verpflichtung auf, Menschen mit Behinderungen eine Versorgung von gleicher Qualität wie anderen Menschen angedeihen zu lassen, namentlich auf der Grundlage der freien Einwilligung nach vorheriger Aufklärung, indem sie unter anderem durch Schulungen und den Erlass ethischer Normen für die staatliche und private Gesundheitsversorgung das Bewusstsein für die Menschenrechte, die Würde, die Autonomie und die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen schärfen. Nach Art. 25 S. 3f BRK ist dafür zu sorgen, dass Gesundheitsleistungen nicht aufgrund von Behinderung vorenthalten werden (vgl. Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen, Allgemeine Bemerkung Nr. 6, UN Doc. CRPD/C/GC/6, 26.4.2018, § 66; dazu auch Ausschuss für bürgerliche und politische Rechte, Allgemeine Bemerkung Nr. 36, UN Doc. CCPR/C/GC/36, 3.9.2019, §§ 24, 61).

107 c) Bei der Auslegung des Grundgesetzes sind auch der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte (IPbpR, Zivilpakt) und der Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (IPwskR, Sozialpakt) zu beachten (vgl. BVerfGE 151, 1 [29 ff. Rn. 66 ff.]m.w.N.; stRspr). Insbesondere Art. 2 Abs. 1 und 2 IPwskR und IPbpR verpflichten die Vertragsstaaten, unter Ausschöpfung aller Möglichkeiten Maßnahmen zu treffen, um nach und nach mit allen geeigneten Mitteln und vor allem durch gesetzgeberische Maßnahmen die volle Verwirklichung der in den Pakten anerkannten Rechte diskriminierungsfrei zu erreichen. Dazu gehört das Recht auf Leben (Art. 6 IPbpR) und auf Gesundheit (Art. 12 IPwskR). Zu Leistungen sind die Staaten nur je nach ihren Ressourcen verpflichtet, müssen aber das Diskriminierungsverbot stets beachten (vgl. Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, Allgemeine Bemerkung Nr. 14, UN Doc. E/C.12/2000/4, 11.8.2000, § 30; dazu auch Allgemeine Bemerkung Nr. 5, UN Doc. E/1995/22, 9. Dezember 1994, § 34). Dabei betont der Ausschuss das Bedürfnis, sicherzustellen, dass nicht nur der öffentliche Gesundheitssektor, sondern auch private Anbieter von Gesundheitsleistungen das Prinzip der Nicht-Diskriminierung in Bezug auf Personen mit Behinderung beachten (a.a.O., § 26). Vulnerable Gruppen, zu denen Menschen mit einer Behinderung gehören, müssen zudem auch bei schwerwiegender Ressourcenknappheit geschützt werden (vgl. Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, Allgemeine Bemerkung Nr. 3, UN Doc. E/1991/23, 14. Dezember 1990, § 12).

 II.

108 Danach erweist sich die Verfassungsbeschwerde als begründet. Der allgemeine Schutzauftrag des Staates aus Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG verdichtet sich angesichts des Risikos der Benachteiligung wegen einer Behinderung bei der Zuteilung knapper intensivmedizinischer Behandlungsressourcen zu einer konkreten Handlungspflicht (1). Der Gesetzgeber hat bislang keine hinreichenden Vorkehrungen getroffen, um die Beschwerdeführenden wirksam vor einer solchen Benachteiligung zu schützen (2). Es liegt im Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers, wie er das Schutzgebot des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG hier konkret erfüllt, ob er also selbst materielle Maßstäbe für die intensivmedizinische Verteilungsentscheidung vorgibt oder andere Vorkehrungen trifft, um wirksam vor Benachteiligung zu schützen (3).

109 1. a) Besteht das Risiko, dass Menschen in einer Triage-Situation bei der Zuteilung intensivmedizinischer Behandlungsressourcen wegen einer Behinderung benachteiligt werden, verdichtet sich der Schutzauftrag aus Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG zu einer konkreten Pflicht des Staates, hiergegen wirksame Vorkehrungen zu treffen. In einer Rechtsordnung, die auf eine gleichberechtigte Teilhabe behinderter Menschen an der Gesellschaft ausgerichtet ist (vgl. BVerfGE 151, 1 [23 f. Rn. 54]), kann eine Benachteiligung wegen einer Behinderung nicht hingenommen werden, der die Betroffenen nicht ausweichen können und die unmittelbar zu einer Gefährdung der nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG als überragend bedeutsam geschützten Rechtsgüter Gesundheit und Leben (vgl. BVerfGE 126, 112 [140]; stRspr.) führt. Die Betroffenen können sich in einer solchen Situation zudem nicht selbst schützen.

