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Die Spezifität von Konsens im Sexualstrafrecht – zur Strafbarkeit von Stealthing – Anmerkung zu BGH, Beschl. v. 13.12.2022 – 3 StR 372/22

von Ass. iur. Marc Bauer

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I. Einleitung

Der BGH hatte erstmalig über die Revision eines Angeklagten in einem sog. „Stealthing“-Fall zu entscheiden. Nach den Feststellungen des LGDüsseldorf hatte der Angeklagte ohne Kondom vaginalen Geschlechtsverkehr mit einer Frau vollzogen, nachdem er zuvor durch das ostentative Öffnen einer Kondompackung den Eindruck erwecken wollte, er werde ein solches benutzen. Ungeschützter Geschlechtsverkehr wäre für die Frau nicht in Frage gekommen.

Das LG hat die Tat als sexuellen Übergriff (§ 177 Abs. 1 StGB) gewertet und den Angeklagten insgesamt wegen Vergewaltigung, schweren sexuellen Übergriffs und sexuellen Übergriffs zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt und im Übrigen freigesprochen. Das Rechtsmittel hatte lediglich hinsichtlich einer anderen Tat mit der Verfahrensrüge Erfolg. Die Verurteilung wegen sexuellen Übergriffs ließ der BGH bestehen.

Das Stealthing, das der BGH im amtlichen Leitsatz als „gegen den erkennbaren Willen des Sexualpartners heimlich ohne Kondom ausgeführten Geschlechtsverkehr“ definiert, beschäftigt erst seit 2018 die deutsche Rechtswissenschaft.[1] Neben der Frage, ob überhaupt[2] oder etwa nur bei einer Ejakulation[3] im Körper des Opfers ein sexueller Übergriff vorliegt, war insbesondere auch die Anwendung des § 177 Abs. 6 StGB umstritten. Zudem wirft dies unweigerlich auch die Frage nach Weiterungen des Sexualstrafrechts in anderen Fallkonstellationen auf, etwa dem der „Pillenlüge“[4]  oder des Verschweigens bestimmter Erkrankungen. Der Beschluss stellt klar, dass Stealthing auch  ohne  Ejakulation  den Tatbestand  des § 177 Abs. 1 StGB verwirklicht; über die Anwendung des § 177 Abs. 6 StGB war revisionsrechtlich nicht zu entscheiden.

II. Das Phänomen Stealthing

Der soziale Sachverhalt ist recht schnell beschrieben:  Der – als solcher beiderseitig konsentierte – Geschlechtsverkehr soll nach dem Willen der zu penetrierenden Person[5] nur unter Benutzung eines Kondoms stattfinden. Die penetrierende Person dagegen nimmt den Geschlechtsverkehr dann heimlich ohne Kondom vor. Bislang wurde der Begriff häufig darauf verengt, dass das Kondom bereits über-, aber dann vor oder während der Penetration wieder abgestreift wird.[6] Aber auch die Täuschung darüber, dass das Kondom überhaupt erst angelegt wird, fällt hierunter.[7] Dem wurde auch der Fall gleichgestellt, dass das Kondom vor der Benutzung durch den Mann von seiner Sexualpartnerin perforiert wurde.[8] Im Internet finden sich für potenzielle Täter sogar „Empfehlungen“ zur Tatdurchführung.[9]

In dem vom BGH entschiedenen Fall ging der Tat einvernehmlicher Oralverkehr voraus. Der Angeklagte hatte sodann für die Geschädigte sichtbar eine Kondompackung herausgeholt und diese geöffnet. Subjektiv kam es ihm darauf an, dass die Geschädigte davon ausging, er werde das Kondom auch „beim“[10] (gemeint ist wohl: unmittelbar vor dem) Geschlechtsverkehr überziehen. Dass die Geschädigte ungeschützten Geschlechtsverkehr ablehne, sei für ihn „erkennbar“ gewesen, „zumal es ihm gerade auf den von ihm herbeigeführten falschen Eindruck ankam.“[11] Weitere Angaben zum Vorsatz finden sich nicht, der offenbar lebensnah aus der bewussten Täuschung hergeleitet wird.[12]

