BGH, Beschl. v. 13.12.2022 – 3 StR 372/22 – (Volltext)
Amtlicher Leitsatz:
Zum gegen den erkennbaren Willen des Sexualpartners heimlich ohne Kondom ausgeführten Geschlechtsverkehr (sogenanntes „Stealthing“).
Gründe:
1 Das LG hat den Angeklagten wegen Vergewaltigung, schweren sexuellen Übergriffs sowie sexuellen Übergriffs zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt und im Übrigen freigesprochen. Der Angeklagte wendet sich mit seiner Revision gegen die Verurteilung und beanstandet die Verletzung materiellen sowie formellen Rechts. Das Rechtsmittel hat hinsichtlich einer Tat mit einer Verfahrensrüge Erfolg; ansonsten ist es unbegründet.
2 I. Die Verurteilung wegen Vergewaltigung im Fall II. 1. der Urteilsgründe hat keinen Bestand und führt zur Aufhebung der Gesamtstrafe, da der Angeklagte entgegen § 265 Abs. 1 StPO nicht auf eine Veränderung des rechtlichen Gesichtspunktes hingewiesen wurde. Die entsprechende, zulässig erhobene Verfahrensbeanstandung ist begründet.
3 1. Sie beruht auf folgendem in der Revisionsbegründung im Sinne des § 344 Abs. 2 S. 2 StPO dargelegten Verfahrensgeschehen: Die unverändert zur Hauptverhandlung zugelassene Anklageschrift legte dem Angeklagten in Bezug auf die unter II. 1. der Urteilsgründe festgestellte Tat zur Last, eine Vergewaltigung unter Ausnutzung des Umstandes begangen zu haben, dass die Geschädigte nicht in der Lage gewesen sei, einen entgegenstehenden Willen zu bilden oder zu äußern (§ 177 Abs. 2 Nr. 1, Abs. 6 S. 2 Nr. 1, Abs. 8 Nr. 1 StGB). Die Verurteilung wegen Vergewaltigung stützt sich hingegen darauf, dass der Angeklagte gegen den erkennbaren Willen der Betroffenen sexuelle Handlungen an ihr vorgenommen habe (§ 177 Abs. 1 und 6 S. 2 Nr. 1 StGB). Ein Hinweis auf den geänderten rechtlichen Gesichtspunkt wurde dem Angeklagten nicht erteilt.
4 2. Damit ist den Anforderungen des § 265 Abs. 1 StPO nicht genügt.
5 a) Ein anderes Strafgesetz im Sinne der Norm ist auch eine ihrem Wesen nach andersartige Begehungsform desselben Strafgesetzes, da der Angeklagte vor Überraschungen geschützt werden und Gelegenheit erhalten soll, sich gegenüber einem neuen Vorwurf zu verteidigen. Ob es sich um eine solche andersartige Begehungsform oder lediglich um eine gleichartige Erscheinungsform desselben Tatbestands handelt, bestimmt – sich nicht nach äußeren Merkmalen, sondern ausschließlich nach dem wesensmäßigen Inhalt der Begehungsform (BGH, Urt. v. 30.7.1969 – 4 StR 237/69, BGHSt 23, 95 [96]; BGH, Urt. v. 20.2.1974 – 2 StR 448/73, BGHSt 25, 287 [288 f.]; vgl. auch BGH, Beschl. v. 20.3.2018 – 2 StR 328/17, BGHR StPO, § 265 Abs. 1, Hinweispflicht 23 Rn. 8).
6 b) Daran gemessen war eine Hinweispflicht gegeben. Es besteht ein wesentlicher Unterschied darin, ob sexuelle Handlungen an einer zur Willensbildung und –äußerung fähigen Person gegen deren erkennbaren Willen oder an einer Person vorgenommen werden, die einen entgegenstehenden Willen nicht bilden oder äußern kann (vgl. auch Eschelbach, in: BeckOK–StPO, 45. Ed. (1.10.2022), § 265 Rn. 13 ff.; zu mehreren Begehungsformen der Vergewaltigung BGH, Beschl. v. 6.9.2005 – 1 StR 366/05, StV 2006, 5). Für einen verschiedenartigen Wesensgehalt spricht überdies, dass bis zur Neufassung des § 177 Abs. 2 Nr. 1 StGB durch das Fünfzigste Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuches – Verbesserung des Schutzes der sexuellen Selbstbestimmung vom 4. November 2016 (BGBl. I, S. 2460) der sexuelle Missbrauch widerstandsunfähiger Personen, der mit der neuen Fassung aufgegriffen werden sollte (s. BT-Drs. 18/9097, S. 23), gesondert in § 179 StGB geregelt war.