110 b) Es liegen auch Anhaltspunkte dafür vor, dass für die Beschwerdeführenden ein Risiko besteht, bei Entscheidungen über die Verteilung pandemiebedingt nicht ausreichender überlebenswichtiger Ressourcen in der Intensivmedizin und damit bei einer Entscheidung über Leben und Tod aufgrund ihrer Behinderung benachteiligt zu werden. Aus der Gesamtschau der sachkundigen Einschätzungen und Stellungnahmen wie auch aus den fachlichen Handlungsempfehlungen ergibt sich, dass die Betroffenen vor erkennbaren Risiken für höchstrangige Rechtsgüter in einer Situation, in der sie sich selbst nicht schützen können, derzeit nicht wirksam geschützt sind.

111 aa) Die Bundesärztekammer betont zwar bereits 2007, auch unter Knappheitsbdingungen seien in der Basisversorgung „die Probleme vulnerabler und benachteiligter Bevölkerungsgruppen zu berücksichtigen“ und verweist ausdrücklich darauf, dass Art. 3 Abs. 2 und Abs. 3 GG jede Differenzierung auch aufgrund der Behinderung auf allen Stufen ausschließe (DÄBl. 2007, A 2750, 2752). Die „Orientierungshilfe der Bundesärztekammer zur Allokation medizinischer Ressourcen am Beispiel der SARS-CoV-2-Pandemie im Falle eines Kapazitätsmangels“ von 2020 wendet sich zudem ausdrücklich gegen schematische Entscheidungen (DÄBl. 2020, A 1085; oben Rn. 10). Für die Situation pandemiebedingt knapper Behandlungsressourcen geht die Bundesärztekammer in der Stellungnahme zu diesem Verfahren (oben Rn. 34) jedoch davon aus, dass sich in der komplexen Entscheidung über eine intensivmedizinische Therapie subjektive Momente ergeben könnten, die Diskriminierungsrisiken beinhalteten.

112 In diesem Verfahren haben zudem als sachkundige Dritte befragte Facheinrichtungen und Sozialverbände im Einklang mit wissenschaftlichen Studien dargelegt, dass ein Risiko besteht, in einer Situation knapper medizinischer Ressourcen aufgrund einer Behinderung benachteiligt zu werden. Das wissenschaftliche Zentrum BODYS (oben Rn. 47), dessen Stellungnahme auch der Deutsche Bundestag vorgelegt hat, führt ebenso wie der Bundesverband evangelische Behindertenhilfe (oben Rn. 56) und die Caritas Behindertenhilfe (oben Rn. 52) aus, dass behinderte Menschen in der Pandemie besonders gefährdet sind.

