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Zur Strafbarkeit von Aufnahmeritualen bei Spezialeinheiten mit nicht lebensgefährlichen beziehungsweise nicht schweren Verletzungsfolgen am aktuellen Fallbeispiel „Mobiles Einsatzkommando (MEK) Leipzig“

von Marius Luciano, L.L.M.

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Abstract
Der Autor beleuchtet ausgehend von einem aktuellen Ermittlungsverfahren zu einem sogenannten Aufnahmeritual bei einer polizeilichen Spezialeinheit aus Sachsen die strafrechtliche Einordnung solcher Rituale, die mit nicht erheblichen Verletzungsrisiken für die Teilnehmer einhergehen. Im Kern geht es bei diesen Konstellationen spätestens mit Eintritt eines Verletzungserfolgs um die Rechtsfrage nach einer rechtfertigenden Einwilligung in die Körperverletzung. Insoweit soll untersucht werden, ob im Einzelfall einzig die objektive Gefährlichkeit einer solchen Handlung rechtsgutsbezogen die Sittenwidrigkeit begründen kann, oder, ob in solchen Fällen hilfsweise die Menschenwürde als Sittenwidrigkeitsgrenze bei § 228 StGB herangezogen werden darf, sofern man denn im Einzelfall von einer Freiwilligkeit der Einwilligung im Rahmen einer etwaigen Gruppendynamik ausgehen kann.

Based on a current criminal investigation into an initiation ritual at a special police force in Saxony, the author examines if the performance of such rituals which are not associated with significant risks of injury for the participants can be classified as a criminal offence. In essence, these constellations involve the legal question of justifiable consent to bodily harm at the latest when an injury occurs. In this respect, it will be examined whether, in individual cases, only the objective dangerousness of such an act can justify the violation of public policy in relation to the legal interest, or whether, in such cases, human dignity may alternatively be used as the threshold relating to the violation of public policy in regards to Section 228 StGB, provided that it can be assumed in individual cases that consent is voluntary in the context of any group dynamics.

I. Einleitende Ausführungen

1. Fallbeispiel „MEK Leipzig“ (Mobiles Einsatzkommando)

Das eingangs erwähnte Ermittlungsverfahren aus Sachsen, das Anlass für diese Untersuchung ist, wird von der Generalstaatsanwaltschaft Dresden gegen insgesamt 25 Beschuldigte geführt, wovon die meisten Beschuldigten Mitglieder des Mobilen Einsatzkommandos (MEK) Leipzig sind.

Der dabei im Raum stehende Tatvorwurf lautet nach einer Pressemitteilung der Generalstaatsanwaltschaft Dresden insbesondere auf gefährliche Körperverletzung im Amt sowie Diebstahl mit Waffen beziehungsweise Beihilfe zu diesen Taten. So sollen Mitglieder des besagten Kommandos im Dezember 2020 im Wege eines von der Generalstaatsanwaltschaft sog. Aufnahmerituals und auf Weisung eines Gruppenführers sowie mit Billigung eines ebenfalls anwesenden Kommandoführers mehrere Schüsse aus polizeilichen Übungswaffen mit nicht tödlicher sog. „Simunition“ auf zwei neue Kommandomitglieder abgegeben haben. Bei dieser Veranstaltung sei dann eines der beiden Neumitglieder mehrfach getroffen worden und habe Hämatome erlitten, die vor Ort von einer ebenfalls beschuldigten Polizeiärztin versorgt worden sein sollen.[1]

2. Das Wesen von Spezialeinheiten

Bevor sich der strafrechtlichen Betrachtung des obigen Sachverhalts beziehungsweise vergleichbarer Sachverhalte zugewandt wird, soll zunächst ein kurzer Exkurs das Wesen von Spezialeinheiten und ihrer Mitglieder skizzenhaft näherbringen, wie es sich aus polizeilichen Quellen erschließt.

Polizeivollzugsbeamte in Spezialeinheiten, wie zum Beispiel MEK, SEK sowie GSG9 sehen sich in ihrem Tätigkeitsbereich als Elite im Vergleichsfeld der Polizeivollzugsbeamten insgesamt. Dieses Selbstverständnis wird bereits ausdrücklich in den behördlichen Erläuterungen zu diesem Thema manifestiert. Exemplarisch heißt es so zum Beispiel in Nordrhein-Westfalen, dass Spezialeinheiten zur professionellen Bewältigung schwierigster Konfliktlagen oder zur Festnahme bewaffneter oder besonders gewaltbereiter Straftäter eingesetzt werden, wenn unter anderem für Zugriffs- und Schutzmaßnahmen speziell für diese Aufgaben geschulte und ausgestattete Einsatzkräfte erforderlich sein sollten.[2] Und auch bei der Bundespolizei ist bei der Bewerbung zur GSG9 vom „nächsten Schritt“ für den Beamten die Rede, mit dem die Bereitschaft verbunden sei, sich der Herausforderung dieser Ausbildung zu stellen.[3] Das gilt ebenso für das hier exemplarisch im Fokus stehende MEK Leipzig, das in Sachsen laut Polizei unter anderem „zur Bekämpfung von Straftaten der Schwerstkriminalität eingesetzt“ werde sowie „bei Durchsuchungen und Festnahmen von gefährlichen Verbrechern“.[4]

All das verdeutlicht, dass die Mitglieder von Spezialeinheiten im Einsatz lebensgefährlichen Situationen ausgesetzt sein können, sodass – neben minutiös einstudierten praktischen Abläufen – ein hohes Maß an wechselseitigem Vertrauen im Einsatzfall gegeben sein muss. Zweifelsfrei sind daher unter anderem Teambuilding-Maßnahmen innerhalb der Einheit wichtig, wie man Aufnahme- oder Gruppenrituale dem Grunde nach und losgelöst vom vorliegenden Einzelfall auch nennen könnte. Die Rechtsfrage ist jedoch unabhängig von der Bezeichnung solcher Maßnahmen, ab wann diese – auch vor dem Hintergrund der herausfordernden Aufgaben von Spezialeinheiten – nicht mehr nur die Gemeinschaft stärkend, sondern vielmehr sogar mit Blick auf den einzelnen Beamten strafbar, oder aber zumindest dienstpflichtwidrig und daher mit dem Beamtenstatusgesetz unvereinbar.

3. Rechtsprechung zu sog. Aufnahmeritualen bei der Polizei

Für deutsche Spezialeinheiten der Polizei sind gerichtliche und damit öffentlichkeitswirksame Aufarbeitungen von sog. Aufnahmeritualen die Ausnahme. Speziell strafrechtliche Verurteilungen konnten insoweit gar nicht ermittelt werden.

