Abstract
Der Aufsatz, der auf dem Eröffnungsvortrag einer Tagung des Kriminalpolitischen Kreises im Bundesjustizministerium beruht, geht dem (fehlenden) Einfluss der Kriminologie auf die Strafgesetzgebung nach. Eine Ursache dafür liegt in ungünstigen Rahmenbedingungen. Dazu gehört, dass die notorische Strafrechtsskepsis der Kriminologie heutzutage auf eine ungebrochene Strafrechtslust des Gesetzgebers trifft. Auch wenn diverse Formate existieren, mit denen die Kriminologie an die kriminalpolitischen Akteure herantreten kann, ist sie mit der Vermittlung ihrer Erkenntnisse derzeit nicht besonders erfolgreich. Man kann sich sogar des Eindrucks nicht erwehren, dass ein zu großes Maß an kriminologischer Expertise für den Mainstream der Kriminalpolitik eher störend ist. Dessen ungeachtet könnte eine wichtiger werdende Aufgabe der Kriminologie in Zukunft darin liegen, dabei mitzuhelfen, die Berechtigung eines moderaten Strafrechts einer breiteren Öffentlichkeit zu erklären.
This paper is based on the opening address at the Criminal Policy Group Conference which took place at the Federal Ministry of Justice. It explores the influence, or lack thereof, of criminology on criminal legislation. One cause for this lies in the unfavorable circumstances. This includes the fact that the notorious skepticism of criminology towards criminal law is nowadays met with an unbroken desire for punitive criminal law on the part of the legislator. Even though various formats exist with which criminology can approach the actors in criminal policy, at present, it is not particularly successful in conveying its insights. One cannot even avoid the impression that too much criminological expertise is rather disturbing for the mainstream of criminal policy. Nevertheless, one task that could become increasingly important in the future may be to help explain the justification for a moderate criminal law to a wider public.
I. Einleitung
Beginnen möchte ich mit einer Beobachtung, die derjenige machen kann, der sich das Organigramm des Bundesjustizministeriums anschaut und dort nach der Kriminologie sucht.[1] Während sich das Strafrecht in der Abteilung II mittig und damit sozusagen im Herz der Behörde präsentiert, verläuft die Suche nach dem Platz der Kriminologie unter dem Schirm des Ministeriums deutlich mühsamer.
Nur unter Zuhilfenahme einer Lupe lässt sich die Kriminologie im von Frau Bunke geleiteten Referat II A7 ausmachen. Jedoch ist auch in dem genannten Referat für die Kriminologie kein exklusiver Platz reserviert. Denn sie findet sich dort Seit an Seit mit weiteren Zuständigkeiten der Referatsleiterin für das Sexualstrafrecht, die Strafrechtliche Bekämpfung von Doping und die Statistiken der Strafrechtspflege. Sexualstrafrecht, Kriminologie, Doping und Kriminalstatistiken: Was wohlwollende Stimmen als besonders gelungene Kombination aktueller Themen unter Einbeziehung empirischer Fragestellungen feiern werden, mag böse Zungen eher an einen Gemischtwarenladen erinnern. Wie dem auch sei: Die Platzierung der Kriminologie unter II A 7 und ihre Positionierung quasi als Wurmfortsatz des Strafrechts geben bereits einen Fingerzeig darauf, dass es mit der Bedeutung der Kriminologie für die Strafgesetzgebung nicht zum Besten bestellt sein könnte.
Wenn ich mit meinen Recherchen richtig liege, hatte die Kriminologie noch vor einigen Jahren innerhalb des Ministeriums mindestens nominell, also sozusagen nach der Papierform, einen ungleich größeren Stellenwert, als das heute der Fall ist: Trug das früher von Herrn Dr. Blath bekleidete Referat II A 8 noch den alleinigen Titel Kriminologie.
Stimmt dieser Befund, ist es davon nicht weit zur Assoziation, dass damit nur in einem ministeriellen Rahmen der Bedeutungsverlust nachvollzogen wurde, den das Fach Kriminologie auch an vielen Rechtswissenschaftlichen Fakultäten erlitten hat und noch erleidet. Von dieser Schelte darf und muss ich meine Heimatuniversität Tübingen jedoch ausdrücklich ausnehmen. Denn wir verfügen neben meiner ordentlichen Professur immerhin noch über eine Stiftungs- und eine Juniorprofessur, die sich mit kriminologischen und kriminalpräventiven Fragestellungen beschäftigen.
Meine folgenden Überlegungen werde ich nach dieser Einleitung (I) in fünf weitere Schritte (II bis VI) gliedern.
Zunächst möchte ich den – um es vorweg zu nehmen – ungünstigen Rahmenbedingungen nachgehen, auf welche die Kriminologie bei ihren Versuchen stößt, die Strafgesetzgebung oder auch die Kriminalpolitik generell zu beeinflussen. Danach werde ich kurz die verschiedenen Formate skizzieren, in denen Kriminologen und die in meinem Fach immer stärker vertretenen –innen sich an Einflussnahmen auf die Strafgesetzgebung versuchen können. Den Einfluss der Kriminologie oder besser dessen Fehlen möchte ich im Anschluss an einem konkreten Beispiel verdeutlichen. Wenigstens aufwerfen will ich die Frage, ob die Kriminologie und ihre Forschungsergebnisse vor dem Hintergrund gewandelter politischer Zeiten nicht viel stärker als bisher als wichtige Ressource genutzt werden sollten. Schließlich werde ich versuchen, die bis dahin gewonnenen Einsichten in eine prägnante Zusammenfassung einmünden zu lassen.