113 Mehrere sachkundige Dritte haben zudem ausgeführt, dass die Lebenssituation und -qualität von Menschen mit Behinderungen oft sachlich falsch beurteilt werde (oben Rn. 52, 56, 61, 64). Die Caritas Behindertenhilfe (oben Rn. 52) legt dar, in Krankenhäusern tätiges Personal stehe meist unter hohem zeitlichen und ökonomischen Druck und sei im Umgang mit Menschen mit spezifischen Behinderungen in der Regel nicht geschult. Eine Studie zum Stand der Forschung bis 2020 fasst zusammen, dass Hinweise auf Diskriminierungsrisiken bei der Inanspruchnahme der ambulanten sowie stationären Gesundheitsversorgung vorliegen, die weiterer systematischer  Forschung bedürften (Bartig/Kalkum/Le/Lewicki im Auftrag der Antidiskriminierungsstelle des Bundes, Diskriminierungsrisiken und Diskriminierungsschutz im Gesundheitswesen, 2021, S. 44 ff.). Das Diskriminierungsrisiko resultiere aus mangelndem Fachwissen und einer unzureichenden Sensibilisierung des medizinischen und pflegenden Gesundheitspersonals für behinderungsspezifische Besonderheiten (a.a.O., S. 65). Desgleichen haben sachkundige Dritte dargelegt, dass eine unbewusste Stereotypisierung von behinderten Menschen diese bei medizinischen Entscheidungen benachteilige (vgl. Netzwerk Artikel 3 oben Rn. 51; dazu auch Caritas Behindertenhilfe Rn. 52; Bundesverband evangelische Behindertenhilfe Rn. 56 f.; ISL Rn. 61). Der medizinische Blick auf Behinderung sei häufig defizitorientiert (vgl. Forum im Paritätischen oben Rn. 42; DIMR Rn. 64), was in der Ausbildung bislang kaum bearbeitet werde (zur Aus-, Fort- und Weiterbildung bereits 112. Deutscher Ärztetag 2009, Beschlussprotokoll S. 33; 119. Deutscher Ärztetag 2016, Beschlussprotokoll S. 99; Düsseldorfer Erklärung der Behindertenbeauftragten von Bund und Ländern 2019, oben Rn. 4).

114 bb) Die fachlichen Empfehlungen der DIVI für intensivmedizinische Entscheidungen bei pandemiebedingter Knappheit, auf die in diesem Zusammenhang vielfach verwiesen wird, beseitigen das Risiko einer Benachteiligung nicht.

115 (1) Die Empfehlungen sind als S1-Leitlinie rechtlich nicht verbindlich, sondern eine Handlungsempfehlung einer Expertengruppe im informellen Konsens. Damit sind sie auch kein Synonym für den medizinischen Standard im Fachrecht, sondern nur ein Indiz für diesen (oben Rn. 8).

116 (2) Nach den Empfehlungen ist bei der Verteilung nicht ausreichender Ressourcen in der Intensivmedizin das Kriterium der klinischen Erfolgsaussicht der Behandlung entscheidend (2.2.). Die Erfolgsaussicht wird in den Empfehlungen definiert als die „Wahrscheinlichkeit, die aktuelle Erkrankung durch Intensivtherapie zu überleben“ (3.2.1.). Die Aussicht, die akute Erkrankung zu überleben, ist ein als solches zulässiges Auswahlkriterium für die Verteilung knapper Behandlungsressourcen. Dieses Kriterium stellt nicht auf eine Bewertung menschlichen Lebens ab, sondern allein auf die Erfolgsaussichten der nach der aktuellen Erkrankung angezeigten Intensivtherapie.

117 Würde hingegen auf eine längerfristig erwartbare Überlebensdauer abgestellt, würden Menschen, die aufgrund von Behinderungen tatsächlich oder vermeintlich eine kürzere Lebenserwartung haben, regelmäßig nicht oder nachrangig behandelt, zumal die stereotype Wahrnehmung von Behinderungen zu vorschnellen Schlüssen auf eine kürzere Lebensdauer verleiten kann. Dann wäre die weitere Lebensperspektive ausschlaggebend, nicht aber die Aussicht, die aktuelle Erkrankung zu überleben. Es ginge dann gerade nicht um das Überleben der akuten Erkrankung, sondern um die Maximierung von Lebenszeit.