Erwähnenswert sind hier aber zumindest Aufnahmerituale bei einem SEK aus dem Jahr 2015 in Nordrhein-Westfalen. Die von der zuständigen Generalstaatsanwaltschaft als straffrei beurteilten Sachverhalte fanden Eingang in die jeweiligen Einstellungsverfügungen gemäß § 170 Abs. 2 StPO, die wiederum im Nachgang Eingang in Entscheidungen des VG Düsseldorf über dienstrechtliche Sanktionen gefunden haben, sodass die Verfügungen öffentlich geworden sind und vorliegend wörtlich zitiert werden können:

„Die Zeugen sollten jeweils auf dem Boden vor einem sitzenden Kommandomitglied kniend ein aus einer Tsatsiki-Knoblauch-Chili-Mischung hergestelltes Eis essen, welches ekelerregend schmeckte und das sich zwischen den Oberschenkeln eines der Kommandomitglieder befand (wobei nicht geklärt werden konnte, ob das Eis im Bereich der Knie gehalten [so der Zeuge F.] oder des Schritts geklemmt [so der Zeuge T.]  war. Der Zeuge F. übergab sich beim Versuch Eis zu essen.“[5]

„In der ersten Nacht wurden die Zeugen F. und T. von zwei der Beschuldigten aufgefordert, sich vor dem Schlafengehen mit Handfesseln an die Kiste zu ketten. Dieser Aufforderung kamen die Zeugen nach. Da die Sicherungsknöpfe an den Handfesseln nicht gedrückt wurden, konnten sich die Zeugen für das Schlafen die Handfesseln abnehmen. Einer der Zeugen schlief im Bett, der andere auf dem Boden des Hotelzimmers. Die Zimmertür hatten die Zeugen von innen versperrt.“[6]

Vorstehende Sachverhalte veranschaulichen somit, welche Verhaltensweisen bei sog. Aufnahmeritualen jedenfalls in Nordrhein-Westfalen Mitte der 2010er Jahre als dienst-, aber nicht strafrechtlich zu sanktionieren erachtet worden sind, was vorliegend zumindest ein Anhaltspunkt ist, was von einer Einwilligung gemäß § 228 StGB im Rahmen sog. Aufnahmerituale noch wirksam erfasst wird.

II. Strafrechtliche Einordnung polizeilicher Aufnahmerituale mit Bezügen zum Fallbeispiel „MEK Leipzig“ vor dem Hintergrund der Sittenwidrigkeit im Sinne von § 228 StGB

Da die Generalstaatsanwaltschaft Dresden mit Blick auf das derzeit aktuelle Fallbeispiel „MEK Leipzig“ laut Pressemitteilung von einem jedenfalls auch strafrechtlich relevanten Aufnahmeritual ausgeht, kündigt sich insoweit teilweise Neuland für die Strafrechtspraxis an. Diesbezüglich stellt sich nämlich mit Blick auf § 228 StGB womöglich erstmals innerhalb einer Hauptverhandlung die Rechtsfrage nach einer rechtfertigenden Einwilligung in eine Körperverletzungshandlung im Rahmen eines polizeilichen Aufnahmerituals, wozu die Grenzen der Sittenwidrigkeit in solchen Fällen zu bestimmen sein werden.

Diese Rechtsfrage soll hier mit Blick auf das Fallbeispiel „MEK Leipzig“ – soweit der Sachverhalt allgemein bekannt ist – sowie allgemein für vergleichbare Handlungen im Kontext polizeilicher Veranstaltungen beantwortet werden.

1. Freiwilligkeit des Rechtsgutsinhabers als Voraussetzung einer jeden Einwilligung in eine Körperverletzungshandlung

Losgelöst vom Einzelfall ist für die rechtfertigende Wirkung einer Einwilligung des Rechtsgutsinhabers in die Verletzung seiner körperlichen Integrität erforderlich, dass diese freiwillig erfolgt. Das bedingt eine freie Entscheidung, also eine Entscheidung frei von Willensmängeln – Drohung, Täuschung, Erklärungsirrtum[7] – seitens einer einsichts- und urteilsfähigen Person.[8] Fehlt es daran und damit an einer Wirksamkeit der Einwilligung, kommt es auf eine etwaige Sittenwidrigkeit der jeweiligen Behandlung schon nicht mehr an.[9] Die Frage wiederum, ob eine Entscheidung frei von solchen Willensmängeln vorliegt, ist anhand der Gesamtumstände des Einzelfalls zu ermitteln, wobei bei der tatrichterlichen Würdigung den Angaben des Rechtsgutsträgers naturgemäß besondere Bedeutung zukommen dürfte.

Betrachtet man von diesem allgemeinen Grundsatz ausgehend das beim Fallbeispiel „MEK Leipzig“ gegenständliche Szenario, im Rahmen dessen laut Pressemitteilung der Generalstaatsanwaltschaft Dresden ein Neumitglied des Kommandos mit einer Übungswaffe beschossen worden sei und Hämatome davongetragen habe, so wirft Windsberger zu diesem konkreten Fallbeispiel die allgemein zu beantwortende Frage auf, wie einvernehmlich „beschämende, bloßstellende Rituale“ sein können, die in einem hierarchischen Machtverhältnis von einem Vorgesetzten angeordnet und durchgeführt werden, dem die untergeordneten Dienstgrade zu gehorchen haben?[10]

Die von Windsberger gewählte Formulierung geht hinsichtlich des Fallbeispiels „MEK Leipzig“ von der Annahme aus, dass das konkrete Szenario eines Beschusses mit Übungsmunition – egal, ob gewollt oder als mögliche Nebenfolge in Kauf genommen – für die in das Kommando aufzunehmenden Beamten „beschämenden“ oder „bloßstellenden“ Charakter gehabt haben soll, was dann, so wohl die Intention der Autorin, niemand ernstlich freiwillig wollen kann.

Die Annahme Windsbergers mag für entsprechend demütigende Behandlungen im Einzelfall zutreffen. Wann jedoch von einem „beschämenden“ oder „bloßstellenden“ Charakter einer Handlung auszugehen ist, ist wiederum eine Frage des Blickwinkels. Beim konkreten Fallbeispiel „MEK Leipzig“ ist diese Unterstellung jedenfalls nicht als auf der Hand liegend zu bezeichnen.