II. Ungünstige Rahmenbedingungen
Die Bedingungen für die Kriminologie, auf die Strafgesetzgebung Einfluss zu nehmen, sind derzeit nicht besonders günstig. Dafür sind vor allem zwei Ursachen verantwortlich.
1. Kriminologie als nur eine unter vielen Einflussgrößen
Die erste Feststellung ist beinahe trivial. Dennoch lohnt es, sich folgenden Umstand zu vergegenwärtigen. Auf die Strafgesetzgebung wirkt eine Vielzahl von Faktoren ein. Einige davon hat Heinz Schöch schon auf der Bonner Strafrechtslehrertagung in seinem Vortrag zum Einfluss der Kriminologie auf die Sanktionsgesetzgebung im Jahr 1979 aufgezählt.[2] Darunter fallen „allgemeinpolitische Strömungen“, aber auch ein etwaiger „ideengeschichtlicher Wandel“ sowie der „Zeitgeist“ und nicht zuletzt auch „fiskalische Erwägungen“.[3] Hinzu kommt etwas, das Schöch das „Eigengewicht der Strafrechtspraxis“ nennt. Dahinter verbirgt sich die Erkenntnis, dass die Justiz fast immer skeptisch auf Neuerungen zu reagieren scheint und die allgemeinen Beharrungskräfte auf unserem Spielfeld deutlich größer sein dürften, als das auf anderen Gebieten der Fall ist.
40 Jahre nach Schöchs Vortrag lässt sich die Liste der Einflussfaktoren noch ein wenig ergänzen: So können medial prominent diskutierte Ereignisse ein großes Gewicht besitzen: man denke nur an die „Kölner Silvesternacht“ und ihre Bedeutung für die konkrete Ausgestaltung des Sexualstrafrechts.[4] Dies gilt nicht nur für Massenerscheinungen, sondern auch für Einzelfälle, wie der Fall Böhmermann[5] und derjenige der Gießener Ärztin Hänel[6], die beide ausnahmsweise eine Eindämmung der Strafbarkeit zur Folge hatten, gezeigt haben.
Auch scheint mir die Schubkraft, die ein nur gefühltes Problem – ein vermeintlicher Anstieg der Kriminalität insgesamt oder auch nur von einem Teil derselben – entfalten kann, im Bereich der Strafgesetzgebung ungleich größer als anderswo. Das hängt wiederum mit dem hohen Emotionalisierungs- und Empörungspotential zusammen, das jedenfalls Straftaten gegen Leib oder Leben oder auch besonders die Sexualdelikte mit sich bringen. Wer schon einmal in einer Talkshow dem Vater oder der Mutter eines getöteten Kindes gegenübersaß, weiß, dass man angesichts eines für die betroffene Familie selbstverständlich monströsen Ereignisses mit einem Plädoyer für eine rationale, maßvolle Kriminalpolitik bei den Fernsehzuschauern kaum landen kann. Mehr noch: Eine wissenschaftliche Sicht der Dinge, die sich im Diskurs auf Einsichten und Erkenntnisse der Kriminologie beruft, läuft sogar vielfach Gefahr, unter Zynismus-Verdacht zu geraten. Ein durch und durch vermintes Gelände also.
Ist die Kriminologie also ohnehin schon nur eine kriminalpolitische Einflussgröße unter vielen, erscheinen den sprichwörtlichen Wutbürgern die von ihr gelieferten Erkenntnisse zudem häufig suspekt. Stellvertretend für eine solche Einstellung möchte ich aus einem Brief zitieren, den ein sächsischer Bürger im Anschluss an eine von der Kollegin Hoven in Leipzig organisierte, öffentliche Diskussion über die richtige Ahndung von Kleinkriminalität an mich gerichtet hat.[7] Herr M. schreibt zu meinen in der Presse wiedergegebenen moderaten Ansichten:
„Ebenso wie die damals Mächtigen (sc. gemeint ist die Zeit der DDR) ziehen Sie Ihre Schlussfolgerungen ausschließlich aus Statistiken und bewerten diese aus Ihrer eigenen Sichtweise. Über den Wert von Statistiken, zumal deren jeweiligen Basiseingangswerte zig-mal geändert worden sind, braucht man seit Winston Churchill wohl nicht mehr zu streiten.“
Freilich hindert diese Statistikschelte Herrn M. nicht daran, sich ein paar Zeilen später ihm persönlich opportun erscheinender Zahlen zu bedienen. Dazu führt er aus:
„Belegt ist aber, dass der Glaube an Recht und Gesetz in Sachsen im Zeitraum ab etwa 2005 bis 2018 von mehr als 80% auf deutlich unter 50% gesunken ist, in manchen Regionen bewegt er sich knapp unter der 20%-Marke.“[8]
Diese Volatilität im Umgang mit statistischen Erkenntnissen erschwert eine rationale Diskussion ganz erheblich.
2. Der fehlende Glauben der Kriminolog(inn)en an die Wirksamkeit des Strafrechts
Wenn man sich die Gesetzgebung der letzten mittlerweile fast 50 Jahre in der Bundesrepublik anschaut, kommt man nicht um die Erkenntnis umhin, dass das Strafrecht auf Expansion ausgerichtet ist.[9] Die Fälle, in denen einzelne Straftatbestände abgeschafft oder Sanktionsdrohungen zurückgenommen worden sind, kann man an einer Hand abzählen. Als ein wichtiges relativ neues Feld, auf dem kriminologische Erkenntnisse zur Zurückdrängung des Strafrechts beigetragen haben dürften, fällt mir eigentlich nur die Einführung des Täter-Opfer-Ausgleichs (TOA) ein, die aber nun auch schon einige Jahre zurückliegt.[10]
Dass Kriminolog(inn)en zusammen mit dem Zeitgeist der Einführung neuer Straftatbestände oder der Ausweitung von Sanktionen das Wort reden, ist jedoch ein vergleichsweise seltenes Ereignis. Das hängt sicher damit zusammen, dass den Vertreter(inn)en unserer Zunft in der Regel der Glaube daran fehlt, die Ausdehnung des Strafrechts führe zu einem gesellschaftlichen Mehrwert. Wobei: es ist nicht nur der Glaube. Vielmehr sind es handfeste und empirisch fundierte Einsichten, die zur Folge haben, dass unsere Zunft dem Zuwachs an Straftatbeständen und einer stärkeren Pönalisierung fast durchweg oder – soweit ich es überblicke – gar uni sono skeptisch gegenübertritt.