118 (3) Trotz der verfassungsrechtlichen Unbedenklichkeit des Kriteriums der klinischen Erfolgsaussicht im Sinne des Überlebens der aktuellen Erkrankung ist nicht ausge- schlossen, dass die Empfehlungen in ihrer derzeitigen Fassung zu einem Einfallstor für eine Benachteiligung von Menschen mit Behinderungen werden können. Zwar stellen sie seit der zweiten Version unter 2.2. ausdrücklich klar, dass eine Priorisierung aufgrund von Grunderkrankungen oder Behinderungen nicht zulässig ist. Ein Risiko birgt gleichwohl, dass in den Empfehlungen schwere andere Erkrankungen im Sinne von Komorbiditäten und die Gebrechlichkeit als negative Indikatoren für schlechte Erfolgsaussichten der intensivmedizinischen Behandlung bezeichnet werden (3.2.1.). Zwar sollen vorhandene „Komorbiditäten“ ausdrücklich nur dann Eingang in die Auswahlentscheidung finden, wenn sie „in ihrer Schwere oder Kombination die Überlebenswahrscheinlichkeit bei einer Intensivtherapie erheblich verringern“ (3.2.1.). Das begegnet für sich genommen ebenfalls keinen Bedenken. Doch besteht auch hier das Risiko, dass die Überlebenswahrscheinlichkeit nicht eindeutig nur auf die aktuelle Krankheit bezogen wird. Denn es ist nicht ausgeschlossen, dass eine Behinderung pauschal mit Komorbiditäten in Verbindung gebracht oder stereotyp mit schlechten Genesungsaussichten verbunden wird (vgl. Stellungnahmen der Caritas Behindertenhilfe oben Rn. 55; des Bundesverbands evangelische Behindertenhilfe Rn. 57; der ISL Rn. 61 und des DIMR Rn. 63). Außerdem fehlt beim Kriterium der „Gebrechlichkeit“ eineKlarstellung wie zu den Komorbiditäten. Für die Bewertung der Gebrechlichkeit wird unter anderem auf eine Skala verwiesen, die Behinderungen nicht berücksichtigt, sondern für andere Zwecke entwickelt und evaluiert worden ist (vgl. Jung u.a., DÄBl. 2020, S. 668 [672]; dazu auch Kersten/Rixen, Der Verfassungsstaat in der Corona-Krise, 2020, S. 78 f.). Auch hier gilt, dass die Verwendung einer Skala nicht von vornherein unzulässig ist, auch weil sie gerade eilige Entscheidungen erleichtern und die Konsistenz von Entscheidungen sowie die Gleichbehandlung aller Betroffenen fördern kann.Doch birgt eine skalengeleitete Berücksichtigung von Gebrechlichkeit ein Risiko einer Benachteiligung, weil aus dem Umstand, dass viele behinderte Menschen im Alltag auf Assistenz angewiesen sind, vorschnell auf Gebrechlichkeit geschlossen werden kann (dazu die Caritas Behindertenhilfe obenRn. 55; ISL Rn. 61). Damit können auch Vorstellungen von einer schlechteren Lebensqualität behinderter und assistenzbedürftiger Menscheneinhergehen, was ebenfalls zu einer Benachteiligung führen kann (zur QALYS – „quality adjusted life years scale“ – oben Rn. 49; dazu Hoven, in: Hörnle/Huster/Poscher, Triage in der Pandemie, 2021, S. 356 ff.).

119 (4) Auf Risiken einer Benachteiligung wegen einer Behinderung in einer Triage-Situation deutet auch die Pressemitteilung der DIVI vom 23.4.2020 anlässlich der zweiten Version der Empfehlungen hin. Darin wird zwar zunächst klargestellt, dass die in den Empfehlungen genannten Krankheitszustände keine Ausschlusskriterien darstellten, sondern im Einzelfall nach Maßgabe der Erfolgsaussicht der Therapie entschieden werden soll. Doch wird auch ausgeführt, neben dem Schweregrad der aktuellen Erkrankung spielten relevante Begleiterkrankungen mit prognostisch eingeschränkter Lebenserwartung eine wesentliche Rolle. Das kann zu der Annahme verleiten, dass nicht nur das aktuelle Überleben, sondern auch die weitere Lebenserwartung für die Zuteilung medizinischer Ressourcen relevant sei.