Ruft man sich das eingangs erwähnte Einsatzprofil von Spezialeinheiten in Erinnerung und das Selbstverständnis ihrer Mitglieder, unter anderem eine besondere Einsatzhärte in besonderen Gefahrensituationen aufzuweisen, so ist ein Selbstbild zu unterstellen, dass genau diesen Anforderungen entspricht.

Betrachtet man das Fallbeispiel „MEK Leipzig“ aus diesem Blickwinkel, so könnte man positiv formuliert anhand der Gesamtumstände eher unterstellen, dass die Neumitglieder mit einer solchen Aktion Anerkennung von der Gruppe erfahren sollten, jedenfalls aber keine Bloßstellung. Bloßstellenden oder beschämenden Charakter haben aus guten Gründen nur rein demütigende Aktionen, wie es in den oben geschilderten Fällen bei einem SEK aus NRW im Jahr 2015 der Fall war, als Neumitglieder unter anderem ein zwischen den Beinen eines Kommandomitglieds eingeklemmtes Eis essen mussten, was ganz offensichtlich als sexuelle Demütigung intendiert war.

Unabhängig davon, ob man nun im Einzelfall von einer anerkennenden, bloßstellenden oder schlicht wertungsfreien Intention einer wie auch immer gestalteten Aktion innerhalb einer Gruppe ausgehen wollte, so wäre jedenfalls zu hinterfragen, inwiefern sich der einzelne Beamte in einer solchen Situation, die mutmaßlich stets von einem Vorgesetzten herbeigeführt worden ist, freiwillig für oder gegen eine Teilnahme entscheiden kann.

Nach der Rechtsprechung setzt eine wirksame Einwilligung in eine gefährliche Körperverletzung voraus, dass sie mit vollem Verständnis der Sachlage erteilt worden ist und der Einwilligende namentlich eine zutreffende Vorstellung vom voraussichtlichen Verlauf und den möglichen Folgen des zu erwartenden Angriffs hatte; er muss bei der Herausforderung die nötige Urteilskraft und Gemütsruhe besitzen, um die Tragweite seiner Erklärung zu erkennen und das Für und Wider verständig gegeneinander abzuwägen.[11]

Im Fallbeispiel „MEK Leipzig“ geht es um den Umgang mit polizeilichen Neumitgliedern in einer Spezialeinheit, nachdem sie zuvor die dafür notwendige fachliche Eignung in der Erprobung unter Beweis gestellt hatten. Das bedeutet unter anderem, dass sie als Polizeibeamte mutmaßlich im Umgang mit den fraglichen Übungswaffen und der Wirkungsweise der Übungsmunition auf den Körper vertraut gewesen sein dürften. Ebenso bedeutet das, dass bei einem Polizeibeamten als bekannt unterstellt werden kann, dass solche Waffen gerade deshalb im Einsatztraining verwendet werden, weil mit ihnen eine möglichst lebensnahe Situation simuliert werden kann. Es ist somit anzunehmen, dass die teilnehmenden Beamten vor dem Beschuss in ihre Richtung – unabhängig davon, ob etwaige Treffer erklärtes Ziel der Beteiligten waren – wussten, welche Folgen mit einem Treffer auf den Körper verbunden sein können. Ein anderes Ergebnis wäre an dieser Stelle lebensfern.

Ausgehend von dem unterstellten Umstand, dass die Beteiligten des Fallbeispiels „MEK Leipzig“ die Tragweite ihrer Teilnahme erkannt haben und sich mit den Folgen möglicher Treffer abgefunden haben dürften, beantwortet das wiederum noch nicht die Frage, ob die Teilnahmeentscheidung gleichwohl autonom getroffen worden ist. Auch wenn hier kein demütigendes Szenario unterstellt werden kann, das wiederum eine fehlende Freiwilligkeit indizieren würde, so ist jedenfalls doch noch dem Einwand von Windsberger nachzugehen, dass eine mögliche Körperverletzung von den neuen Kommandomitgliedern unter Umständen nur aufgrund ihrer hierarchischen Position innerhalb der Gruppe als alternativlos erduldet worden sein könnte.

Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass polizeiliche oder militärische Hierarchien Widerspruch grundsätzlich erschweren, was letztlich auch der Funktionsfähigkeit im Einsatz geschuldet sein dürfte. Zudem sind gruppendynamische Prozesse sicherlich ebenfalls ein Faktor, der bei sogenannten Gruppen- oder Aufnahmeritualen Einfluss auf die Teilnehmer haben und diese im Einzelfall bei ihrer Entscheidungsfindung beeinflussen kann. Insoweit ist zu eruieren, ab wann nicht mehr von der Freiwilligkeit der Einwilligung im Sinne von § 228 StGB auszugehen sein soll.

Teile der Literatur gehen davon aus, dass eine Einwilligung aufgrund fehlender Freiwilligkeit erst dann unwirksam zustande gekommen sei, wenn sie auf Zwang, mithin Drohung oder Gewalt, zurückzuführen sein sollte, also die Voraussetzungen einer rechtswidrigen Nötigung erfüllt sein sollten.[12]

An anderer Stelle wird demgegenüber vertreten, dass die Nötigungsqualität nicht zwingend erreicht werden müsse, um eine Verletzung der Entscheidungsfreiheit bejahen zu können.[13]

Da es mit Blick auf den Bestimmtheitsgrundsatz letztendlich einer trennscharfen Handhabung zu dieser Frage bedarf, erscheint die erstgenannte Ansicht vorzugswürdig, da mit dem Erfordernis, dass Zwang im Sinne einer Nötigung auf den Einwilligenden ausgeübt worden sein muss, um dessen Freiwilligkeit bei der Einwilligung zu beseitigen, eine definierbare Grenze für den Rechtsanwender ausgemacht ist. Anhand dieser klar definierbaren Grenze kann gegenüber dem Beschuldigten nachvollziehbar dargelegt werden, warum er sich im Einzelfall nicht auf die rechtfertigende Wirkung einer unter diesen Umständen abgegebenen Einwilligung berufen kann. Zwischentöne unterhalb dieser Grenze verbieten sich nicht zuletzt auch mit Blick auf den Zweifelsgrundsatz.

Überträgt man dieses Ergebnis nun auf das Fallbeispiel „MEK Leipzig“ und das dort im Raum stehende sog. Aufnahmeritual, so drängen sich aus den allgemein bekannten Informationen keine Anzeichen dafür auf, dass Dritte die aufzunehmenden Beamten mit einem empfindlichen Übel oder mit Gewalt im Sinne von § 240 StGB zur Teilnahme genötigt hätten.