7 3. Es ist nicht auszuschließen, dass sich der Angeklagte bei einem ordnungsgemäßen Hinweis wirksamer als geschehen verteidigt und sich dies auf das Urteil ausgewirkt hätte. Insofern braucht die Möglichkeit einer anderen Verteidigung nicht nahezuliegen; es genügt, dass sie nicht mit Sicherheit auszuschließen ist (vgl. BGH, Beschl. v. 16.2.1989 – 1 StR 24/89, BGHR StPO, § 265 Abs. 1, Hinweispflicht 5; Urt. v. 8.6.2022 – 2 StR 503/21, juris Rn. 21). So liegt es hier, zumal der Angeklagte seine Einlassung in Bezug auf die Erkennbarkeit eines etwaigen entgegenstehenden Willens hätte vertiefen oder modifizieren können oder gegebenenfalls weitere Beweisanträge zur Äußerungsfähigkeit der betroffenen Nebenklägerin in Betracht gekommen wären.
8 Da das Urteil insoweit aufzuheben ist, ist eine Erörterung der weiteren Verfahrensbeanstandung entbehrlich, welche dieselbe Tat betrifft. Das neue Tatgericht wird insgesamt die individuellen Umstände, bei Bedarf unter Heranziehung sachverständigen Rates, erneut in den Blick zu nehmen haben.
9 4. Die Aufhebung der Verurteilung im Fall II. 1. der Urteilsgründe hat den Wegfall der entsprechenden Einzelstrafe zur Folge und entzieht damit der Gesamtstrafe die Grundlage.
10 II. Die weitere Nachprüfung des Urteils auf Grund der Revisionsrechtfertigung hat, wie vom Generalbundesanwalt dargelegt, keinen sonstigen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben. Näherer Ausführungen bedarf allein, dass der Angeklagte sich im Fall II. 3. der Urteilsgründe wegen sexuellen Übergriffs strafbar gemacht hat.
11 1. Nach den hierzu vom LG getroffenen Feststellungen wollten der Angeklagte und eine Besucherin in seinem Schlafzimmer geschlechtlich verkehren. Nach einvernehmlichem Oralverkehr ging der Angeklagte an eine Kommode, holte sichtbar ein Kondom heraus und öffnete die Verpackung. Ihm kam es darauf an, dass die später Geschädigte davon ausging, er werde es beim Geschlechtsverkehr überziehen. Tatsächlich beließ er es aber ausgepackt und nicht abgerollt im Bett. Da die Besucherin sich kurz umdrehte, sah sie dies nicht und ging davon aus, er werde das Kondom benutzen. Ungeschützter Geschlechtsverkehr wäre für sie nicht in Frage gekommen. Der Angeklagte führte sodann einige Zeit bewusst ohne Kondom vaginalen Geschlechtsverkehr mit ihr durch. Später bemerkte sie, dass er kein Kondom trug, und verließ schließlich die Wohnung.
12 2. Die Strafkammer hat das Geschehen zutreffend als sexuellen Übergriff gemäß § 177 Abs. 1 StGB gewertet. Stimmt eine Person Geschlechtsverkehr ersichtlich nur unter der Voraussetzung zu, dass dabei ein Kondom genutzt werde, stehen ohne Präservativ vorgenommene sexuelle Handlungen ihrem erkennbaren Willen entgegen.