120 Eine weitere Pressemitteilung der DIVI vom 30.7.2020 stellt zwar klar, dass die in der Empfehlung genannten Kriterien „immer nur dann entscheidungsrelevant“ sind „wenn sie eine Verschlechterung der Prognoseeinschätzung – also der Wahrscheinlichkeit, DIESE Erkrankung zu überleben – darstellten“; die entscheidende Frage der Triage sei: „Welcher Patient wird jetzt und hier eher überleben?“. Damit wird nochmals betont, dass sich die Empfehlungen ausdrücklich auf die Erfolgsaussicht beziehen, im Sinne einer Wahrscheinlichkeit, die aktuelle Erkrankung zu überleben (3.2.1.). Die DIVI verweist in ihrer Stellungnahme in diesem Verfahren (oben Rn. 36) jedoch selbst darauf, dass im klinischen Alltag bei Kapazitätsengpässen ohne klare Kriterien vielfach ad hoc entschieden werde, und beschreibt die damit einhergehende Unsicherheit. Ausweislich der Pressemitteilung sei die „bestehende Rechtsunsicherheit, welche Kriterien im Fall einer Pandemie bei der Verteilung knapper medizinischer Ressourcen maßgeblich sein sollen“, für die Ärzte „unerträglich“. Desgleichen hat die Bundesärztekammer erläutert, es gebe hier subjektive Momente und damit auch Diskriminierungsrisiken (oben Rn. 34). Insofern erscheint nicht hinreichend gewährleistet, dass die Betroffenen in einer solchen Situation wirksam vor einer Benachteiligung wegen ihrer Behinderung geschützt sind.

121 c) In der Gesamtschau liegen somit belastbare Anhaltspunkte dafür vor, dass für die Betroffenen ein konkretes Risiko besteht, wegen einer Behinderung bei der Verteilung knapper intensivmedizinischer Ressourcen benachteiligt zu werden. Vor diesen Risiken können sich die Beschwerdeführenden in der akuten Situation der Behandlungsbedürftigkeit nicht selbst wirksam schützen, und sie können dem auch nicht ausweichen.

122 Der Gesetzgeber hat bislang keine Vorkehrungen getroffen, die dem Risiko einer Benachteiligung von Menschen aufgrund einer Behinderung bei der Verteilung von knappen intensivmedizinischen Behandlungsressourcen wirksam begegnen. Zwar hat sich der Gesetzgeber mehrfach mit dem Schutzgebot befasst. Insbesondere hat er mit dem Gesetz zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen, dem Bundesteilhabegesetz vom 23.12.2016 (BGBl. I S. 3234, mit Wirkung vom 1.1.2018), deutsches Recht an die Behindertenrechtskonvention angepasst und mit dem Gesetz zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen (Behindertengleichstellungsgesetz – BGG – vom 27.4.2002, BGBl. I S. 1467, zuletzt geändert durch Art. 9 des Gesetzes vom 2.6.2021, BGBl. I S. 1387) die Barrierefreiheit zu fördern gesucht. Jedoch fehlen hinreichend wirksame, auch nach Art. 25 BRK geforderte Vorgaben zum Diskriminierungsschutz im Gesundheitswesen, die in der Situation der pandemiebedingten Triage vor Benachteiligung wegen der Behinderung schützen könnten. Zwar hat der Gesetzgeber Menschen mit Behinderungen im pandemiebezogenen Impfrecht berücksichtigt (vgl. § 3 Nr. 2, § 4 Nr. 2 sowie § 2 Nr. 2 Verordnung zum Anspruch auf Schutzimpfung gegen das Coronavirus SARS-CoV-2 [CoronaImpfV] vom 18.12.2020, BAnz AT 21.12.2020 V3 sowie nachfolgende Fassungen für Beschäftigte und Betreute in stationären oder teilstationären Einrichtungen oder ambulant betreuten Wohngruppen) oder in Regelungen für Tests (vgl. § 3 Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 2 Verordnung zum Anspruch auf Testung in Bezug auf einen direkten Erregernachweis des Coronavirus SARS-CoV-2 vom 21.9.2021). Doch sind dies keine Vorkehrungen für die Verteilungsentscheidung über knappe intensivmedizinische Ressourcen.

123 Die behandelnden Ärztinnen und Ärzte befinden sich im Fall einer pandemiebeding ten Triage in einer extremen Entscheidungssituation. Sie müssen entscheiden, wem die nicht ausreichend zur Verfügung stehenden intensivmedizinischen Ressourcen zukommen sollen und wem nicht. In dieser Situation kann es besonders fordernd sein, auch Menschen mit einer Behinderung die notwendige medizinische Versorgung zukommen zu lassen. Das gelingt nur, wenn sichergestellt ist, dass allein nach der aktuellen und kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit entschieden wird.

