Die Entscheidung im Original finden Sie hier.
Redaktioneller Leitsatz:
Nimmt ein Opfer das Aufheulen des Motors eines Fahrzeuges wahr, erkennt aber nicht die von dem Fahrzeug ausgehende Gefahr, so ist die Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers nicht ausgeschlossen.
Sachverhalt:
Der Angeklagte fuhr mit dem KfZ seines Vaters in der Stadt A. herum. Dabei machte dessen Mitfahrer ihn darauf aufmerksam, dass der Liebhaber der Mutter des Angeklagten – einer der späteren Geschädigten – auf dem Bürgersteig entlanglief. Der Angeklagte hatte bereits zuvor den Liebhaber gewarnt, dass dieser kein Mitglied seiner Familie belästigen solle. Als der Angeklagte den Geschädigten erblickte, setzte er das Fahrzeug zurück. Der Geschädigte bemerkte den rückwärtsfahrenden PKW, ging jedoch davon aus, dass der Fahrer lediglich einen Parkplatz suche. Der Angeklagte bremste beim Beginn des abgesenkten Bordsteins ab und fuhr – mit durchgetretenem Gaspedal – in einer Kurve über den Bordstein auf den knapp 4m breiten Gehweg.
Zu diesem Zeitpunkt bemerkte der Angeklagte auch die neben dem Geschädigten gehende Geschädigte H. Trotzdem fuhr der Angeklagte von hinten auf die Geschädigten zu. Obwohl der Motor laut aufheulte, was der Geschädigte auch wahrnahm, drehte dieser sich nicht um. In der Folge erfasste das Auto den Geschädigten frontal bei einer Geschwindigkeit von 38 km/h; der Geschädigte wurde rücklings auf die Motorhaube aufgeladen und prallte mit dem Kopf auf die Windschutzscheibe, die dadurch erheblich beschädigt wurde. Der Angeklagte nahm hierbei den Tod oder erhebliche Verletzungen von dem Geschädigten oder dessen Begleiterin billigend in Kauf. Der Geschädigte stürzte ein wenig später auf die Motorhaube eines anderen Pkw, der am Fahrbahnrand stand.
Der Angeklagte bemerkte, dass die beiden Geschädigten potenziell tödliche Verletzungen aufweisen. Jedoch entfernte sich der Angeklagte trotzdem von der Kollisionsstelle, ohne sich über den Zustand der Geschädigten Gewissheit zu verschaffen. Der Geschädigte erlitt Hautabschürfungen und -unterblutungen, einen Teilabriss der linken Ohrmuschel und eine Verletzung am linken Zeh; die Geschädigte zog sich ein Hämatom am rechten Unterschenkel zu.
Das LG hat den Angeklagten wegen versuchten Totschlags in zwei tateinheitlich begangenen Fällen in Tateinheit mit gefährlichem Eingriff in den Straßenverkehr zur Herbeiführung eines Unglücksfalls, in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung in zwei tateinheitlich begangenen Fällen und in Tateinheit mit Sachbeschädigung in fünf tateinheitlich begangenen Fällen zu einer Jugendstrafe von drei Jahren verurteilt. Dem Angeklagten wurde die Fahrerlaubnis entzogen und eine Sperrfrist festgesetzt.
Entscheidung des BGH:
Die Revision der Staatsanwaltschaft, die eine Verurteilung wegen versuchten Mordes in zwei tateinheitlichen Fällen sowie wegen unerlaubten Entfernens vom Unfallort anstrebte, hat Erfolg.
Insbesondere die Ausführungen der Kammer zum fehlenden Ausnutzungsbewusstseins des Täters seien widersprüchlich und lückenhaft. Heimtückisch handele, wer in feindlicher Willensrichtung die Arg- und Wehrlosigkeit des Tatopfers bewusst zu desse Tötung ausnutzt. Arglos ist das Tatopfer, wenn es bei Beginn des ersten mit Tötungsvorsatz geführten Angriffs nicht mit einem gegen sein Leben oder seine körperliche Unversehrtheit gerichteten schweren oder doch erheblichen Angriff rechnet. Tritt der Täter dem Opfer offen gegenüber, so schließe das nicht automatisch die Arglosigkeit aus, soweit die Zeitspanne zwischen dem Erkennen der Gefahr und dem unmittelbaren Angriff so kurz ist, dass keine Möglichkeit bleibt, den Angriff abzuwehren. Der Täter muss sich hinsichtlich der heimtückischen Begehung bewusst sein, dass er einen durch seinen Angriff einen schutzlosen Menschen überrascht.
Diesen Vorgaben werden die Erwägungen im Urteil nicht gerecht. Die Kammer gehe insbesondere fehlerhaft davon aus, dass allein wegen dem aufheulenden Motor und dem angeschalteten Licht des Autos das Opfer mit einem Angriff rechnen musste. Jedoch ist ersichtlich, dass der Geschädigte davon ausging, dass der Fahrer vielmehr einen Parkplatz suchte. Insoweit sah der Geschädigte in den wahrgenommenen Motorgeräuschen keinen Anlass, sich umzudrehen. Selbst, wenn der Angeklagte aber sein Vorstellungsbild in diese Richtung angepasst hätte, so wäre die verbleibende Zeitspanne zu kurz gewesen, um der erkannten Gefahr zu begegnen. Die äußeren Umstände legen insoweit ein Ausnutzungsbewusstsein des Angeklagten nahe.
Zudem hat die Jugendkammer auch rechtsfehlerhaft die Tatbestandsverwirklichung des § 142 Abs. 1 StGB abgelehnt. Hierbei ging die Kammer davon aus, dass ein Unfall im Straßenverkehr nicht vorläge. Ein Unfall im Straßenverkehr ist jedes mit dem Straßenverkehr ursächlich zusammenhängende Ereignis zu verstehen, durch das ein Mensch zu Schaden kommt oder ein nicht ganz belangloser Sachschaden verursacht wird. Zudem ist das Vorliegen eines verkehrsspezifischen Gefahrenzusammenhangs in der Weise erforderlich, dass sich in dem „Verkehrsunfall“ gerade die typischen Gefahren des Straßenverkehrs verwirklicht haben müssen.
Der Senat geht hierbei davon aus, dass sich zumindest in den Kollisionen mit den geparkten Fahrzeugen verkehrstypische Gefahren realisiert haben. Die entstandenen Sachschäden an den anderen Fahrzeugen könnte insoweit zum Begriff des Verkehrsunfalls gehören.
Neben diesen Rechtsfehlern erkennt der Senat jedoch auch an, dass insbesondere die Feststellungen der Kammer hinsichtlich des bedingten Tötungsvorsatzes des Angeklagten bezogen auf die Geschädigte H. einer revisionsgerichtlichen Prüfung nicht standhält. Insbesondere die in Bezug auf die beiden Geschädigten unterschiedlichen konkreten Angriffsweisen des Angeklagten werden nicht hinreichend berücksichtigt. Die Kammer hätte insoweit die divergierenden Auswirkungen des Zusammenstoßes in den Blick nehmen müssen.