Markus Abraham: Sanktion, Norm, Vertrauen. Zur Bedeutung des Strafschmerzes in der Gegenwart

von Prof. Dr. Anja Schiemann 

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2018, Duncker & Humblot, Berlin, ISBN: 978-3-428-15528-5, S. 280, Euro 79,90.

Kriminalstrafe im herkömmlichen Sinne definiert man als intentionale Übelszufügung, die von einer staatlich zuständigen Stelle für eine Straftat gegenüber dem Täter in einem rechtlichen Verfahren verhängt wird. Durch diese Sicht wird laut Verfasser der Dissertation eine wesentliche Komponente der Strafe verdeckt, da gerade in den letzten Jahren Strafe als im Wesentlichen kommunikativer Vorgang herausgearbeitet worden sei. Dies sei die im Schuldspruch zum Ausdruck kommende Missbilligung der Tat, die den Verurteilten als verantwortlichen Urheber eines strafbaren Verhaltens identifiziert und ihm die Tat zuschreibt (S. 16 f.).

Im Zentrum der Dissertation steht nun die Frage, ob nicht gerade diese kommunikative Komponente den Kern der Strafsanktion ausmache und ob darüber hinaus die Komponente des Strafschmerzes als intentionale Übelszufügung überhaupt legitimiert werden kann (S. 17). Hierzu geht der Verfasser nach seiner Einleitung im zweiten Kapitel den straftheoretischen Begründungsvorschlägen des Strafschmerzes nach (S. 33 ff.). Er differenziert hierbei nach intrinsischen Begründungsansätzen, dem Strafschmerz im aufgeklärten Eigeninteresse (nach Norbert Hoerster), dem Klugheitsgrund und Opfersolidarisierung (Tatjana Hörnle), Schmerz für die Wirklichkeit der Norm (Günther Jakobs), der Pflicht zur Mitwirkung am gemeinsamen Projekt der Freiheit (Michael Pawlik), dem Schmerz, der richtigstellt (Jean Hampton), dem Strafschmerz als Einlösung der Notwehrpflicht (Victor Tadros) und dem Strafschmerz als Reue (Antony Duff).

Als gemeinsame Komponente aller Ansätze identifiziert Abraham, dass der Vorgang der Strafe insgesamt als kommunikativer Akt verstanden wird (S. 173). Die Sprachabhängigkeit des Straf-Vorgangs lege es zwar nahe, das sprachliche Element der Strafe genauer zu untersuchen. Allerdings genüge die generelle Bindungswirkung des Sprechakts nicht bzw. nur unter bestimmten Umständen als strafrechtliche Reaktion (S. 176). Allerdings habe dies nicht zur Konsequenz, dass ein Strafschmerz den Sprechakt der Missbilligung unterstreichen muss.

Daher untersucht der Verfasser im Folgenden, warum der Mensch Gründen folgt und ein normativer Akteur ist und woher  die  Normen  kommen  und  warum  es wichtig ist, auch das nötige Vertrauen mit demjenigen herzustellen zu versuchen, der eine Straftat begangen hat. Hierzu geht Abraham zunächst der Frage nach Sanktionalität und Normativität auf den Grund (S. 178 ff.). Nach Brandom geht es zunächst darum, eine Behauptung als berechtigend bzw. als nicht-berechtigend zu behandeln. Die praxisimpliziten Normen lägen in der Praxis des wechselseitigen Sanktionierens der Akteure, d.h. in der Praxis des deontischen Kontoführens selbst. Daraus folgt, dass wir unsere Normen aus unseren Richtigkeitsvorstellungen schaffen und anhand dieser Richtigkeits-Festlegung unser Konto führen würden und dadurch zugleich Wächter unserer Normen seien (S. 193 f.).

Hier stellt der Verfasser eine Parallele zu Locke her. Auch dieser gehe von einer genuinen und ursprünglichen Sanktionskompetenz der Akteure aus. Zusätzlich beleuchtet Locke jedoch noch das Vertrauen der Akteure in die jeweilige Vertragstreue des anderen (S. 196). Dieses Element des Vertrauens macht Abraham nun fruchtbar auch für das Modell des Kontoführens von Brandom, um so ein alternatives Verständnis von Tat und Strafe zu entwickeln.