Allgemein lässt sich ferner konstatieren, dass ein polizeiliches Hierarchiegefälle, ein etwaiges Missempfinden oder eine wie auch immer zu definierende Gruppendynamik in einer zum Fallbeispiel „MEK Leipzig“ vergleichbaren Situation innerhalb einer Sondereinheit nicht die Freiwilligkeit mit Blick auf § 228 StGB beseitigen können, wenn die Schwelle zur Nötigung noch nicht überschritten worden sein sollte. Das im Einzelfall einmal unterstellte, bloße Einfließen solcher Umstände in den Willensbildungsprozess reichte danach jedenfalls nicht aus.

Dabei ist für die Bewertung des Vorliegens oder Nichtvorliegens der Freiwilligkeit einer wenn auch nur konkludent durch Teilnahme erklärten Einwilligung in ein Gruppen- oder Aufnahmeritual der jeweilige Tatzeitpunkt maßgeblich. Erst später erfolgte Angaben zur Motivation zu einer Teilnahme sind jedenfalls nicht so beweiskräftig, wie das unmittelbare Verhalten der Teilnehmer zum Tatzeitpunkt, da später auch Überlegungen des einzelnen Beamten einfließen könnten, sich innerhalb eines disziplinar- oder strafrechtlichen Verfahrens einen Vorteil zu verschaffen. Was das Fallbeispiel „MEK Leipzig“ anbelangt, so wird sich das Tatgericht für den Fall der Hauptverhandlung hauptsächlich mit den Angaben der wohl beschossenen Beamten zu befassen haben, wenn es um die Ergründung der etwaigen Freiwilligkeit einer Einwilligung in ein sog. Aufnahmeritual geht, das mit einer körperlichen Integrität einhergeht.

2. Der Sittenwidrigkeitsbegriff im Sinne von § 228 StGB

Ausgehend von einer einmal unterstellten Freiwilligkeit ist sich mit Blick auf das Fallbeispiel „MEK Leipzig“ mit der Rechtsfrage zu befassen, ob das konkrete Tatgeschehen mutmaßlich gegen die guten Sitten im Sinne von § 228 StGB verstoßen hat. Dazu ist zunächst zu bestimmen, ab wann allgemein von der Sittenwidrigkeit einer Handlung im Sinne von § 228 StGB auszugehen ist, bevor diese Grundsätze auf das Fallbeispiel „MEK Leipzig“ beziehungsweise auf polizeiliche Aufnahmerituale allgemein übertragen werden können.

a) Status quo innerhalb der Rechtsprechung zur Sittenwidrigkeit im Sinne von § 228 StGB

Für den strafrechtlichen Sittenwidrigkeitsbegriff war im deutschen Strafrecht lange die sogenannte Mensur-Entscheidung[14] prägend, auf die die weit verbreitete Formel zurückgeht, dass sittenwidrig sei, was nach dem „Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden“ strafwürdiges Unrecht ist.[15]

Allerdings ist das „Anstandsgefühl“ nach Schlehofer kein empirisch fassbares Faktum, sondern ein normativer Maßstab, der seinerseits erst bestimmt werden müsste.[16] An diesen Umstand knüpft seit jeher eine in der Literatur geäußerte Kritik an. So hat Wieacker bereits 1961 kritisch geäußert, dass das Verhältnis des Richters zu den sittlichen Werten des Rechts wiederum untrennbar mit der eigenen Moral des Richters verbunden sei, was zu einer überflüssigen „richterlichen Standesethik“ führen könne.[17] Diese Kritik ist überzeugend von Sternberg-Liebenfortgeschrieben worden, der  2004 ausgeführt hat, dass es eine bedenkliche Vermischung der Trennung von Recht und Moral gebe, wenn mit dem sogenannten Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden die Sozialmoral als eine Art „Ersatzgesetzgeber“ herangezogen werde, die wiederum letztlich den Vorstellungen des Rechtsanwenders, sprich des Richters, selbst entspreche.[18] Insoweit sei § 228 StGB letztlich eine unzulässige Bevormundung in Form eines „aufgedrängten Schutzes des Freiverantwortlichen vor sich selbst“.[19] Heger sieht ebenfalls diese Problematik und folgert daraus, dass die „Konturenlosigkeit“ des Merkmals der „guten Sitten“ dazu führen müsse, es strikt auf den Kerngehalt des Rechtsguts der §§ 223 ff. StGB zu beziehen.[20]

Diesem Grundproblem lässt sich ebenfalls nicht die Zwecktheorie entgegenhalten, die eine Einschränkung über § 228 StGB in denjenigen Fällen als geboten erachtet, in denen mit der Körperverletzungshandlung ein sittlich missbilligter Zweck verfolgt werde, was dazu führen würde, dass nicht die körperliche Unversehrtheit als Schutzgut der §§ 223 ff. StGB im Mittelpunkt stehe, sondern etwaige andere Rechtsgüter, die unter Umständen mittelbar berührt werden.[21] Diese Entfernung vom Rechtsgutsschutz führte wiederum zu Abgrenzungsproblemen, insbesondere bei geringfügigen Verletzungen.[22] Insofern wäre auch bei der Zwecktheorie auf die vorstehend als nicht fassbar kritisierten Maßstäbe einer Sozialmoral zurückzugreifen, um die Sittenwidrigkeitsgrenze im Einzelfall zu definieren.

Die vorstehend nur exemplarisch dargestellten Literaturstimmen bringen die Kernproblematik der moralisierenden Formel vom Anstandsgefühl der billig und gerecht Denkenden beziehungsweise der darauf aufbauenden Zwecktheorie auf den Punkt.

Die Rechtsprechung des BGH hat die kritischen und zugleich überzeugenden Literaturstimmen gleichwohl erst in den 2000er Jahren in verschiedenen Entscheidungen berücksichtigt und sich damit nach Grünewald zusammenfassend weitgehend auf die Linie der herrschenden Literaturansicht begeben, sodass von einer Kehrtwendung hin zu einer rechtsgutsbezogenen Interpretation des Sittenverstoßes gesprochen werden könne.[23]

So hat der 2. Strafsenat 2004 unter Bezugnahme auf eine Entscheidung des 3. Strafsenats von 2003[24] klargestellt, dass es für die Sittenwidrigkeit einer Tat im Sinne des § 228 StGB grundsätzlich auf die Art und das Gewicht eines Körperverletzungserfolgs und den Grad einer damit möglicherweise einhergehenden Lebensgefahr ankomme, weil „generalpräventiv-fürsorgliche Eingriffe des Staates in die Dispositionsbefugnis des Rechtsgutsinhabers“ nur im Falle gravierender Verletzungen zu legitimieren seien.[25] Das sei erforderlich, um dem Gebot der Vorhersehbarkeit staatlichen Strafens zu genügen.[26]