13 a) Für die Frage, ob eine sexuelle Handlung dem maßgeblichen Willen zuwiderläuft, kommt es auf die konkret vorgenommene Handlung an (vgl. BGH, Beschl. v. 4.12.2018 – 1 StR 546/18, NStZ 2019, 407 Rn. 7; Schleswig-Holsteinisches OLG, Urt. v. 19.3.2021 – 2 OLG 4 Ss 13/21, NStZ 2021, 619 Rn. 14 ff.; OLG Hamm, Urt. v. 1.3.2022 – III–5 RVs 124/21, NStZ–RR 2022, 276). Ist in Bezug auf diese ersichtlich, dass die betroffene Person sie ablehnt, ist grundsätzlich nicht entscheidend, ob ein Einverständnis mit anderen sexuellen Handlungen besteht. Insoweit stellen Geschlechtsverkehr unter Nutzung eines Kondoms einerseits und ohne ein solches andererseits unterschiedliche sexuelle Handlungen dar.
14 Der Gebrauch eines Präservativs betrifft die Art und Weise des Sexualvollzugs und führt zu einer anderen qualitativen Bewertung (vgl. Schleswig-Holsteinisches OLG, Urt. v. 19.3.2021 – 2 OLG 4 Ss 13/21, NStZ 2021, 619 Rn. 17; BayObLG, Beschl. v. 20.8.2021 – 206 StRR 87/21, NStZ–RR 2022, 43 [44]; KG, Beschl. v. 27.7.2020 – [4] 161 Ss 48/20 [58/20], OLGSt, StGB, § 177 Nr. 5 S. 5 f.; Camargo, ZStW 2022, 351 [375]; Wolters, in: SSW-StGB, 5. Aufl. (2020), § 177 Rn. 18; Schumann/Schefer, in: FS Kindhäuser, 2019, S. 811 [816]; anders dagegen Heger, in: Lackner/Kühl, StGB, 29. Aufl. [2018], § 177 Rn. 5). Hierfür spricht insbesondere die generelle Eignung, eine unerwünschte Schwangerschaft oder die Übertragung von Krankheiten zu verhindern. Dass hierdurch die Beurteilung eines sexuellen Kontakts mitgeprägt wird, zeigt sich etwa daran, dass bei Sexualdelikten der Vollzug des Geschlechtsverkehrs ohne Verwendung eines Kondoms bereits nach früherer Rechtslage straferschwerend berücksichtigt werden konnte (s. BGH, Urt. v. 6.7.1999 – 1 StR 216/99, NStZ 1999, 505 f.; vgl. auch BGH, Beschl. v. 18.12.2018 – 3 StR 427/18, NStZ 2019, 203 Rn. 9 f.; Urt. v. 14.8.1990 – 1 StR 62/90, BGHSt 37, 153 [155 f.]). Die Bedeutung der Prävention gegen sexuell übertragbare Erkrankungen wird überdies dadurch deutlich, dass für den Bereich der Prostitution gemäß § 32 Abs. 1 ProstSchG eine Kondompflicht besteht (s. BT-Drs. 18/8556, S. 93 f.). Dies ändert nichts daran, dass maßgebliches Rechtsgut des § 177 StGB die sexuelle Selbstbestimmung ist (vgl. BT-Drs. 18/9097, S. 21; Renzikowski, in: MüKo-StGB, Band 3, 4. Aufl. [2021], § 177 Rn. 51; anders Denzel/Kramer da Fonseca Calixto, KriPoZ 2019, 347 [353]). Die Heranziehung der genannten Gesichtspunkte erweitert es nicht um Aspekte des Gesundheitsschutzes, sondern unterstreicht lediglich, dass ein qualitativer Unterschied zwischen der von der selbstbestimmungsberechtigten Person konsentierten und der tatsächlich vorgenommenen Sexualpraktik besteht.