Wie bei ungeschütztem Geschlechtsverkehr generell, so besteht auch beim Stealthing das erhöhte Risiko der Übertragung von Geschlechtskrankheiten sowie bei gebärfähigen Personen die Möglichkeit der Schwangerschaft. Nicht zu vernachlässigen ist aber auch die psychische Belastung des Opfers,[13] die sich zum einen aus der häufig drängenden Ungewissheit bis zur Klärung ergibt, ob solche Folgen eingetreten sind, zum anderen auch aus der Demütigungs- und Instrumentalisierungswirkung der Tat folgen kann.[14]

Der Begriff „Stealthing“, der sich im deutschen Sprachraum ohne Pendant durchgesetzt hat, nimmt auf die Heimlichkeit des Vorgehens Bezug.[15]

III. Die rechtliche Bewertung

Obwohl dem 50. StÄG[16] eine intensive Debatte über „Schutzlücken“ vorausging und mit der Reform zahlreiche Tatbestandsausweitungen erfolgten,[17] spielte „Stealthing“ weder unter diesem Begriff noch in der Sache eine Rolle. Insofern handelte es sich jedenfalls für den deutschen Rechtskreis um ein „neues Phänomen“,[18] das ab 2017 medial diskutiert wurde.[19]

Zentral für das neue Sexualstrafrecht ist die sexuelle Selbstbestimmung als Inbegriff der Freiheit jeder Person, Zeitpunkt, Art, Form und Partner sexueller Betätigung nach eigenem Belieben zu entscheiden.[20] Das „Nein-heißt-Nein“-Modell stellt folglich jede sexuelle Handlung gegen den erkennbaren Willen unter Strafe (§ 177 Abs. 1 StGB). Der BGH führt daher zurecht aus, dass der maßgebliche Willen auf die konkrete Handlung bezogen sein muss.[21] So hatte er bereits entschieden, dass das Zufügen von Schmerzen durch Bisse und Schläge während einer Penetration gesondert betrachtet werden muss und sich insoweit auch (nur) ein Teileinverständnis des Opfers ergeben kann.[22]

Ansatzpunkt für die Beurteilung von Stealthing könnte zum anderen der Aspekt der Täuschung sein, der bei der Begriffsbildung im Vordergrund steht.[23] Seit der 1969 erfolgten Aufhebung von § 179 StGB[24], der die Erregung eines Irrtums hinsichtlich des ehelichen Charakters des Beischlafs bestrafte, kennt das deutsche Sexualstrafrecht keine ausdrücklichen Regelungen mehr für Täuschungen. Nach allgemeinen Grundsätzen wirken sich Täuschungen des Rechtsgutsinhabers unterschiedlich je nach Delikt aus, insbesondere je nachdem dessen Willen als tatbestandsausschließendes Einverständnis oder als rechtfertigende Einwilligung verstanden wird.[25] Gesprochen wird auch von der Unterscheidung zwischen einem (bloßen) natürlichen Willen und einem rechtsgeschäftlichen Willen.[26] Entscheidend ist die konkrete gesetzliche Ausgestaltung im Einzelfall.[27] Würde in § 177 Abs. 1 StGB eine Strafbarkeit von Täuschungen hineingelesen, erschiene allerdings § 177 Abs. 2 StGB überflüssig.[28] Es entspricht daher wohl einhelliger Auffassung, dass ein auf Täuschung beruhendes Einverständnis de lege lata nach § 177 Abs. 1 StGB grundsätzlich strafbarkeitsausschließend ist.[29] Eine sexuelle Handlung, die sich der Rechtsgutsträger wünscht und die mit seinem Willen übereinstimmt, beeinträchtigt nicht das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung.[30]

Der BGH stützt sich maßgeblich auf die Eigenständigkeit des ungeschützten Geschlechtsverkehrs und den „qualitative[n] Unterschied“[31] zum Geschlechtsverkehr mit Kondom. Die Begründung fällt knapp aus: er stützt sich schlicht auf die Schwangerschafts- und Krankheitsgefahr, die etablierte Verwendung als Strafzumessungskriterium sowie die Kondompflicht in § 32 Abs. 1 ProstSchG. Die beiden letzten Argumente sind freilich ambivalent. Die Bedeutsamkeit der Kondomnutzung auf Ebene der Strafzumessung kann auch gerade als Indiz dafür herangezogen werden, dass dies keine Frage des Tatbestandes ist.[32] Die ausdrückliche Erfassung der unterlassenen Kondomnutzung als Ordnungswidrigkeit wiederum nährt systematisch Zweifel daran, ob in § 177 Abs. 1 StGB dann ein solcher  Verstoß  hineingelesen  werden  kann.[33]  Freilich sanktioniert § 32 Abs. 1 ProstSchG isoliert die fehlende Kondomnutzung auch bei einvernehmlichen Handlungen und adressiert auch die Prostituierten,[34] während bei Stealthing gerade die Heimlichkeit des Vorgehens entscheidend ist und § 177 StGB die individuelle sexuelle Selbstbestimmung schützt, wohingegen das ProstSchG das übergeordnete Ziel hat, die Prostitution zu regulieren und Sicherheit und Gesundheit der dort Tätigen zu schützen.[35] Mit der Ansicht, es komme auf die Ejakulation für die Strafbarkeit des Stealthing an, setzt sich die Entscheidung noch nicht einmal auseinander.