Als Belege für die Befunde, aus denen sich unsere Zurückhaltung gegenüber dem Strafrecht speist, kann ich an dieser Stelle nur drei Schlagworte nennen: die Selektivität der Strafverfolgung, die nicht gerade ermutigenden Rückfallraten nach allen Formen des stationären Vollzugs sowie unverändert große Schwierigkeiten, zu validen Kriminalprognosen aller Art zu gelangen.[11]
Bildlich gesprochen, stehen selbst wir Juristen-Kriminolog(inn)en mit unserem Wissen eigentlich fast immer auf der falschen Seite.[12] Nur hin und wieder beschleicht mich der Gedanke, dass wir für die Ministerialbürokratie gelegentlich doch nützlich sind. Und zwar dann, wenn es gilt, noch größere von der Rechtspolitik ventilierte Zumutungen in einem Gesetzgebungsverfahren abzuwehren. In diesem Fall kann einem – zumeist hinter vorgehaltener Hand – ein gewisser Zuspruch des zuständigen Gesetzgebungsreferats zuteilwerden. Und man selbst kann den Eindruck gewinnen, dieses Mal dem Ministerium als eine Art Bremskraftverstärker gedient zu haben, um den kriminalpolitischen Zug auf seinem abschüssigen Weg wenigstens ein bisschen zu verlangsamen.
III. Formate der Einflussnahme
Die Formate, mit denen die Kriminologie auf die Strafgesetzgebung Einfluss nehmen kann, sind unterschiedlich und direkter oder indirekter Art.
Dass ein Gesetzgebungsvorhaben durch eine kriminologische Expertise begleitet oder noch besser: vorbereitet wird, scheint mir eine absolute Ausnahme zu sein. Geschieht das doch einmal, hat die Kriminologie auf diesem Weg vermutlich die größte Einflussmöglichkeit: jedenfalls dann, wenn die entsprechende Problematik nicht im parteipolitischen Feuer steht.
Ein Beispiel aus meiner bescheidenen eigenen Tätigkeit. Ende der 1990er Jahre trug sich die damalige sozialdemokratische Justizministerin Herta Däubler-Gmelin mit dem Gedanken, die Berufung im Strafrecht abzuschaffen und konsequent auf nur eine einzige Rechtsmittelmöglichkeit zu setzen. Wir haben dann in einer umfangreichen rechtsvergleichend-rechtstatsächlichen Untersuchung am Max-Planck-Institut den Wert der Berufungsmöglichkeit vom Amts- zum Landgericht herausgearbeitet.[13] Tatsächlich wurde das Vorhaben im Ministerium dann nicht weiterverfolgt. Und ich lebe bis heute in dem festen Glauben, dass zu dieser aus meiner Sicht natürlich richtigen Entscheidung auch unsere Studie beigetragen haben könnte. Wenn dem tatsächlich so war, dann vor allem deswegen, weil die Rahmenbedingungen damals günstig waren, es eher um eine Eigeninitiative des Ministeriums ging und Strafprozessrecht weniger stark emotionalisiert.
Ein weiteres Format der Mitwirkung der Kriminologie ist eine Sachverständigentätigkeit im Rechtsausschuss. Wer sich vor diesem Gremium ein paar Mal geäußert hat, wird vollkommen illusionslos. Das Ergebnis des Anhörungsverfahrens scheint fast immer festzustehen. Wer Glück hat, mag vielleicht noch Nuancen beeinflussen können. Nicht selten wird einem aber auch in entwaffnender Offenheit mitgeteilt, dass kriminologische Erkenntnisse das eine seien, die Entscheidungskriterien der Rechtspolitik aber ganz andere.
Kriminologie via Medien zu betreiben, ist eine weitere Möglichkeit, einen gewissen Einfluss, wenn auch vielleicht nicht direkt auf die Gesetzgebung, dann zumindest auf die veröffentlichte Meinung auszuüben. Wie allgemein bekannt, wurde dieses Feld in der Vergangenheit vor allem von Hannover aus bespielt. Hier ein richtiges Maß zwischen angemessener Zurückhaltung und eigenem Profilierungsbedürfnis zu finden, ist nicht einfach. Folgende Fragen können sich in diesem Zusammenhang stellen: Besitze ich zu der angesprochenen Thematik überhaupt überlegenes kriminologisches Wissen? Passe ich mit meiner Antwort in die Stoßrichtung des angestrebten journalistischen Beitrags? Kann ich die unter Umständen komplexe Antwort einer breiten Öffentlichkeit vermitteln? Und das gegebenenfalls in 90 Sekunden? Will ich mir die Zeit dafür nehmen? Und neuerdings auch: Bin ich bereit, mich möglicherweise eintretenden unangenehmen Reaktionen in Briefen, Mails und den sozialen Netzwerken auszusetzen? Dessen ungeachtet twittert inzwischen eine wachsende Zahl von Kriminolog(inn)en aller Generationen zu nicht nur kriminologischen Themen.[14]
Diesen Gliederungspunkt abschließend möchte ich zwei kriminologische Beiträge nennen, die unzweifelhaft sinnvoll sind und die – wenn man nur wollte – auch einen Einfluss auf die Strafgesetzgebung haben könnten: den Periodischen Sicherheitsbericht und die sogenannte Rückfallstatistik. Beide teilen jedoch ein gemeinsames Schicksal: Sie stehen sowohl organisatorisch als auch finanziell bisher auf tönernen Füßen.