15 b) In der gegebenen Konstellation kann dahinstehen, welche Bedeutung ein etwaiger Irrtum bei der Bildung des – einvernehmlichen oder entgegenstehen–den – Willens für die strafrechtliche Bewertung hat. Der Entscheidung der betroffenen Person, keinen ungeschützten Geschlechtsverkehr zu wollen, liegt grundsätzlich keine Fehlvorstellung zugrunde, wenn der Täter vorspiegelt, diesem Wunsch nachzukommen; denn dadurch ändert sich nichts an der ablehnenden Haltung gegenüber einem Sexualkontakt ohne die Nutzung eines Kondoms (s. etwa KG, Beschl. v. 27.7.2020 – [4] 161 Ss 48/20 [58/20], OLGSt StGB, § 177 Nr. 5, S. 10 f.; Herzog, in: FS Fischer, 2018, S. 351 [357]; dagegen mit anderem Ansatz Franzke, BRJ 2019, 114 [119 f.]; Denzel/Kramer da Fonseca Calixto, KriPoZ 2019, 347 [353]). Die Täuschung wirkt sich erst auf anderer Ebene dahin aus, dass die geschädigte Person die von ihr missbilligte sexuelle Handlung geschehen lässt, da sie ihren Bedeutungsgehalt und den Verstoß gegen ihren – ersichtlich fortdauernden – entgegenstehenden Willen nicht erkennt. Dies stellt indes für sich genommen keine Einwilligung in die konkrete sexuelle Handlung, den ungeschützten Geschlechtsverkehr, dar.
16 c) Ein Rückgriff auf den Tatbestand des § 177 Abs. 2 Nr. 3 StGB, der sexuelle Handlungen unter Ausnutzung eines Überraschungsmoments unter Strafe stellt, scheidet aus, wenn die Tatbestandvoraussetzungen des § 177 Abs. 1 StGB erfüllt sind. Dieser sanktioniert nach der Konzeption der Neufassung sexuelle Handlungen, mit denen sich der Täter über einen erkennbaren, entgegenstehenden Willen des Opfers hinwegsetzt, wohingegen § 177 Abs. 2 StGB Konstellationen erfassen soll, in denen ein entgegenstehender Wille des Opfers nicht erkennbar ist, weil eine entsprechende Äußerung dem Opfer aus den dort genannten Gründen entweder nicht möglich oder nicht zuzumuten ist. Bezogen auf ein– und denselben Zeitpunkt schließen § 177 Abs. 1 StGB und § 177 Abs. 2 Nr. 3 StGB deshalb einander aus, da § 177 Abs. 2 Nr. 3 StGB gerade voraussetzt, dass aufgrund der Überraschung kein entgegenstehender Wille, den § 177 Abs. 1 StGB objektiv erkennbar tatbestandsmäßig erfordert, gebildet und rechtzeitig kundgetan werden kann (BGH, Urt. v. 13.2.2019 – 2 StR 301/18, BGHSt 64, 55 Rn. 32 f. m.w.N.). Dabei braucht ein entgegenstehender Wille nicht ausdrücklich erklärt zu werden. Eine konkludente Äußerung genügt (vgl. BGH, Beschl. v. 21.11.2018 – 1 StR 290/18, NStZ 2019, 717 Rn. 18; BT-Drs. 18/9097, S. 22 f.).
17 d) Nach diesen Maßstäben sind den rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen die Tatbestandsmerkmale des § 177 Abs. 1 StGB zu entnehmen. Die Geschädigte lehnte in der konkreten Situation ungeschützten Vaginalverkehr ab und ging fest davon aus, dass der Angeklagte das sichtbar hervorgeholte Kondom tatsächlich benutze. Dies war für ihn nach den näher dargelegten Umständen erkennbar, zumal es ihm gerade auf den von ihm herbeigeführten falschen Eindruck ankam.
18 e) Es bedarf hier keiner Erörterung, dass grundsätzlich die Verwirklichung des Regelbeispiels nach § 177 Abs. 6 S. 2 Nr. 1 StGB in Betracht kommt (vgl. dazu KG, Beschl. v. 27.7.2020 – [4] 161 Ss 48/20 [58/20], OLGSt StGB, § 177 Nr. 5, S. 17; BayObLG, Beschl. v. 20.8.2021 – 206 StRR 87/21, juris Rn. 39; Hoffmann, NStZ 2019, 16 [17 f.]); denn durch dessen Nichtannahme ist der Angeklagte jedenfalls nicht beschwert.