Der BGH ordnet den Fall nicht der Konstellation des durch Täuschung erlangten Einverständnisses zu: „Der Entscheidung der betroffenen Person, keinen ungeschützten Geschlechtsverkehr zu wollen, liegt grundsätzlich keine Fehlvorstellung zugrunde, wenn der Täter vorspiegelt, diesem Wunsch nachzukommen“.[36] Damit grenzt der BGH eine Täuschung, die zu einem Einverständnis mit dem konkreten Sexualakt führt, von einer Täuschung ab, die – wie hier – lediglich die Durchführung des nicht konsentierten Sexualakts ermöglicht, da das Opfer den Verstoß gegen seinen „entgegenstehenden Willen nicht erkennt.“[37] Anders formuliert: Auf die Frage, ob das Einverständnis möglicherweise fehlerhaft und unwirksam war, kommt es nicht an, sondern auf die ausdrückliche Ablehnung der sexuellen Handlung.[38] In der Sache greift er damit auf die bereits von Herzoggenutzte Argumentation zurück, dass die Kondomentfernung gar nicht als Täuschungshandlung ins Bewusstsein dringe.[39] Wann dagegen nach Auffassung des BGH die Konstellation einer Täuschung anzunehmen ist, wird nicht näher, etwa durch Beispiele, mitgeteilt. Zur offengelassenen Rechtsfrage, wie denn bei solchen „echten“ Täuschungsfällen zu verfahren sei, vermeidet der BGH die Nennung von Quellen.

Schließlich weist der BGH darauf hin, dass auf den gleichen Zeitraum bezogen nicht gleichzeitig ein Fall des § 177 Abs. 1 StGB – Handeln gegen den erkennbaren Willen – und des § 177 Abs. 2 Nr. 3 StGB – Ausnutzung eines Überraschungsmoments – vorliegen kann.[40] Die Erfüllung des § 177 Abs. 6 StGB wird offen gelassen, da nur der Angeklagte Revision eingelegt hatte.[41] Verwiesen wird hier unter anderem auf Hoffmann, der gegen eine schematische Anwendung argumentiert und es von einer Gesamtschau abhängen lassen will, ob die Regelwirkung des § 177 Abs. 6 Nr. 1 StGB entfällt oder sogar ein minderschwer Fall (nach § 177 Abs. 9 StGB) vorliegen soll,[42] sowie auf das BayObLG, das ebenfalls in diese Richtung neigt,[43] sowie auf die eher unergiebigen Ausführungen des KG.[44]

IV. Ausblick

Die recht kurze Entscheidung des BGH beendet für die Praxis  eine  Streitfrage, über  deren  Lösung  im  Ergebnis bereits weitgehend Einigkeit herrschte, die aber zu abweichenden Begründungsansätzen geführt hatte.[45] Die vom KG[46] vorgenommene Einschränkung auf die im dortigen Fall gegebene Ejakulation im Körper des Opfers hatte keinen Widerhall gefunden und ist weder unter dem Aspekt der Gesundheitsgefahr noch dem der Verletzung der sexuellen Selbstbestimmung geeignet, mehr als allenfalls ein Kriterium der Strafzumessung zu sein.[47]