Der Periodische Sicherheitsbericht wurde im Jahr 2001 ins Leben gerufen. Danach ist er bis heute nur ein weiteres Mal, und zwar im Jahr 2006, erschienen.[15] Periodisch kann man das nun wahrlich nicht nennen.[16]
Die Rückfallstatistik wurde unter dem Titel „Legalbewährung nach strafrechtlichen Sanktionen“ bisher immerhin drei Mal aufgelegt.[17] Derzeit ist eine weitere Version in Vorbereitung. Selbige wird aber nicht mehr von der Bundesrepublik, sondern unter Mühen von der Deutschen Forschungsgemeinschaft, der DFG, finanziert. Zukunft offen.
Periodischer Sicherheitsbericht und Rückfallstatistik, dazu noch die ebenfalls eher schleppende Einführung einer regelmäßigen Bevölkerungsbefragung, eines Viktimisierungssurvey[18]: Betrachtet man das mangelnde Engagement und das fehlende Interesse, das die Rechtspolitik bisher gegenüber einer Verstetigung dieser wichtigen Informationsquellen an den Tag legt, kann einen schon der Eindruck beschleichen, dass ein Übermaß an kriminologischen Erkenntnissen für den Gesetzgeber eher störend wirkt. Oder wie sagte ein Ländervertreter vor kurzem ganz offen, als ich in Berlin einer von Frau Bunke sehr engagiert geleiteten Arbeitsgruppe zu den Inhalten eines neuen Rechtspflegestatistikgesetzes beiwohnen durfte. Ich zitiere aus dem Gedächtnis sinngemäß: Bisher haben wir doch die ganzen Jahre auch ohne diese zusätzlichen kriminalstatistischen Informationen Kriminalpolitik gemacht. Dann brauchen wir sie doch jetzt auch nicht.[19]
IV. Ein konkretes Beispiel
Ein konkretes Beispiel, an dem sich die häufig zu beobachtende Ignoranz der Strafgesetzgebung für Erkenntnisse der Kriminologie illustrieren lässt, liefert das „Gesetz zur Erweiterung der jugendgerichtlichen Handlungsmöglichkeiten“ aus dem Jahr 2012.[20]
Besagtes Normenkonvolut enthielt vor allem zwei Neuerungen: Zum einen die Einführung des sogenannten Warnschussarrests, geregelt vor allem in § 16a JGG; zum anderen die Ausweitung der Jugendstrafe bei Heranwachsenden, die wegen Mordes verurteilt werden, auf bis zu 15 Jahre in § 105 Abs. 3 S. 2 JGG. Vorangegangen war ein Gesetzentwurf der damaligen Regierungskoalition von CDU/CSU und FDP.[21]
Eingangs singt dieser Gesetzentwurf das hohe Lied der Empirie. Denn dort heißt es nach der Feststellung, dass die Jugendkriminalität in den letzten Jahren insgesamt zurückgegangen sei: „Unabhängig von der Entwicklung der Jugendkriminalität insgesamt verlangt die damit verbundene Wirkungsorientierung der jugendkriminalrechtlichen Reaktionen und Sanktionen und auch des Jugendstrafverfahrens eine beständige Überprüfung auf kriminologischer und empirischer Grundlage, ob die gesetzlichen Regelungen im Hinblick auf die genannte Zielsetzung noch ausreichend und angemessen sind.“[22]
So weit, so gut. Dass sich die Kriminologie einstimmig gegen die Einführung des Warnschussarrestes ausgesprochen hat, wird im Folgenden jedoch geflissentlich ignoriert: Als Kronzeugen für die getroffene gegenteilige Entscheidung beruft sich der Entwurf stattdessen auf die „Jugendkriminalpolitik“ und auf „Teile(n) der jugendstrafrechtlichen Praxis“. Sie hätten eine Erweiterung der jugendgerichtlichen Handlungsmöglichkeiten im Bereich der zur Bewährung ausgesetzten Jugendstrafe, im Klartext also die Einführung des Warnschussarrestes, gefordert.[23]
Offensiver ging der Gesetzgeber die Kritik der Kriminologie an der zweiten damaligen Neuerung, der Heraufstufung des Höchstmaßes der Jugendstrafe für Heranwachsende auf 15 Jahre, an. So heißt es im Gesetzentwurf: „Die Frage, ob das geltende Höchstmaß der Jugendstrafe von zehn Jahren ausreicht, um auch dem Schuldgehalt schwerer Mordverbrechen gerecht zu werden, lässt sich nicht allein unter kriminologischen oder ähnlichen fachlichen Gesichtspunkten beantworten. Es geht dabei auch um eine ethische und gesellschaftliche Wertung, die der Gesetzgeber als Grundentscheidung zu treffen hat und hinter der gegebenenfalls kriminologische Bedenken zurücktreten müssen.“[24]
Wie diese „ethische und gesellschaftliche Wertung“ genau auszusehen hat, ob sie überhaupt im Gegensatz zu den Erkenntnissen der Kriminologie steht, und warum gerade bei der Erhöhung der Jugendstrafe für Heranwachsende „kriminologische Bedenken“ vernachlässigt werden können und nicht entscheidend ins Gewicht fallen, wird jedoch nicht weiter erörtert.