Mit der vorstehenden Entscheidungslinie hat der BGH eine rechtsgutsbezogene Definition der Sittenwidrigkeit im Sinne von § 228 StGB geschaffen, die objektivierbar ist. Nach Hardtung bedeute das zusammenfassend für die Prüfung von § 228 StGB, dass geprüft werden müsse, ob die Körperverletzung „wegen des Gewichts des Rechtsgutsangriffs durch Verursachung der Gefahr des Todes oder einer schweren Gesundheitsschädigung“ als „sittenwidrig“ erscheine.[27] Mit diesem Ansatz komme es nach Bock somit auf die Ziele und Beweggründe des Täters nicht mehr an, was eigentlich der gesetzlichen Regelung zuwiderlaufe.[28] Gleichwohl sieht Bock diesen Ansatz im Ergebnis als vorzugswürdig an,[29] was auch von Kühl so bewertet wird, wenngleich er anmerkt, dass man mit der allgemeinen Lebensgefährlichkeit als Einwilligungssperre zwar zum obersten Lebensschützer werde, dies gleichwohl aber ohne Legitimation und gegen den Willen der Betroffenen (Opfer und Täter).[30] Gropp fasst diese Entwicklung zutreffend so zusammen, dass der BGH das Merkmal der Sittenwidrigkeit abgeschafft und es unbewusst sowie sachgerecht durch das Merkmal der Dispositionsbefugnis ersetzt habe.[31] Das überzeugt unter Verweis auf Engländer bereits deshalb, weil schlicht nicht ersichtlich ist, warum irgendwelchen moralischen Anschauungen der „billig und gerecht Denkenden“ Vorrang vor der Freiheit des Einzelnen zur Gestaltung seiner eigenen Rechtssphäre zukommen sollte.[32]

Dem vorstehenden Ansatz der Rechtsprechung, der von der herrschenden Lehre getragen wird,[33] stehen jedoch jüngere Entscheidungen des BGH gegenüber, die bei der Auslegung des Sittenwidrigkeitsbegriffs eine gewisse Abkehr von der rein rechtsgutsbezogenen Herangehensweise erkennen lassen, was wiederum in der Literatur auf Kritik stößt.[34]

Gemeint ist eine Entscheidung des 3. Strafsenats aus dem Jahr 2015 unter Bezugnahme auf eine Entscheidung des 1. Strafsenats (2013),[35] wonach bei Auseinandersetzungen rivalisierender Gruppen im Rahmen verabredeter Schlägereien die solchen Tätlichkeiten innewohnende Eskalationsgefahr zu berücksichtigen sei, wenn es an eingrenzenden Regeln oder an der effektiven Durchsetzbarkeit etwaiger Absprachen fehle. In diesen Fällen verstoßen die Taten trotz der Einwilligung der Verletzten selbst dann gegen die guten Sitten, wenn mit den einzelnen Körperverletzungserfolgen keine konkrete Todesgefahr verbunden gewesen sein sollte.[36]

Zusammenfassend wird mit vorstehender Rechtsprechung § 231 StGB die gesetzliche Wertung entnommen, dass die jeder Schlägerei immanente Eskalationsgefahr die Wirksamkeit der Einwilligung gem. § 228 StGB ausschließe, was nach Bock die oben bereits erwähnte, bevormundende Handhabung des strafrechtlich kaum akzeptablen Sittenwidrigkeitsbegriffs demonstriere.[37] Darüber hinaus wird auch der Ansatzpunkt einer gruppendynamisch bedingten Eskalationsgefahr kritisiert, da eine generell gefahrerhöhende Wirkung gruppendynamischer Prozesse sozialpsychologisch nicht bewiesen sei.[38] Zudem werde das abstrakte Gefährdungsdelikt der Beteiligung an einer Schlägerei, die für sich gesehen schon strafbar ist, vereinnahmt, um wiederum die Sittenwidrigkeit einer Tat nach den §§ 223 ff. StGB zu begründen, was gesetzessystematisch nicht schlüssig sei.[39] Außerdem sei zu beachten, dass § 231 StGB die Belange der Allgemeinheit schütze und schon deshalb nicht als Einwilligungsschranke bei den §§ 223 ff. StGB geeignet sei, mithin den Individualrechtsgutsträger zu sehr einschränke.[40]

Von anderer Seite wird in dieser Rechtsprechung allerdings die Möglichkeit gesehen, dass sich problematische Fälle unter enger Begrenzung des Unwirksamkeitsbereichs der Einwilligung rechtsgutsorientiert lösen ließen.[41]

Letztlich überzeugen hier die Argumente für eine strikt rechtsgutsorientierte Definition der Sittenwidrigkeit, die auf den Grad der Schwere des Körperverletzungserfolgs und eine mögliche Lebensgefahr abstellen. Zudem drängen sich keine problematischen Fälle auf, die man mit einem ungeschriebenen Absatz des § 228 StGB lösen müsste, der gedacht die Sittenwidrigkeit für Fälle von § 231 StGB pauschal fingiert. Gleichwohl zeigt der dargestellte Streitstand mit den Überlegungen aus Literatur und Rechtsprechung, dass eine gesetzgeberische Ausgestaltung von § 228 StGB zum Zwecke der Vorhersehbarkeit strafgerichtlichen Handelns wünschenswert wäre, wollte man künftig rechtspolitisch weiter an der Sittenwidrigkeit im Strafrecht festhalten.

Für polizeiliche Gruppen- oder Aufnahmerituale bedeutet das, dass keine niedrigere Schwelle bei § 228 StGB anzunehmen ist, als aus der streng rechtsgutsbezogenen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs folgt, was am Fallbeispiel „MEK Leipzig“ veranschaulicht werden kann.