124 Dafür genügt das allgemeine zivilrechtliche Benachteiligungsverbot in § 1 AGG nicht; insofern ist bereits nicht klar geregelt, ob es auf die Situation der Triage überhaupt Anwendung findet. Ebenso wenig finden sich hinreichende Vorgaben zum Benachteiligungsschutz im öffentlichen Recht. Zwar adressiert das Landesantidiskriminierungsgesetz von Berlin (LADG, vom 11.6.2020, GVBl 2020, S. 532), wo mehrere Beschwerdeführende leben, in § 2 LADG ausdrücklich auch chronische Erkrankungen und soll unmittelbare, mittelbare, strukturelle und institutionelle Benachteiligung erfassen (vgl. LT-Drs. 18/1996, S. 18), gilt aber von vornherein nicht für die konkrete ärztliche Behandlungsentscheidung. Desgleichen vermitteln die Vorgaben im auf eine Benachteiligung wegen der Behinderung bezogenen Gleichstellungs-, Inklusions- und Teilhaberecht der Länder hier keinen wirksamen Schutz. Das gilt auch für das Sozialrecht mit dem Querschnittsgebot zur Teilhabe behinderter Menschen in § 33c S. 1 SGB I, der allgemeinen Norm in § 10 SGB I oder der Regelung des § 2a SGB V, oder auch für das Beihilferecht. Sie alle bieten keinen Schutz vor dem Risiko einer Benachteiligung in der Triage-Situation. Auch im Landeskrankenhausrecht finden sich zwar teilweise Regelungen zugunsten der besonderen Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen, aber keine Vorgaben, die den hier gefragten Schutz hinreichend wirksam gewährleisteten. Die derzeit geltenden Regelungen erschöpfen sich entweder in einer Wiederholung des Benachteiligungsverbots aus Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG oder beschränken sich darauf, dass besonderen Bedürfnissen Rechnung zu tragen sei, was zur Erfüllung der aus Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG resultierenden staatlichen Handlungspflicht nicht genügt.

125 Desgleichen gewährleistet das aktuelle ärztliche Berufsrecht den Schutz vor Benachteiligung nicht hinreichend wirksam. Insofern genügt es nicht, auf das sogenannte Genfer Gelöbnis zu verweisen, wonach eine Behinderung nicht zwischen die ärztlichen Pflichten und ihre Patienten treten darf. Das gilt auch, wenn es von den  Ärztekammern in ihre Satzung aufgenommen worden ist. Es bleibt ganz allgemein. Für einen wirksamen Schutz vorDiskriminierungsrisiken bei Entscheidungen über Leben und Tod reicht es auch nicht, dass die Musterweiterbildungsverordnung 2018 der Bundesärztekammer den Erwerb von behandlungsbezogenen Kenntnissen zu den „Besonderheiten bei der Betreuung von Menschen mitBehinderung“ einbezieht.

126 3. Dem Gesetzgeber steht bei der Entscheidung, wie die konkrete Pflicht aus Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG im Einzelnen erfüllt werden soll, Menschen vor einer Benachteiligung wegen der Behinderung bei einer Entscheidung über die Zuteilung knapper intensivmedizinischer Ressourcen wirksam zu schützen, ein Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum zu. Das Risiko behinderter Menschen, bei der Zuteilung pandemiebedingt knapper intensivmedizinischer Ressourcen benachteiligt zu werden, ergibt sich nach den Feststellungen des Senats aus einer Gesamtschau verschiedener, teils ineinandergreifender Umstände (dazu oben Rn. 110 ff.). Dem Gesetzgeber stehen daher mehrere Möglichkeiten offen, diesem Risiko wirkungsvoll zu begegnen. Dass allein durch eine bestimmte Maßnahme dem Schutzgebot Genüge getan werden könnte, ist auf der Grundlage der im Verfassungsbeschwerdeverfahren gewonnenen Erkenntnisse nicht ersichtlich.