Im Folgenden bewahrheitete sich eine alte kriminalpolitische Weisheit: Gelangen ein Straftatbestand oder eine neue Sanktion erst einmal in das Gesetz, ist es jedenfalls in der heutigen Zeit kaum mehr möglich, derartige dubiose Neuerungen wieder loszuwerden.
So liegen mittlerweile zum Warnschussarrest zwei empirische Untersuchungen vor, die dieser neuen Sanktion ein denkbar schlechtes Zeugnis ausstellen.[25] Klatt und andere kommen in einer am Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen (KFN) durchgeführten und – das soll gesondert hervorgehoben werden – verdienstvollerweise vom BMJV in Auftrag gegebenen Evaluation dieses neuartigen Instruments zu folgendem in meinen Ohren vernichtenden Resultat: „Wollte man radikal verfassungsrechtlich-rechtsstaatlich argumentieren, läge die Forderung nach Abschaffung der mit § 16a JGG neu eingeführten Sanktion nahe. Ein mehr an Freiheitsentzug bedarf starker Gründe, die die bisher verfügbaren Daten nicht liefern. Die erheblichen regionalen Unterschiede bei der Anwendung des § 16a JGG lassen sich kaum begründen, eine klare Zielgruppe ist nicht erkennbar und es kann jedenfalls bisher kein Nachweis signifikant verbesserter Legalbewährungseffekte geführt werden.“[26]
Und Ursula Gernbeck zieht in ihrer Dissertation nach einer Auswertung speziell der Praxis des Warnschussarrestes in Baden-Württemberg folgende Schlüsse: „Die Regelung ist verfassungskonform und mit dem Rechtsfolgensystem des JGG in seiner derzeit existierenden Form vereinbar. Allerdings ist die Sinnhaftigkeit des Warnschussarrests unter kriminalitätstheoretischen Aspekten zweifelhaft. Auch internationale Befunde sprechen eher gegen die Annahme, dass der Warnschussarrest rückfallverhindernde Wirkung haben könnte.“[27]
Erhebliche regionale Unterschiede – keine klare Zielgruppe – keine verbesserte Legalbewährung: Allen wissenschaftlichen Unkenrufen zum Trotz: der Warnschussarrest lebt!
V. Bedeutung der Kriminologie in bewegten Zeiten
Die kriminalpolitischen Zeiten werden rauer. Das erkennt man unter anderem daran, dass neuerdings Rechtspopulisten, namentlich die AFD, beginnen, bestenfalls als eigenartig zu apostrophierende Gesetzentwürfe im Bundestag vorzulegen.
Ein Beispiel ist der Gesetzentwurf der Fraktion der AfD mit dem Titel „Entwurf eines Gesetzes zur Strafschärfung bei Rückfall“.[28] Zur Begründung der Einführung einer drastisch verschärften Rückfallvorschrift nach § 48 StGB bedient sich der Entwurf Ergebnissen der bereits genannten Rückfallstatistik. Die zutreffende Erkenntnis, dass mit der Vorstrafenbelastung die Rückfallrate zunimmt, nimmt diese Fraktion allerdings nicht zum Anlass, über Verbesserungen des Strafvollzuges nachzudenken. Stattdessen fordert sie eine pauschale Verschärfung der Strafe nach dem Vorbild der us-amerikanischen „three strikes and you are out“-Regelung.[29]
Nur am Rande sei in diesem Zusammenhang erwähnt, dass sich die Begründung des Gesetzentwurfs mit der Figur des „besonders sozialschädlichen Gewohnheitsverbrecher(s)“ einer nationalsozialistischen Terminologie bedient.[30]
Davon abgesehen, kann ein Mindestmaß kriminologischer Basiskenntnisse zu einer adäquaten Antwort auf diesen überaus fragwürdigen parlamentarischen Vorstoß beitragen.[31] Dann könnte man etwa replizieren[32], dass sich aus der Rückfallstatistik ergibt, dass die zu einer freiheitsentziehenden Sanktion ohne Bewährung Verurteilten ein höheres Rückfallrisiko aufweisen als diejenigen mit milderen ambulanten Sanktionen;[33] dass die Gefangenenrate in den USA zuletzt 655 Gefangene pro 100.000 Einwohner betrug und damit achteinhalb Mal so hoch wie in der Bundesrepublik (derzeit 77) lag[34], ohne dass man den Eindruck hätte, in den USA würde es sich sicherer leben als hierzulande und dass selbst Donald Trump mittlerweile eine unterschiedslos auf Rückfallverschärfung setzende Kriminalpolitik aufgegeben hat.[35]
Dass auch harte kriminologische Fakten geflissentlich ignoriert werden können, steht auf einem anderen Blatt. Aber vielleicht können sie doch einen Beitrag dazu leisten, allzu herbe kriminalpolitische Zumutungen niveauvoll und wissensbasiert abzuwehren.
VI. Zusammenfassung
Ich fasse zusammen:
- Die Rahmenbedingungen, unter denen die Kriminologie versuchen kann, auf die Strafgesetzgebung Einfluss zu nehmen, sind denkbar ungünstig. Zum einen ist die Kriminologie nur einer unter zahlreichen auf die Kriminalpolitik einwirkenden Faktoren, zumal in einem stark emotionalisierten Umfeld. Zum anderen verträgt sich die notorische Strafrechtsskepsis der Kriminologie nur schwer mit der Strafrechtslust des Gesetzgebers.
- Es existieren diverse Formate, mit denen sich die Kriminologie an einem direkten oder indirekten Einfluss auf die Kriminalpolitik versuchen kann: von der Sachverständigenanhörung bis zur Twitter-Botschaft. Sonderlich erfolgreich erscheinen sie insgesamt nicht.[36]
- Wichtige kriminalpolitische Erkenntnisquellen, wie den Periodischen Sicherheitsbericht, die Rückfallstatistik oder den Viktimisierungssurvey, zu verstetigen, erscheint schwierig bis unmöglich. Dieser Befund nährt den Verdacht, dass ein zu großes Maß an kriminologischer Expertise nicht gewünscht, ja sogar störend ist.