b) Fallbeispiel „MEK Leipzig“

Beim Fallbeispiel „MEK Leipzig“ liegt die zu prüfende Tathandlung im Beschuss einzelner Personen mit nichttödlicher „Simunition“ aus Übungswaffen, der zu Hämatomen geführt haben soll. Insoweit geht es um die Frage einer rechtfertigenden Einwilligung in eine gefährliche Körperverletzung, oder, gegebenenfalls in eine einfache Körperverletzung gemäß § 223 StGB. Letzterer Fall wäre anzunehmen, sollten zumindest gewisse Schutzvorkehrungen getroffen worden sein. Denn für eine Waffe oder ein gefährliches Werkzeug im Sinne von § 224 Abs. 1 Nr. 1 StGB fehlte es im Falle von Schutzvorkehrungen an sensiblen Körperstellen an der Geeignetheit zur Verursachung erheblicher Verletzungen. Ebenso ist nur die Anwesenheit oder das Handeln mehrerer Beamter per se nicht geeignet, eine Gefährlichkeit im Sinne von § 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB zu begründen, da nur aus diesem Umstand nicht zwangsläufig eine erhöhte Gefährlichkeit in der konkreten Tatsituation folgt.[42]

aa) Zur Frage der Sittenwidrigkeit nach der aktuellen Rechtsprechung des BGH

Überträgt man auf Grundlage der vorstehenden Annahmen nun die aktuelle, streng rechtsgutsbezogene BGH-Rechtsprechung auf das Fallbeispiel „MEK Leipzig“, so kann jedenfalls aus der pressebekannten Behandlung der Teilnehmer nicht die Gefahr des Todes oder die einer schweren Gesundheitsschädigung gefolgert werden. Insofern kommt es ohnehin nicht darauf an, ob mit Blick auf die generalstaatsanwaltschaftliche Presseerklärung zum Fall von einer gefährlichen oder einer einfachen Körperverletzung auszugehen ist. Ebenso wenig sind Anhaltspunkte ersichtlich, wonach es in dem Fallbeispiel eine gruppendynamische Eskalationsgefahr gegeben hätte, die auf § 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB oder dem Wesen nach auf § 231 StGB hindeuten würde.

Damit wäre selbst unter Berücksichtigung der oben dargestellten BGH-Rechtsprechung zu verabredeten Schlägereien, die für die Sittenwidrigkeit auf eine abstrakte Gefährlichkeit im Sinne von § 231 StGB abstellt, nicht von einer Sittenwidrigkeit beim Fallbeispiel „MEK Leipzig“ auszugehen.

Im Ergebnis wäre somit allgemein bei so genannten Gruppen- oder Aufnahmeritualen im polizeilichen Kontext erst dann von einem Sittenverstoß im Sinne von § 228 StGB auszugehen, wenn die jeweilige Handlung mit einer erheblichen Leibes- oder Lebensgefahr einherginge beziehungsweise je nach Auffassung auch dann, wenn diese mit einer Gefährlichkeit im Sinne des § 231 StGB vergleichbar sein sollte. In allen anderen Fällen wäre, die Freiwilligkeit der jeweiligen Einwilligung vorausgesetzt, eine rechtfertigende Wirkung über § 228 StGB möglich.

bb) Zur Frage der Sittenwidrigkeit unter dem Gesichtspunkt der Menschenwürde

Abweichend von den dargestellten Lösungsansätzen des BGH plädiert jedoch Windsberger 2022 in ihrer Veröffentlichung zum Fallbeispiel „MEK Leipzig“ dafür, die Sittenwidrigkeit der in Rede stehenden Handlungen über eine Verletzung der Menschenwürde herzuleiten, sodass es einer rechtsgutsbezogenen Gefährlichkeit der Handlung nicht bedürfe. Sie sieht beim Fallbeispiel „MEK Leipzig“ die Amtswürde der Polizei im Ganzen in Gefahr, selbst wenn keine schweren Verletzungen eingetreten sein mögen. Eine Bestrafung sei zudem deshalb erforderlich, weil die gegen die eigene Amtswürde handelnden Personen ansonsten straffrei die Würde der Opfer negieren würden. Ein Staat, der eine derartige Instrumentalisierung von Menschen innerhalb staatlich organisierter Ausbildungshierarchien rechtlich zulasse, gefährde den Anspruch auf Achtung der Menschenwürde gewissermaßen in Gänze. Insoweit bestehe auch unter generalpräventiven Aspekten ein großes Interesse der Allgemeinheit an einer Pönalisierung und rechtlichen Missbilligung solcher „polizeilichen Rituale“, die andernfalls zur „Normalität“ unter Polizeibeamten werden könnten.[43]

Der Ansatz von Windsberger zur Sittenwidrigkeitsgrenze ist grundsätzlich nicht neu. In der Literatur finden sich durchaus Stimmen, die die Menschenwürde bei der Definition der Sittenwidrigkeit einer Tathandlung im Sinne von § 228 StGB heranziehen wollen.[44]

Diese Herangehensweise wird jedoch von Hirsch sehr pointiert und zutreffend kritisiert, dass mit der Menschenwürde rechtsgutsbezogen keine tatbestandliche Körperverletzungshandlung erfasst werden könne. Er zieht zur Veranschaulichung das Beispiel des Antisemiten heran, der darin einwilligt, sich den Judenstern der NS-Zeit mit einer herabwürdigenden Parole auf den Rücken tätowieren zu lassen.[45]

Die Körpersubstanzverletzung der Tätowierung geht naturgemäß nicht mit der Intensität einher, die unter anderem vom BGH für eine sittenwidrige Körperverletzungshandlung verlangt wird. Gleichzeitig stellt das Beispiel von Hirsch einen eindeutigen Akt größtmöglicher Verachtung der menschlichen Würde in Form von Antisemitismus dar. Dies belegt, dass mit der Heranziehung der Menschenwürde bei § 228 StGB jeder objektivierende, rechtsgutsbezogene Ansatz für die Sittenwidrigkeit einer Körperverletzungshandlung nach hinten treten kann. Das mag bei dem von Hirsch gewählten Beispiel im ersten Reflex unerheblich erscheinen, weil es den spontanen Wunsch nach Bestrafung auslöst. Bei Lichte betrachtet wird allerdings klar, dass diese Herangehensweise wiederum dazu führen würde, dass „moralisch“ weniger eindeutig gelagerte Fälle, unter Verweis auf die oben dargestellte Kritik von Sternberg-Lieben,[46] dem Richter als einer Art von Sozialmoral geprägtem „Ersatzgesetzgeber“ zugeführt werden würden. Das wiederum führte dazu, dass dem vom BGH geforderten Gebot der Vorhersehbarkeit staatlichen Strafens nicht genügt werden würde.[47]

Im Ergebnis besteht für eine Abkehr von der Rechtsgutsbezogenheit aber auch gar keine Notwendigkeit.