Die Spezifität von Konsens im Sexualstrafrecht könnte künftig in Grenzfällen stärker im Mittelpunkt von Verfahren stehen. Wenn es an expliziten Absprachen zu bestimmten Sexualpraktiken im Vorfeld fehlt, stellt sich die Beweiswürdigung als herausfordernd dar, insbesondere wenn die Erkennbarkeit eines generell vorhandenen, aber nicht explizit geäußerten (Wider-)Willens zu beurteilen ist.[48] Dynamik und Vielschichtigkeit sexueller Interaktion erschweren auch die Feststellung etwaiger zeitlicher Zäsuren.[49]  Aber auch wenn ein entsprechend differenzierter Wille des Opfers festzustellen ist, stellen sich Probleme auf der Ebene des Vorsatzes. Erkennbarkeit reicht nämlich gerade nicht.[50] Zum objektiven Tatbestand gehört auch der innere ablehnenden Wille, auf den sich der Vorsatz beziehen muss.[51] Ob und inwiefern aus einem „einheitliche[n] Geschlechtsverkehr“[52] voneinander zu unterscheidende sexuelle Handlungen werden, kann nur aufgrund des erkennbaren Willens der Beteiligten, aufgrund der Spezifität ihres Konsenses, im Einzelfall entschieden werden. Kommunikation über Wünsche und Grenzen kommt damit im Sexualstrafrecht entscheidende Bedeutung zu und reflektiert somit auch einen gesellschaftlichen Wandel von einer mitunter einseitigen Durchsetzung sexueller Bedürfnisse hin zu einem Modell gleichberechtigter Sexualität.

Die Spezifität von Konsens betrifft nicht nur die Abgrenzung von Vaginal- und Analverkehr, oder die Tiefe der Penetration bei Oralverkehr,[53]sondern auch etwaige Stellungswechsel.[54] Auch der bis zur Ejakulation vollzogene vaginale[55] Geschlechtsverkehr ist strafbar, wenn gerade ein Coitus interruptus vereinbart war.[56] Erforderlich ist allerdings, dass die Abweichung vom konsentierten Geschehen auch selbst eine sexuelle Handlung im Sinne des § 184h Nr. 1 StGB betrifft. Daher wird man nicht-sexuelle Nebenhandlungen wie das Filmen des Sexualaktes nicht nach § 177 StGB erfassen können. [57] Dagegen spricht systematisch auch die Eigenständigkeit der §§ 184b 184c, 184k, 201a StGB. Diffizil – zumindest auf Ebene des Vorsatzes – sind Fälle, in denen unklar ist, ob sich ein Widerwille allein auf das (weitere) Filmen bezieht oder der Abbruch (auch) der sexuellen Handlung verlangt wird.[58]

Stößt man die Tür zur Strafbarkeit von Täuschungen im Sexualstrafrecht auf, ergeben sich mannigfaltige Weiterungen des Sexualstrafrechts. Dem Einverständnis in ungeschützten Geschlechtsverkehr mögen Fehlvorstellungen darüber zugrunde liegen, ob der Sexualpartner sich kürzlich auf Geschlechtskrankheiten testen ließ[59] oder zumindest wahrheitsgemäß die Kenntnis einer Infektion bestreitet;[60] ob einer der Partner zeugungs- oder gebärfähig ist oder ein Verhütungsmittel wie die Antibabypille oder die Spirale verwendet;[61] je nach Beziehungskonstellation auch, ob der Partner auch andere Sexualkontakte hat oder wie zahlreich oder risikoreich diese sind. Wenn der BGH betont, dass das Rechtsgut des § 177 StGB weiterhin (allein) die sexuelle Selbstbestimmung bleibe[62], dürften diese Fälle auch in Zukunft allenfalls als Körperverletzungsdelikte verfolgt werden.[63] Denn er stellt auf die qualitative Veränderung der sexuellen Handlung durch die Kondomnutzung ab, nicht auf „Schutzzusagen für den Körper“.[64] Weitergehende Konsequenzen etwa bei der Verwendung spermizider Mittel[65] oder auch bei der Strafbarkeit von HIV-Positiven (oder Corona-Positiven?) bei ungeschütztem Geschlechtsverkehr sind mit diese Begründung nicht zu erwarten.[66]

Erst recht straflos bleiben folglich all jene – in unendlicher Vielfalt denkbaren – Täuschungen, denen selbst dieser Gesundheitsaspekt fehlt, etwa über die Identität[67] oder über persönliche Eigenschaften wie Einkommensverhältnisse, Beruf oder auch ethnische oder religiöse Zugehörigkeit,[68]wobei hier auch Wertungskonflikte mit dem Antidiskriminierungsrecht drohen.[69] Auch künftige Erwartungen, die Motiv für den Sexualkontakt sind, wie Heiratsabsicht, scheiden aus.[70]

Dass der BGH diese Tür nicht öffnet, ist begrüßenswert, drohten doch „bizarre“ [71] Ergebnisse von uferloser Weite.