- Das Beharrungsvermögen von Straftatbeständen und Sanktionen ist enorm. Eine Beseitigung einer unerwünschten Strafrechtsnorm kann derzeit allenfalls im Weg einer Skandalisierung gelingen.
- Das bisher bei uns geltende moderate Strafrecht bedarf einer beständigen Erklärung. Hierbei mitzuhelfen, könnte in Zukunft eine wichtige Aufgabe der Kriminologie werden.[37]
Nachtrag: Da war doch noch was. Der Koalitionsvertrag zwischen CDU/CSU und SPD vom Februar 2018. Dort lesen wir auf Seite 135 unter anderem: „Wir treten für eine evidenzbasierte Kriminalpolitik ein. Wir wollen, dass kriminologische Evidenzen sowohl bei der Erarbeitung von Gesetzentwürfen als auch bei deren Evaluation berücksichtigt werden.“[38]
Nachdem die Große Koalition ja bisher so fleißig war, bin ich mir sicher, dass sie sich diese anspruchsvolle Aufgabe für die zweite Hälfte der Legislaturperiode fest vorgenommen hat.
[1] Der Organisationsplan findet sich auf der Homepage des Ministeriums unter https://www.bmjv.de/SharedDocs/Downloads/DE/Ministerium/Organisationsplan/Organisationsplan_DE.pdf?__blob=publicationFile&v=97 (zuletzt abgerufen am 17.1.2020).
[2] Schöch, ZStW 92 (1980), 143 ff.; dort unter III. (ab S. 156 ff.).
[3] Zu „Kriminologische Befunde und kriminalpolitischer Entscheidungsprozess“ zuletzt etwa auch Eisenberg/Kölbel, Kriminologie, 7. Aufl. (2017), § 3 Rn. 13 ff.
[4] Dazu etwa Hoven, KriPoZ 2018, 2 ff.
[5] Siehe dazu den Gesetzentwurf der Bundesregierung „Entwurf eines Gesetzes zur Reform der Straftaten gegen ausländische Staaten“, BT-Drs. 18/11243. Mit Wirkung zum 1.1.2018 wurde § 103 StGB, der zuvor die „Beleidigung von Organen und Vertretern ausländischer Staaten“ unter Strafe stellte, abgeschafft.
[6] Siehe dazu den Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD „Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung der Information über einen Schwangerschaftsabbruch“, BT-Drs. 19/7693. Rechtstechnisch erfolgte die Einschränkung der Strafbarkeit durch Einfügung eines neuen Absatzes 4 in § 219a StGB.
[7] Zu der Diskussion siehe die Beiträge von Hoven, Strobl und Kinzig unter der Überschrift „Null Toleranz – Bagatellen bestrafen?“ in KriPoZ 2019, 206 ff.
[8] Wiedergabe der Originalzitate ungeachtet stilistischer Mängel.
[9] Kubiciel und Weigend, KriPoZ 2019, 35 sprechen von einer „Tendenz zur (quantitativen) Expansion und (qualitativen) Entgrenzung des Strafrechts“. Noch pointierter der Titel eines Beitrags von Aichele/Renzikowski mit der Überschrift „Wollt ihr das totale Strafrecht?“ in: FS Fischer, 2018, S. 491 ff. „Die Expansion des Strafrechts“ lautet auch der Titel einer bereits im Jahr 2003 erschienenen Arbeit von Silva Sánchez.
[10] Zur rechtstatsächlichen Realität des TOA siehe Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz (Hrsg.)., Täter-Opfer-Ausgleich in Deutschland. Auswertung der bundesweiten Täter-Opfer-Ausgleich-Statistik für die Jahrgänge 2015 und 2016, 1. Aufl. (2018).
[11] Vgl. in ähnlicher Richtung: Kölbel, NK 2019, 249 (256 ff.) unter dem einprägsamen Titel „Die dunkle Seite des Strafrechts“.
[12] „Whose Side Are We On?“ ist der Titel eines einflussreichen Textes von Howard S. Becker, Social Problems, 14(3), 239 ff. Der Aufsatz ist in deutscher Übersetzung erschienen im Sammelband von Klimke/Legnaro (Hrsg.), Kriminologische Grundlagentexte, 2016.
[13] Becker/Kinzig (Hrsg.), Rechtsmittel im Strafrecht, 2000.
[14] Nennen möchte ich nur meine Kolleg(inn)en Kirstin Drenkhahn, Thomas Feltes und Henning Ernst Müller, die mit einer unterschiedlichen Zahl an Followern auf Twitter unterwegs sind.
[15] Bundesministerium des Innern/Bundesministerium der Justiz, Zweiter Periodischer Sicherheitsbericht, 2006, im Internet abrufbar unter https://www.bmjv.de/DE/Service/Fachpublikationen/Zweiter_Periodischer_Sicherheitsbericht_doc.html (zuletzt abgerufen am 17.1.2020).
[16] Bezeichnend ist auch, dass der Periodische Sicherheitsbericht im Parlament nicht diskutiert wurde.
[17] Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz, Legalbewährung nach strafrechtlichen Sanktionen. Eine bundesweite Rückfalluntersuchung 2010 bis 2013 und 2004 bis 2013, 2016, im Internet abrufbar unter https://www.bmjv.de/DE/Service/Fachpublikationen/Rueckfallstatistik_doc.html (zuletzt abgerufen am 17.1.2020).