127 Geleitet und begrenzt wird der Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum durch die Eigenart des in Rede stehenden Sachbereichs und die zu beachtenden Grundrechte aller Betroffenen. Dabei hat der Gesetzgeber auch zu berücksichtigen, dass die für die Behandlung zur Verfügung stehenden begrenzten personellen und sachlichen Kapazitäten des Gesundheitswesens nicht zusätzlich in einer Weise belastet werden, dass das letztendlich angestrebte Ziel, Leben und Gesundheit von Patientinnen und Patienten mit Behinderungen wirkungsvoll zu schützen, in sein Gegenteil verkehrt würde. Gleiches gilt im Hinblick auf die durch den Gesetzgeber zu beachtenden Schutzpflichten für das Leben und die Gesundheit der anderen Patientinnen und Patienten. Hierbei hat der Gesetzgeber die Sachgesetzlichkeiten der klinischen Praxis, etwa die aus medizinischen Gründen gebotene Geschwindigkeit von Entscheidungsprozessen, ebenso zu achten wie die Letztverantwortung des ärztlichen Personals für die Beurteilung medizinischer Sachverhalte im konkreten Einzelfall, die in deren besonderer Fachkompetenz und klinischer Erfahrung begründet liegt.

128 Innerhalb dieses Rahmens hat der Gesetzgeber selbst zu entscheiden, ob er Vorgaben zu den Kriterien von Verteilungsentscheidungen macht (vgl. zu Kriterien des Zugangs zu staatlichen Leistungen BVerfGE 134, 1 [15 f. Rn. 42]). Dass aufgrund der Achtung vor der Unantastbarkeit der Menschenwürde Leben nicht gegen Leben abgewogen werden darf (vgl. BVerfGE 115, 118 [153 ff., 158]), steht einer Regelung von Kriterien, nach denen zu entscheiden ist, wie knappe Ressourcen zur Lebensrettung verteilt werden, nicht von vornherein entgegen; ein Kriterium, das den inhaltlichen Anforderungen der Verfassung genügt, kann vom Gesetzgeber vorgegeben werden (zur Diskussion vgl. Brade/Müller, NVwZ 2020, 1792 [1796]; Gaede u.a., medstra 2020, 129 [130 f.]; Hristova, DVBl 2021, 224 [230]; Huster, in: Huster/Kingreen, Handbuch Infektionsschutzrecht, 2021, Kap. 8 Rn. 45 ff.; Taupitz, MedR 2020, 440 [442 f.]; kritisch Merkel/Augsberg, JZ 2020, 704 [713 f.]). Der Gesetzgeber kann auch Vorgaben zum Verfahren machen (vgl. zu staatlichen Entscheidungen BVerfGE 147, 253 [311 Rn. 120]). Sofern dies nach Einschätzung des Gesetzgebers wirksamen Grundrechtsschutz verspricht, kann er sich für ein Mehraugen-Prinzip bei Auswahlentscheidungen (so die DIVI-Empfehlungen 3.1. und 3.3.2.) oder für Vorgaben zur Dokumentation (so die Stellungnahme BAND oben Rn. 38 f.) entscheiden. Denkbar sind auch Regelungen zur Unterstützung vor Ort. Dazu kommt die Möglichkeit spezifischer Vorgaben für die Aus- und Weiterbildung in der Medizin und Pflege und insbesondere des intensivmedizinischen Personals, um auf die Vermeidung von Benachteiligungen wegen Behinderung in einer Triage-Situation hinzuwirken (vgl. Art. 4 Abs. 1 S. 2i BRK und oben Rn. 113). Der Gesetzgeber hat zu entscheiden, welche Maßnahmen zweckdienlich sind (vgl. BVerfGE 142, 313 [342 Rn. 81] m.w.N.).

129 4. Inwiefern die Handelnden in öffentlichen Krankenhäusern in der hier zu beurteilenden Verteilungssituation anders als Private unmittelbar an Art. 3Abs. 2 S. 2 GG gebunden sind, kann dahinstehen, weil sich daraus im Ergebnis keine weiterreichen den Folgen ergäben.

D.

130 Der Gesetzgeber muss zur Umsetzung der aus Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG hier auch wegen der Bedeutung des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG folgenden konkreten Schutzpflicht und im Lichte der Behindertenrechtskonvention dafür Sorge tragen, dass jede Benachteiligung wegen einer Behinderung bei der Verteilung pandemiebedingt knapper intensivmedizinischer Behandlungsressourcen hinreichend wirksam verhindert wird. Der Gesetzgeber ist gehalten, seiner Handlungspflicht unverzüglich durch geeignete Vorkehrungen nachzukommen.

[…]

 

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