Freilich schlägt er die Tür auch nicht für immer zu, sodass Täuschungen im Sexualstrafrecht auch weiterhin Gegenstand der Diskussion – auch de lege lata – sein dürften.

Der Beschluss wirft auch neues Licht auf die Frage des gleichsam umgekehrten Stealthings, in dem entgegen dem Wunsch des zu penetrierenden Sexualpartners – der beispielsweise einen Kinderwunsch geäußert hat und den konkreten Geschlechtsverkehr nur zu diesem Zwecke vornimmt – das Kondom heimlich doch übergestreift wird. Da der BGH den qualitativen Unterschied von geschütztem und ungeschütztem Geschlechtsverkehr festgestellt hat, ließe sich eine Straflosigkeit wohl nur unter dem Aspekt annehmen, dass es in der umgekehrten Situation an objektiv erschwerenden, risikoerhöhenden Umständen mangelt, sodass nach Sinn und Zweck hier keine Strafbarkeit anzunehmen ist.[72] Aufgrund des strikt auf das Individuum bezogenen Verständnisses von sexueller Selbstbestimmung[73] begegnet dieser Ansatz aber Bedenken. Die Spezifität von Konsens darf nicht durch eine normative – gar moralisierende – Korrektur unterlaufen werden.[74] Es gibt keinen Standard für sexuelle Interaktionen.[75] Dies insbesondere vor dem zu erwartenden Verteidigungsverhalten, dass dann jede Abweichung des tatsächlichen von dem konsentierten Geschehen unter dem Aspekt der Bagatellhaftigkeit thematisieren wird. Dann stünde der Grundsatz „Nein heißt Nein“ doch wieder zur Disposition, was der klaren Konzeption des Gesetzes widerspräche.

§ 177 Abs. 6 StGB hat aus § 177 Abs. 2 StGB a.F. sowohl die Regelbeispielstechnik als auch die Mindeststrafe von Freiheitsstrafe nicht unter zwei Jahren übernommen. Dabei ist zu beachten, dass unter den Begriff der Vergewaltigung nunmehr auch Handlungen ohne Körperkontakt fallen und auch Nötigungen ohne qualifiziertes Nötigungsmittel sowie Handlungen ohne Nötigungskomponente erfasst werden. Daher bestand in der Reformkommission zum Sexualstrafrecht „weitestgehend Einigkeit“, dass der übernommene Strafrahmen zu hoch sei.[76] Diskutiert wird freilich auch umgekehrt die Einstufung als Qualifikation.[77] In der Praxis wird die Regelwirkung insbesondere bei Abwesenheit von Nötigungselementen verneint,[78] was freilich auf eine Korrektur der gesetzgeberischen Grundkonzeption hinausläuft.[79] Auch beim Stealthing wurde in der Rspr. die Regelwirkung verneint.[80] Aufgrund der gebotenen Gesamtabwägung, ob die Tat im Ergebnis in ihrem Unrechts- und Schuldgehalt so sehr von dem typischen, erfahrungsgemäß vorkommenden und vom Gesetzgeber bei der Bestimmung des erhöhten Strafrahmens zugrunde gelegten Tatbild des Regelbeispiels abweicht,[81] erscheint es fraglich, ob überhaupt eine endgültige  Klärung  für  alle  Stealthing-Fälle  durch  den BGH erfolgen kann. Denkbar ist aber die Klärung der Rechtsfrage, ob die Erwägung, dass der Geschlechtsverkehr als solcher konsentiert ist,[82] ein zulässiger Gesichts-punkt für eine Verneinung der Regelwirkung ist.[83] Bis zu einer solchen Entscheidung ist eine Erörterung durch die Instanzgerichte aber schon deshalb angezeigt, weil sonst ein Urteil mit der Begründung angefochten werden könnte, die mögliche Kontraindikation des Regelbeispiels dränge sich auf.[84]

Der Beschluss des BGH bedeutet daher eine Klärung auf tatbestandlicher Ebene, lässt aber weitere Diskussionen auf der Rechtsfolgenebene erwarten.