[18] Der Deutsche Viktimisierungssurvey 2017 ist über die Website des Bundeskriminalamtes abrufbar: https://www.bka.de/DE/AktuelleInformationen/StatistikenLagebilder/ViktimisierungssurveyDunkelfeldforschung/viktimisierungssurveyDunkelfeldforschung_node.html (zuletzt abgerufen am 17.1.2020).
[19] Durchaus erhellend ist die Lektüre des Protokolls der Ersten Beratung des von den Abgeordneten Irene Mihalic, Luise Amtsberg, Canan Bayram, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur fortlaufenden Untersuchung der Kriminalitätslage und ergänzenden Auswertung der polizeilichen Kriminalitätsstatistik (Kriminalitätsstatistikgesetz – KStatG), BT-Drs. 19/2000 in der 53. Sitzung vom 28.9.2018, S. 5772 ff.
[20] Vom 4.9.2012, BGBl. I S. 1854.
[21] BT-Drs. 17/9389.
[22] BT-Drs. 17/9389, S. 7.
[23] BT-Drs. 17/9389, S. 7.
[24] BT-Drs. 17/9389, S. 8.
[25] Positiver freilich Kubink/Springub, Der „Warnschussarrest“ – oder wie man einen „Untoten“ wiederbelebt, 2019. Dort (S. 67) wird dem Warnschussarrest zwar attestiert, keine „Wunderwaffe“ zu sein, aber das Potenzial (!) zu haben, „zur Befriedung der ein oder anderen kriminalrechtlichen Problematik beizutragen.“
[26] Klatt/Ernst/Höynck u.a., Evaluation des neu eingeführten Jugendarrestes neben zur Bewährung ausgesetzter Jugendstrafe (§ 16a JGG), 2016, S. 217. Redlicherweise soll an dieser Stelle nicht verschwiegen werden, dass dem Zitat noch zwei die Fundamentalkritik einbettende Sätze vorangehen. Sie lauten: „In der Zusammenschau zeigt sich, dass sich weder die Befürchtungen der Kritiker/innen der Einführung des § 16a JGG noch die Hoffnungen der Befürworter/innen in besonders großem Maße realisiert haben. Wie man das bewerten möchte, ist vor allem eine rechtspolitische Frage.“
[27] Gernbeck, Stationäres soziales Training im (Warnschuss-)Arrest. Implementation und Evaluation eines Modellprojekts in Baden-Württemberg, 2017, S. 414.
[28] BT-Drs. 19/6371.
[29] So betont in der Rede des AFD-Abgeordneten Tobias Matthias Peterka bei der Einbringung des Gesetzentwurfs am 14.12.2018, vgl. das Plenarprotokoll der 72. Sitzung des Deutschen Bundestags, S. 8501 ff.
[30] Mit Wirkung zum 1.1.1934 erließen die Nationalsozialisten das Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Sicherung und Besserung vom 24.11.1933 (RGBl. I, S. 1000). In einem neuen § 20a RStGB wurden eine Strafschärfung für „gefährliche Gewohnheitsverbrecher“ und in § 42e RStGB die Maßregel der Sicherungsverwahrung eingeführt.
[31] Vgl. auch Hestermann/Hoven, KriPoZ 2019, 127 ff.
[32] Vgl. dazu auch die Kolumne von Thomas Fischer mit dem Titel „Ein gartenzwergischer Straf-Orgasmus“ vom 15.3.2019, abrufbar unter https://www.spiegel.de/panorama/justiz/strafrecht-rueckfaelle-und-gewohnheitstaeter-kolumne-a-1257312.html (zuletzt abgerufen am 17.1.2020).
[33] Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz, a.a.O., S. 15. Dass dafür auch Selektionseffekte verantwortlich sind, soll nicht verschwiegen werden.
[34] Siehe die Angaben im „World Prison Brief“ unter https://www.prisonstudies.org/world-prison-brief-data, Stand: November 2019 (zuletzt abgerufen am 17.1.2020). .
[35] Vgl. etwa den Artikel „The First Step Act, explained“ unter https://www.vox.com/future-perfect/2018/12/18/18140973/state-of-the-union-trump-first-step-act-criminal-justice-reform v. 5.2.2019 (zuletzt abgerufen am 17.1.2020).
[36] Vgl. auch Eisenberg/Kölbel, Kriminologie, 7. Aufl. (2017), § 3 Rn. 16.
[37] Ein erster eigener bescheidener Versuch findet sich unter Kinzig, Noch im Namen des Volkes? Über Verbrechen und Strafe, 2020.
[38] Ein neuer Aufbruch für Europa. Eine neue Dynamik für Deutschland. Ein neuer Zusammenhalt für unser Land. Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD, im Internet abrufbar unter https://www.bundesregierung.de/breg-de/themen/koalitionsvertrag-zwischen-cdu-csu-und-spd-195906 (zuletzt abgerufen am 17.1.2020).
Mehrere Gedanken zu diesem Thema:
– Die Auseinandersetzung mit Kriminalität löst bei vielen Personen (berechtigte) Ängste und emphatische Gefühle in Bezug auf das Opfer aus, die oft schnell in blanken Hass oder gar offene Vernichtungsphantasien gegenüber dem vermeintlichen Täter oder den Tätergruppen umschwenken. In den Kommentarspalten einschlägiger Beiträge z. B. von „ZDF heute“ übertreffen sich die Kommentare regelmäßig gegenseitig: Innerhalb weniger Sekunden konnte man beispielsweise unter Beiträgen lesen, die über die anfängliche Haltung der Justizministerin in Bezug auf die Anhebung der Mindeststrafe für sexuellen Missbrauch berichteten, dass einige Personen jeden Täter „kastrieren“ oder am besten „entsorgen“ wollen. Freilich wurde auch Frau Lambrecht, insb. sexistisch, beschimpft. Gegen dieses Maß an Emotionalität kann eine „nur“ durchschnittlich informierte Person nicht ankommen.