Neben dem Beispiel von Hirsch, das unter den Straftatbestand der Volksverhetzung gemäß § 130 StGB fallen dürfte, bedarf es nämlich nicht zwingend der ultima ratio des Strafrechts, um die staatliche Missbilligung gewisser Handlungsweisen auszudrücken. Das kann gut an den hier thematisierten Gruppen- oder Aufnahmeritualen bei der Polizei veranschaulicht werden. Sollten diese nämlich im Einzelfall mit einer die Menschenwürde verletzenden Handlung einhergehen und zugleich rechtsgutsbezogen nicht  die  Schwelle  der  Sittenwidrigkeit  im  Sinne  von 228 StGB überschreiten, so schafft das Disziplinarrecht Abhilfe, wie die eingangs zitierten Entscheidungen des VG Düsseldorf zu den Vorkommnissen bei einem SEK in Nordrhein-Westfalen im Jahr 2015 belegen. Es ist insoweit grundsätzlich davon auszugehen, dass ein menschenverachtendes Verhalten zwischen Polizeibeamten wohl regelmäßig gegen § 34 Abs. 1 S. 3 BeamtStG verstoßen wird. Die Norm verlangt von verbeamteten Berufsträgern ein Verhalten innerhalb und außerhalb des Dienstes, das der Achtung und dem Vertrauen gerecht wird, wie es das Berufsbeamtentum erfordert. Das hängt letztlich vom Einzelfall ab, wobei das Fallbeispiel „MEK Leipzig“ nicht mit den offensichtlich demütigenden Vorkommnissen bei einem SEK im Jahr 2015 zu vergleichen ist.

III. Fazit

Im Ergebnis ist somit hinsichtlich der Frage der Sittenwidrigkeitsgrenze im Sinne von § 228 StGB kein Unterschied zu machen, ob es sich um Tathandlungen zwischen Polizeibediensteten (etwaig im Amt) handelt, oder zwischen sonstigen Dritten ohne beamtenrechtliches Sonderstatusverhältnis. Das bedeutet, dass eine rechtsgutsbezogene Betrachtung beizubehalten ist, wie sie der BGH grundsätzlich verfolgt, wenn man von der Rechtsprechung zur abstrakten Gefährlichkeit von Schlägereien im Sinne von § 231 StGB absieht, die für die hier gegenständlichen Konstellationen ohnehin keine Relevanz hat.

Für das Fallbeispiel „MEK Leipzig“ bedeutet das wiederum, dass insoweit von einer unterstellt wirksam erklärten Einwilligung in den Beschuss mit nichttödlicher Übungsmunition auszugehen ist, die eine rechtfertigende Wirkung für den Schützen entfaltet. Das liegt daran, dass von dem Beschuss wohl keine erhebliche Gefahr von Leib oder Leben ausgegangen ist. Zu diesem Ergebnis gelangt man jedenfalls anhand der allgemein bekannten Sachverhaltsinformationen, vorbehaltlich einer etwaig noch durchzuführenden Hauptverhandlung.

Die von Windsberger angesprochene Frage einer möglichen Verletzung der Menschenwürde ist demgegenüber einzig im Rahmen der dienstrechtlichen Aufarbeitung des Sachverhalts zu beleuchten, im Rahmen derer solche Erwägungen mit Blick auf § 34 Abs. 1 S. 3 BeamtStG zu prüfen sein dürften.

Dass dieses Ergebnis der Ausklammerung der Menschenwürde bei der Frage der Sittenwidrigkeit im Sinne von § 228 StGB sowie ihre Einbeziehung im Rahmen der disziplinarrechtlichen Betrachtung aufgrund der besonderen Pflichten im Sonderstatusverhältnis richtig ist, zeigt die Kontrollüberlegung, dass die Verletzung der Menschenwürde im Kontext einer Körperverletzung ansonsten strafrechtlich allgemein gebilligt wird:

So sehen sich beispielsweise Sexualpartner bei einvernehmlichen sadomasochistischen Praktiken, die allgemeinbekannt von teils erheblichen Erniedrigungen im Sinne von Verletzungen der Menschenwürde geprägt sind, keiner Strafverfolgung ausgesetzt. Diese privaten Gepflogenheiten werden nach einer thematisch einschlägigen BGH-Entscheidung rechtsgutsbezogen nur dann strafrechtlich relevant, wenn sie einen der Teilnehmer in die Gefahr des Todes bringen sollten.[48]

Und selbst im Rahmen öffentlichkeitswirksamer Darbietungen im Fernsehen gehören teils erhebliche Verletzungen der Menschenwürde im Rahmen einer Körperverletzungshandlung zum Sendungskonzept. Die Kommerzialisierung der Verletzung der Menschenwürde wird gesellschaftlich sowie strafrechtlich gebilligt – so abstoßend es einem auch erscheinen mag.

Eines dieser aktuell kritisierten Fernsehformate läuft derzeit auf dem deutschen Privatsender ProSieben: „Balls – Für Geld mach ich alles“. Dort lassen Menschen erniedrigende Handlungen gegen Geld über sich ergehen, nachdem sie bei einer sukzessiv weiter steigenden Geldsumme als Angebot für eine meist erniedrigende „Aufgabe“ irgendwann per Buzzer freiwillig in die zu ertragende Handlung einwilligen. Zur Veranschaulichung sei ein Beispiel für eine körperverletzende Behandlung aus diesem Format geschildert, das der Menschenwürde keinen Raum lässt: Einem Kandidaten ist vor laufender Kamera der Hinterkopf rasiert worden, woraufhin er die abgeschnittenen Haare in den Mund nehmen und runterwürgen musste, anschließend hat man ihm einen Hodensack auf die freigelegte Stelle am Hinterkopf tätowiert.[49]

Wollte man indes die Menschenwürdeverletzung nur selektiv für bestimmte Berufs- und/oder Bevölkerungsgruppen heranziehen, um die Sittenwidrigkeit einer Handlung im Sinne von § 228 StGB zu begründen, stellte das unter Verweis auf obige Beispiele eine verfassungsrechtlich unzulässige Ungleichbehandlung vor dem Gesetz dar.

Eine sachgerechte Abstufung bei der rechtlichen Bewertung des Verhaltens von Arbeitnehmern im öffentlichen Dienst und solchen Arbeitnehmern, die ihm nicht angehören, beziehungsweise allen anderen Bevölkerungsgruppen, schafft insoweit in einem ausreichenden Maß das Dienstrecht mit den im Zweifel zu veranlassenden und teilweise sehr empfindlichen Disziplinarmaßnahmen. Es bedarf also nicht immer der ultima ratio des Strafrechts, damit der Staat wirkungsvoll die Missbilligung eines Verhaltens zum Ausdruck bringen kann.

 

[1]      Vgl. Pressemitteilung der Generalstaatsanwaltschaft Dresden vom 13.4.2022, online abrufbar unter: https://www.medienservice.sachsen.de/medien/news/1042757 (zuletzt abgerufen am 14.1.2024).