 

[1]      Die erste dezidierte Darstellung findet sich bei Herzog, in: FS Fischer, 2018, S. 351 ff.
[2]      Gegen eine Strafbarkeit nach § 177 StGB siehe AG Kiel, StV 2021, 311; Franzke, BJR 2019, 114; Heger, in: Lackner/Kühl, StGB, 29. Aufl. (2018), § 177 Rn. 5. KG, Beschl. v. 27.7.2020 – 4 SS 58/20, BeckRS 2020, 18243 Rn. 21 nennt Hegers damalige Stellungnahme unentschlossen, während er selbst (Heger, in: Lackner/Kühl/Heger, StGB, 30. Aufl. (2023), § 177 Rn. 5a) die damalige Position als gegen die Strafbarkeit streitend kennzeichnet.
[3]      Hierauf hatte sich das KG, Beschl. v. 27.7.2020 – 4 SS 58/20, BeckRS 2020, 18243 Rn. 16 gestützt und die Strafbarkeit im Übrigen offengelassen.
[4]      Also im Duktus des BGH der gegen den erkennbaren Willen des Sexualpartners heimlich ohne Einnahme der Antibabypille ausgeführte Geschlechtsverkehr; für den Begriff siehe nur Hoffmann, NStZ 2019, 16 (17).
[5]      Auch wenn im öffentlichen Diskurs zumeist Frauen im Fokus stehen, ist Stealthing auch bei männlichen Tatopfern denkbar.
[6]      Vgl. OLG Schleswig, NStZ 2021, 619 Rn. 10; Wißner, KriPoZ 2021, 279; Makepeace, KriPoZ 2021, 10; Ost/Weil, jM 2021, 346 (357).
[7]      Keßler, Sexuelle Täuschungen – Strafbarkeit und Strafwürdigkeit nach deutschem Sexualstrafrecht, 2021, S. 337.
[8]      AG Bielefeld, Urt. v. 2.5.2022, Az. 10 Ls – 566 Js 962/21 – 476/21.
[9]      KG, Beschl. v. 27.7.2020 – 4 SS 58/20, BeckRS 2020, 18243 Rn. 41; Makepeace, KriPoZ 2021, 10.
[10]    BGH, Beschl. v. 13.12.2022 – 3 StR 372/22 Rn. 11.
[11]    BGH, Beschl. v. 13.12.2022 – 3 StR 372/22 Rn. 17.
[12]    Für die Schlussfolgerung, dass die heimlich-manipulative Vorgehensweise den Vorsatz bezüglich des entgegenstehenden Willens ohne weiteres trage, siehe bereits Herzog, in: FS Fischer, S. 357.
[13]    Vgl. die Schilderung der psychischen Folgen für das Tatopfer durch das KG, Beschl. v. 27.7.2020 – 4 SS 58/20, BeckRS 2020, 18243 Rn. 2.
[14]    Herzog, in: FS Fischer, S. 351 (353). KG, Beschl. v. 27.7.2020 – 4 SS 58/20, BeckRS 2020, 18243 Rn. 16.
[15]    Das Cambride Dictionary definiert „stealth“ als „a secret manner of acting“, https://dictionary.cambridge.org/dictionary/english-german/stealth (zuletzt abgerufen am 3.3.2023).
[16]    Fünfzigstes Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuches – Verbesserung des Schutzes der sexuellen Selbstbestimmung vom 4.11.2016 (BGBl. I S. 2460).
[17]    Siehe etwa die Aufzählung der ausgemachten Schutzlücken bei El-Ghazi, ZIS 2017, 157 (158).
[18]    Dies verneinend Lederer, in: Leipold/Tsambikakis/Zöller, AnwKom.-StGB, 3. Aufl. (2020), Vorb. zu §§ 174 ff. Rn 5.
[19]    Herzog, in: FS Fischer, S. 351
[20]    Fischer, StGB, 70. Aufl. (2023), § 177 Rn. 2; KG, Beschl. v. 27.7.2020 – 4 SS 58/20, BeckRS 2020, 18243 Rn. 13; OLG Hamm, NStZ-RR 2022, 276 (277);
[21]    BGH, Beschl. v. 13.12.2022 – 3 StR 372/22 Rn. 13.
[22]    BGH, NStZ 2019, 407.
[23]    Umfassend hierzu Keßler, passim.
[24]    Durch Art. 1 Nr. 55 des Ersten Gesetzes zur Reform des Strafrechts vom 25.6.1969 (BGBl. I., S. 645).