– Diesem argumentativen Übergewicht muss mit informierter und geschickter Argumentation begegnet werden. Nicht selten muss man nämlich mit rhetorisch versierter Gegenrede rechnen. Ironischerweise bietet eine emotionale Gegenreaktion auf emotionale Hassbekundungen einen Angriffspunkt für dann auch berechtigte Kritik seitens derer, die zunächst krasse Beschimpfungen geäußert haben. So werden liberale und rechtsstaatliche Erwiderungen oft gegen den Verfasser gewandt, wenn dieser seinerseits einen rauen Ton anstimmt. Dadurch entsteht eine Art „Ping-Pong-Spiel“ im digitalen Diskurs. Beispielsweise lassen sich Diskussionen beobachten, in denen der „Eröffnungskommentar“ offen und eindeutig rassistische oder gar antisemitische Beschimpfungen und Verschwörungserzählungen zur Erklärung bestimmter Kriminalitätsfelder präsentiert. Darauf folgen – neben zustimmenden Kommentaren – häufig solche , die den Eröffnungskommentar als „dumm“ oder „braun“ bezeichnen oder den Verfasser (nicht selten berechtigterweise) als „Nazi“ oder „Wutbürger“ beschimpfen. Darauf erwidert der Verfasser des Eröffnungskommentars nicht selten, dass solche Ausdrücke nun ja ihn diskriminieren würden. Dem liegt ein universeller Vorwurf gegen die liberale Demokratie zu Grunde: Dieser ist demnach nur ein Konstrukt zu Aufrechterhaltung einer bestimmten (liberalen) Haltung. Personen, die diese Haltung vertreten, leben gut in einer liberalen Demokratie. Dies geht aber damit einher, dass Personen mit illiberaler Haltung „diskriminiert“ werden. Folgt man dem vorbehaltlos ist es eigentlich egal, ob Illiberale oder liberale Personen und Institutionen den Staat führen. Eine dieser Gruppen wird in jedem Fall diskriminiert. Aus diesem Gefühl der Benachteiligung wächst ein schamloser Anspruch die „Macht“ über den Staat zurückzugewinnen um so die Vorherrschaft der eigenen Gruppe zurückzuerobern. Dass diese Weltsicht ganz wesentliche Aspekte der Demokratie ignoriert und freilich nicht zu halten ist, kann an dieser Stelle als bekannt vorausgesetzt werden.
– Diese Phänomene sind aus kriminologischer Sicht von überragender Bedeutung, weil sich solche Auseinandersetzungen vor allem im Umfeld kriminologischer Fragestellungen abspielen. Man darf nicht vergessen, dass die von vielen Medien beschworene Spaltung der Gesellschaft in der Auseinandersetzung über die kriminelle Gefahr, die von Geflüchteten ausgehen soll, ihren Anfang genommen hat. Die öffentliche Diskussion und Meinungsbildung zu diesem Thema ist noch nicht abgeschlossen, was sich an den vielen widersprüchlichen Stellungnahmen zu den Vorfällen in Stuttgart letztens zeigt. Die Kriminologie ist daher in der Pflicht, auch zu solchen Themen regelmäßig und öffentlichkeitswirksam Stellung zu nehmen.
– Wie oben bereits dargestellt, kann dies aber nicht gelingen, wenn man seinerseits schwere Vorwürfe gegen Personen erhebt, die kriminologisch offenkundig unhaltbare Thesen vertreten. Dies kommt der Kriminologie aber eigentlich entgegen. Aus dem Wissen um viele Unklarheiten auf dem kriminologischen Spielfeld äußern sich die meisten Professoren sehr umsichtig. Diese wissenschaftliche Vorsicht kann gegenüber aufwieglerischen Äußerungen äußerst entwaffnend wirken und schaffen gerade in den Kommentarspalten auf sozialen Medien häufig ein angenehmes Klima, dass viele stumme Mitlesen dazu bringt, sich konstruktiv zu äußern.
– Die Kriminologie als insofern „höfliche“ Wissenschaft kann aber wie Herr Professor Kinzig nachdrücklich darstellt, nur wenig auf staatliche Unterstützung hoffen. Daher ist von den ohnehin zu wenigen Professoren Eigeninitiative gefragt. Es gibt mehrere noch umausgeschöpfte Möglichkeiten, die öffentliche Diskussion über Kriminalität zu prägen. Das sehr erfolgreiche Medium „Podcasts“ wird abseits von „true crime“ bisher viel zu wenig von Kriminologen bespielt. Natürlich gibt es auch hier schon einige Lichtblicke, es sei insb. auf die Podcastserie „Zeit Verbrechen“ hingewiesen. Die jüngere Generation informiert sich gerade zu gesellschaftspolitischen Themen immer öfter über dieses Medium. Ein Podcast dauert gerne einmal bis zu einer Stunde. Dies bietet genug Zeit, komplexe Themen aufzuarbeiten und auch um Werbung für die eigene Forschung zu machen. Es handelt sich um eine „win-win-Situation“. Das gleiche gilt freilich für „YouTube“. Hier finden sich vor allem soziologische Kanäle, nicht aber solche, die sich dezidiert der Kriminologie widmen. Dazu kommt, dass die gesellschaftliche Öffentlichkeit der beste -weil demokratischste- Zugang zu den staatlichen Institutionen ist.
– Es gilt also: Die Demokratie muss neue Medien nutzen, um die öffentliche Debatte über Kriminalität zu normalisieren. Das hat unsere Demokratie bitter nötig.