[2]      Vgl. Beschreibung der Spezialeinheiten auf der Homepage der Polizei Nordrhein-Westfalen, online abrufbar unter: https://polizei.nrw/artikel/spezialeinheiten (zuletzt abgerufen am 14.1.2024).

[3]                 Vgl. Beschreibung der Spezialeinheit „GSG9“ auf der Homepage der Bundespolizei, online abrufbar unter:  https://www.bundespolizei.de/Web/DE/05Die-Bundespolizei/04Einsatzkraefte/GSG9-neu/02-Der-Weg/Bewerbung/bewerbung_node.html (zuletzt abgerufen am 14.1.2024).

[4]                 Vgl. Beschreibung des Mobilen Einsatzkommandos (MEK) auf der Homepage der Polizei Sachsen, online abrufbar unter: https://www.polizei.sachsen.de/de/9829.htm(zuletzt abgerufen am 3.2.2024).

[5]      Vgl. VG Düsseldorf, Urt. v. 22.3.2018, 35 K 10700/16.O – Rn. 6.

[6]      Vgl. VG Düsseldorf, Urt. v. 22.3.2018, 35 K 10700/16.O – Rn. 6.

[7]      Vgl. Heger, in: Lackner/Kühl/Heger, StGB, 30. Aufl. (2023), § 228 Rn. 8.

[8]      Vgl. Grünewald, in: LK-StGB, Bd. 11, 13. Aufl. (2023), § 228 Rn. 1.

[9]      Vgl. Fischer, StGB, 70. Aufl. (2023), § 228 Rn. 8.

[10]    Vgl. Windsberger, jM 2022, 343 (345).

[11]    Vgl. BGH, Urt. v. 12.10.1999 – 1 StR 417/99.

[12]    Vgl. m.w.N. Grünewald, in: LK-StGB, § 228 Rn. 9.

[13]    Vgl. Hauck, in: AnwK-StGB, 3. Aufl. (2020), Vorb. zu § 32 Rn. 16.

[14]    Vgl. BGH, Urt. v. 29.1.1953 – 5 StR 408/52.

[15]    Vgl. BGH, NJW 1953, 473 (475).

[16]    Vgl. Schlehofer, in: Hilgendorf/Kudlich/Valerius, Handbuch des Strafrechts, Bd. 2, 1. Aufl. (2020), § 40 Rn. 48.

[17]    Vgl. Wieacker, JZ 1961, 337 (341).

[18]    Vgl. Sternberg-Lieben, JuS 2004, 954 (955).

[19]    Vgl. Sternberg-Lieben, in: Schönke/Schröder, StGB, 30. Aufl. (2019), § 228 Rn. 2.

[20]    Vgl. Heger, in: Lackner/Kühl/Heger, StGB, § 228 Rn. 10.

[21]    Vgl. Engländer, in: Matt/Renzikowski, StGB, 2. Aufl. (2020), § 228 Rn. 3.

[22]    Vgl. Fischer, StGB, § 228 Rn. 9.

[23]    Vgl. Grünewald, in: LK-StGB, § 228 Rn. 19.

[24]    Vgl. BGH, Urt. v. 11.12.2003 – 3 StR 120/03.

[25]    Vgl. BGH, Urt. v. 26.5.2004 – 2 StR 505/03; BGHSt 49, 166-177, Rn. 19.

[26]    Vgl. a.a.O., Rn. 16.

[27]    Vgl. m.w.N. Hardtung, medstra 2020, 137 (138).

[28]    Vgl. Bock, Strafrecht Allgemeiner Teil, 2. Aufl. (2021), 5. Kap. Rn. 92.

[29]    Vgl. a.a.O.

[30]    Vgl. Kühl, NJW 2009, 1155 (1159).

[31]    Vgl. Gropp, Strafrecht Allgemeiner Teil, 2. Aufl. (2001), § 5 Rn. 99.

[32]    Vgl. Engländer in: Matt/Renzikowski, StGB, § 228 Rn. 2.

[33]    Vgl. m.w.N. Bock, StrafR AT, 5. Kap. Rn. 91.

[34]    Vgl. exemplarisch Petry/Zöller in: AnwK-StGB, § 228 Rn. 5.

[35]    Vgl. BGH, Urt. v. 20.2.2013 – 1 StR 585/12.

[36]    Vgl. BGH, Urt. v. 22.1.2015 – 3 StR 233/14; BGHSt 60, 166-187.

[37]    Vgl. Bock, JA 2016, 992 (1004 f.).

[38]    Vgl. m.w.N. Petry/Zöller, in: AnwK-StGB, Beurteilungsmaßstab, Rn. 7.

[39]    Vgl. m.w.N. Grünewald, in: LK-StGB, § 228 Rn. 22.

[40]    Vgl. Engländer, in: Matt/Renzikowski, StGB, § 228 Rn. 4.

[41]    Vgl. Fischer, StGB, § 228 Rn. 10b.

[42]    Vgl. zusammenfassend Fischer, StGB, § 224 Rn. 25.

[43]    Vgl. Windsberger, jM 2022, 342 (346 f.).

[44]    Vgl. Maurach/Schroeder/Maiwald/Hoyer/Momsen, Strafrecht Besonderer Teil, Tb. 1, 11. Aufl. (2019), § 8 Rn. 15; Schmidhäuser, StrafR AT, Kap. 8 Rn. 131 („Menschenwürdigkeit des Handelns“); Petry/Zöller, in: AnwK-StGB, § 228 Rn. 5 unter Verweis auf Frisch, in: FS-Hirsch, 1999, S. 485 (496 ff.).

[45]    Vgl. Hirsch, in: FS-Amelung, 2009, S. 180 (196).

[46]    Vgl. Schlehofer, in: Hilgendorf/Kudlich/Valerius, Handbuch des Strafrechts, § 40 Rn. 48.

[47]    Vgl. BGH, Urt. v. 26.5.2004 – 2 StR 505/03; BGHSt 49, 166-177, Rn. 16.

[48]    Vgl. BGH, NJW 2004, 2458 (2459) – BGH, Urt. v. 26.05.2004, 2 StR 505/03.

[49]    Vgl. Rützel, Alles an dieser Show ist hässlich, Spiegel, 6.5.2020, online abrufbar unter: https://www.spiegel.de/kultur/tv/balls-fuer-geld-mach-ich-alles-auf-prosieben-alles-an-dieser-show-ist-haesslich-a-c4710740-e767-4b1d-b2a0-2d9e15b46bf3 (zuletzt aufgerufen am 26.01.2024).

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