[25]    Siehe nur Schlehofer, MüKo-StGB, 4. Aufl. (2020), Vorb. zu § 32, Rn. 144 ff.
[26]    OLG Schleswig, NStZ 2021, 619 (620).
[27]    El-Ghazi, ZIS 2017, 157 (162).
[28]    Hoven/Weigend, KriPoZ 2018, 156 (157). OLG Schleswig, NStZ 2021, 619 (621).
[29]    Fischer, StGB, § 177 Rn. 2a; Frommel, in: NK-StGB, 5. Aufl. (2017), § 177 Rn. 124; Heger, in: Lackner/Kühl/Heger, StGB, § 177 Rn. 5a; Renzikowski, in: MüKo-StGB, 4. Aufl. (2021), Vorb. zu § 174 Rn. 11; Hoven/Weigend, KriPoZ 2018, 156 (157); El-Ghazi, StV 2021, 314 (317); ders., ZIS 2017, 157 (166); Denzel/Kramer da Fonseca Calixto, KriPoZ 2019, 347; OLG Schleswig, NStZ 2021, 619 (621). A.A. Vavra, ZIS 2018, 611.
[30]    El-Ghazi, ZIS 2017, 157 (162).
[31]    BGH, Beschl. v. 13.12.2022 – 3 StR 372/22 Rn. 14.
[32]    So auch die Argumentation der Verteidigung in KG, Beschl. v. 27.7.2020 – 4 SS 58/20, BeckRS 2020, 18243 Rn. 22.
[33]    So Heger, in: Lackner/Kühl/Heger, StGB, § 177 Rn. 5a.
[34]    Auch wenn die Bußgeldbewehrung nur die Kunden erfasst, § 33 Abs. 1 Nr. 1 ProstSchG.[35]    Siehe etwa Lutz, in: Erbs/Kohlhaas, Strafrechtliche Nebengesetze, Stand: 243. EL (August 2022), ProstSchG, Vorb. Rn. 2.
[36]    BGH, Beschl. v. 13.12.2022 – 3 StR 372/22 Rn. 15.
[37]    BGH, Beschl. v. 13.12.2022 – 3 StR 372/22 Rn. 15.
[38]    Hoven, NStZ 2020, 578 (581).
[39]    Herzog, in: FS Fischer, S. 351 (357). Ähnlich KG, Beschl. v. 27.7.2020 – 4 SS 58/20, BeckRS 2020, 18243 Rn. 13. OLG Schleswig, NStZ 2021, 619 Rn. 25.
[40]    BGH, Beschl. v. 13.12.2022 – 3 StR 372/22 Rn. 16.
[41]    BGH, Beschl. v. 13.12.2022 – 3 StR 372/22 Rn. 18.
[42]    Hoffmann, NStZ 2019, 16 (17 f.).
[43]    BayObLG, Beschl. v. 20.8.2021 – 206 StRR 87/21BeckRS 2021, 31633 Rn. 40.
[44]    KG, Beschl. v. 27.7.2020 – 4 SS 58/20, BeckRS 2020, 18243 Rn. 41.
[45]    Hierauf hinweisend Hoven, NStZ 2020, 578 (580).
[46]    KG, Beschl. v. 27.7.2020 – 4 SS 58/20, BeckRS 2020, 18243 Rn. 16.
[47]    Ablehnend auch OLG Schleswig, NStZ 2021, 619 Rn. 34; Keßler, S. 342.
[48]    Auf die Beweisschwierigkeiten in einem Fall des Coitus interruptus ausdrücklich hinweisend OLG Hamm, NStZ-RR 2022, 276 (277).
[49]    El-Ghazi, StV 2021, 314 (315).
[50]    Fischer, StGB, § 177 Rn. 17.
[51]    Mitsch, KriPoZ 2018, 334 (337); Fischer, StGB, § 177 Rn. 17.
[52]    KG, Beschl. v. 27.7.2020 – 4 SS 58/20, BeckRS 2020, 18243 Rn. 39.
[53]    Makepeace, KriPoZ 2021, 10 (13).
[54]    Siehe KG, Beschl. v. 27.7.2020 – 4 SS 58/20, BeckRS 2020, 18243 Rn. 41.
[55]    Für eine Strafbarkeit bei abredewidriger Ejakulation in Körperöffnungen generell Keßler, S. 347.
[56]    OLG Hamm, NStZ-RR 2022, 276. Siehe allerdings auch OLG Schleswig, NStZ 2021, 619 Rn. 34, wonach es sich bei der Ejakulation „vor allem um eine biologisch begründete, konkret nicht mehr gewillkürte Körperreaktion“ handele.
[57]    Gegen eine Strafbarkeit auch Keßler, S. 370 ff.
[58]    Dazu Keßler, S. 371 f.; Mitsch, KriPoZ 2018, 334 (337).
[59]    Gegen eine Strafbarkeit El-Ghazi, StV 2021, 314 (317).