Das Strafrecht regelt, so der Verfasser, den grundlegend-sten Bereich, in dem jemand als zuverlässig oder unzuverlässig angesehen werden kann. Aufgrund der Zufälligkeit und Anonymität der Kontakte sowie der Irreversibilität und Schwere der drohenden Rechtsgutsverletzung sei hier in besonderem Maß ein generalisiertes Vertrauen erforderlich. Daher erscheine es plausibel, dem Strafrecht die Funktion einer zentralisierten Zertifizierung zuzuweisen. Das bedeutet, den Entzug dieses Vertrauens autoritativ und stellvertretend für alle Akteure der Kontoführungspraxis erklären und gleichzeitig anzugeben zu können, was für eine Vertrauenswiederherstellung erforderlich sei. Es gehe hier nicht darum, die Akteure als vertrauensunwürdig zu brandmarken, als vielmehr darum, sie zu befähigen, sich als vertrauenswürdig auszuweisen (S. 216).

Daher identifiziert der Verfasser im weiteren Verlauf seiner Untersuchung Gründe, die dafürsprechen, nicht exkludierend zu sanktionieren. Das Strafrecht würde künstliche „Klugheitsgründe“ aufstellen, die den potentiellen Täter Anreiz gäben, die Gesetze zu befolgen. Darauf gründe unser Vertrauen in deren Legalität. Allerdings sei der Grund der Strafe die Verletzung des Opfers, d.h. hier greife das Konstrukt der Klugheitsgründe ja gerade nicht (S. 219). Zudem müsse der Akteur den Verhaltensanforderungen nicht zustimmen, weil er das Schädigungsverbot akzeptiert und gutheißt. Es könne auch sein, dass der Akteur aus reiner Nachteilsvermeidung gegenüber sich selbst den Verhaltensanforderungen nachkommt (S. 220 f.).

Insofern, so die Forderung von Abraham, sollten wir auf diese Klugheitsgründe verzichten, um sich kein künstliches Additivum zu schaffen (S. 221). Die Strafe infolge der Missachtung von Klugheitsgründen durch den Täter diene dazu, die abschreckende Wirkung dieser Gründe zu erhalten, indem durch die tatsächliche Verhängung der Strafe vermieden werde, dass die Klugheitsgründe sich als leere Drohung erweisen. Stünde aber der Verletzte, also das Opfer, im Fokus der Straftheorie, dann sei die Legitimationsidee der Klugheitsgründe fragwürdig, da es dann um die Verarbeitung des tatsächlich geschehenen Delikts gehen würde (S. 231).

Allerdings verschweigt der Verfasser nicht, dass es sich keineswegs um eine etablierte Ansicht handelt, den Verletzten in das Zentrum straftheoretischer Überlegungen zu stellen. Abraham positioniert sich hier aber entgegen der herrschenden Lehre eindeutig und sieht die Verletzung des Opfers als Grund und nicht nur als Anlass für das Strafrecht an. Beim Strafrecht handele es sich um einen horizontalen Konflikt, der jedoch auch alle übrigen Akteure der Rechtsgemeinschaft interessiere. So gesehen läge der Strafgrund in der Anerkennungsverletzung gegenüber dem Verletzten, die von den übrigen Akteuren für so gravierend gehalten werde, dass sie einer allgemeinen Stellungnahme und Reaktion bedürfe (S. 231). Daher plädiert der Verfasser für eine Aufwertung des Opferstatus (S. 232).

So sei die Zufügung des Strafschmerzes kein unabdingbarer  Teil  der  Reaktion  auf  zurechenbares  Unrecht.  Vielmehr sei der Ausgleich mit dem Verletzten ein wichtiges Mittel zur Demonstration von legaler Vertrauenswürdigkeit. Das Strafrecht ermögliche es dem Verurteilten, sich in einem institutionalisierten Verfahren stellvertretend gegenüber allen Akteuren als rechtlich vertrauenswürdig zu präsentieren, und dies ohne und um nicht willkürlich strafenden Reaktionen der einzelnen Akteure ausgesetzt zu sein (S. 265). Der Täter soll nach Abraham dazu befähigt werden, Bedingungen zu schaffen, die es den anderen Akteuren ermöglichen, sich der Bereitschaft des Täters, rechtlich relevanten Gründen zu folgen, wieder gewiss zu sein (S. 267). Die spannende Frage, wie der Täter dieses Vertrauen in ihn wiederherstellt, beantwortet der Verfasser leider nicht, sondern überlässt es den praktischen Erfahrungen von Psychologen, Bewährungshelfern, Sozialtherapeuten und Richtern (S. 268).

Insoweit weist die Dissertation den Weg für darauf aufbauende – praxisorientierte und empirische – Studien. Die Dissertation ist für all diejenigen von Interesse, die sich mit theoretischen Aspekten der „Strafe“ auseinandersetzen. Sie gibt Denkanstöße in eine Richtung, die unsere Einstellung zu Sinn und Zweck der Strafe künftig revidieren oder modifizieren könnte – bis hin zu der Vorstellung, sich ganz vom Bedürfnis der Zufügung von „Strafschmerz“ zu verabschieden.

 

 

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