[60]    Strafbarkeit nach § 177 StGB verneinend Keßler, S. 362.
[61]    Grziwotz, NJW 2022, 3255 (3255 f.) weist hier – allerdings ohne Quellen – zumindest für die Frau auf eine herrschende Meinung hin, welche Absprachen über Verhütungsmethoden für nicht bindend halte.
[62]    BGH, Beschl. v. 13.12.2022 – 3 StR 372/22 Rn. 14.
[63]    Hoven/Weigend, KriPoZ 2018, 156 (159). Zu den Auswirkungen der Covid-19-Pandemie siehe Pörner, JuS 2020, 498. Siehe auch Franzke, BJR 2019, 114 (122), der u.a. wegen des Rückgriffs auf Körperverletzungsdelikte keine rechtspolitische Notwendigkeit der Erfassung von Stealthing als Sexualdelikt sieht.
[64]    So aber der Ansatz von Fischer, StGB, § 177 Rn. 2c.
[65]    So aber Grziwotz, NJW 2022, 3255 (3256); Fischer, StGB, § 177 Rn. 2d.
[66]    Auf diese mögliche Konsequenz aber (kritisch) hinweisend Fischer, StGB, § 177 Rn. 2e.
[67]    Dies war eine der möglichen Konstellationen des § 179 StGB a.F.; für Strafbarkeit de lege ferenda aber Hoven/Weigend, KriPoZ 2018, 156 (161).
[68]    Zu einer Verurteilung nach israelischem Strafrecht in einem solchen Fall Hoven/Weigend, KriPoZ 2018, 157 (158).
[69]    Denzel/Kramer da Fonseca Calixto, KriPoZ 2019, 347 (350).
[70]    Renzikowski, in: MüKo-StGB, § 177 Rn. 52.
[71]    Denzel/Kramer da Fonseca Calixto, KriPoZ 2019, 347 (350).
[72]    Hoffmann, NStZ 2019, 16 (17) möchte das normative Korrektiv in einer konsequenten Anwendung des § 184h Nr. 1 StGB sehen, den er als Ausprägung des Verhältnismäßigkeitsprinzips kennzeichnet.
[73]    Zu § 177 StGB als „individualistische Norm“ Keßler, S. 374.
[74]    So auch Keßler, S. 343 f.
[75]    El-Ghazi, StV 2021, 314 (315).
[76]    Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz (BMJV), Abschlussbericht der Reformkommission zum Sexualstrafrecht, 2017, S. 68.
[77]    Siehe dazu aus dem Blickwinkel des Verjährungsrechts Hoven, ZRP 2022, 118 (119).
[78]    LG Bamberg, Urt. v. 7.12.2017 – 33 KLs 1105 Js 520/17BeckRS 2017, 143429, das sogar den Rückgriff auf § 177 Abs. 9 StGB vornimmt.
[79]    Kritisch daher Linoh, jurisPR-StrafR 11/2019 Anm. 5.
[80]    AG Tiergarten, Urt. v. 11.12.2018 – 284 Js 118/18 (14/18), BeckRS 2018, 47070; AG Freiburg, Urt. v. 22.7.2020 – 25 Ds 230 Js 23725/18, BeckRS 2020, 41446; jeweils den Rückgriff auf 177 Abs. 9 StGB aber verneinend.
[81]    AG Tiergarten, Urt. v. 11.12.2018 – 284 Js 118/18 (14/18), BeckRS 2018, 47070 Rn. 42. Allgemein zur Verneinung der Regelwirkung Fischer, StGB, § 177 Rn. 141 f.
[82]    Siehe zu diesem Argument AG Tiergarten, Urt. v. 11.12.2018 – 284 Js 118/18 (14/18), BeckRS 2018, 47070 Rn. 41.
[83]    Für eine Behandlung als Vergewaltigung nachdrücklich Makepeace, KriPoZ 2021, 10 (14). Gegen einen pauschalen Entfall der Regelwirkung auch Linoh, jurisPR-StrafR 15/2021 Anm. 3. Für einen Entfall dagegen tendenziell Wißner, KriPoZ 2021, 279 (286); Thürmann, jurisPR-StrafR 25/2020 Anm. 3;
[84]    So Hoffmann, NStZ 2019, 16 (18).

 

 

 

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