Nathalie Isabelle Thorhauer: Jurisdiktionskonflikte im Rahmen transnationaler Kriminalität – Zur Koordination der Strafgewalten über nationale Personen und Unternehmen in der Europäischen Union

von Oliver Michaelis, LL.M., LL.M. 

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2019, Nomos Verlag, Baden-Baden, ISBN: 978-3-8487-5396-3, S. 853, Euro 146,00

I. Einleitung 

Thorhauer gliedert ihre Arbeit in eine Einleitung, acht Themenkapitel (Kapitel 1-8, S. 60-794) und ihr Ergebnis (S. 795-803).

II. Zur Einleitung – Seiten 33-59

In ihrer Einleitung führt die Autorin bereits recht ausführlich in die Thematik der Jurisdiktionskonflikte ein. Dabei stellt sie die Probleme dar, die sich bei der grenzüberschreitenden Strafverfolgung ergeben können und erklärt die grundlegende Begriffsbedeutung von „Jurisdiktion“ als „Strafgewalt“ oder „das Recht (überhaupt) zu strafen“ (ius puniendi), sowie das Verständnis des Begriffselements „Konflikt“ als auch ferner die enge und weite Bedeutung der titelbildenden (abstrakten und konkreten sowie positiven und negativen) „Jurisdiktionskonflikten“ bei grenzüberschreitender Kriminalität.

III. Zum Teil 1 Kapitel 1: Begründung von Strafgewalt im Kontext grenzüberschreitender Kriminalität und Entstehung von Jurisdiktionskonflikten – Seiten 60-125 

Das erste Kapitel unterteilt Thorhauer in vier Teile: In Teil I erläutert sie die Ausprägungen staatlicher Strafgewalt (S. 60-68), also die hoheitlichen Befugnisse und bestimmte Verhaltensweisen, die ein Land für sich beansprucht, um in Rede stehende Sachverhalte einer eigenen strafrechtlichen Bewertung zu unterziehen sowie eine Strafandrohung festzusetzen – kurz: hier geht es um das rechtliche Dürfen eines Staates.

Der Teil II dieses Kapitels stellt die Legitimation der staatlichen Strafgewalt aus völkerrechtlicher Perspektive auf den Seiten 68 bis 82 dar. Dazu wird die Lotus-Entscheidung[1] erläutert, die zu dem Ergebnis der grundsätzlich beschränkten territorialen Vollzugsgewalt führte – kurz: Staaten dürfen auf fremden Territorien keine eigene Strafgewalt (jurisdiction to enforce) ausüben, so dass sich daraus ein völkerrechtlich anerkanntes Nichteinmischungsgebot entwickelt hat. Dies änderte sich partiell erst durch die Yerodia-Entscheidung des IGH[2] vom 14.2.2002, so dass „heute die überwiegende Völkerrechtslehre davon ausgeht, dass die Inanspruchnahme von Strafrechtssetzungsgewalt über Auslandssachverhalte die Souveränitätssphäre fremder Staaten tangiert und deshalb nur bei Vorliegen einer entsprechenden völkerrechtlichen Erlaubnisnorm zulässig ist.“ (S. 77), so dass ein „sinnvoller Anknüpfungspunkt“ oder „genuine link“ notwendig wird, wie die Entscheidung im Fall des Friedrich Nottebohm anschaulich aufgezeigt hatte.

Im Teil III (S. 82-92) erläutert Thorhauer inwiefern das nationale Strafanwendungsrecht (§§ 3-7, 9 StGB) als Quelle für die Entstehung von Jurisdiktionskonflikten ursächlich ist und sie zieht dabei einen sinnvollen Vergleich zum Internationalen Privatrecht (IPR) als „echtes Kollisionsrecht“, bei dem Kollisionskonflikte, die sich durch die Anwendung der verschiedenen Rechtsordnungen ergeben, versucht werden zu priorisieren und final aufzulösen. Anders wird aber im Völkerrecht verfahren, bei dem das nationale Strafanwendungsrecht zutreffender Weise eher als „kollisionsbegründend“ bewertet werden kann.

Die Autorin widmet sich im Teil IV (S. 92-124) den weiteren Impulsen, die dafür zweckdienlich sind, dass die Kompetenzüberschneidungen zwischen den jeweiligen Staaten eher zunehmen als abnehmen. Sie macht dafür sowohl den grundsätzlichen Globalisierungsprozess, die „Entterritorialisierung der nationalen Strafgewalt“ bzw. auch den Europäischen Haftbefehl oder die sog. joint investigation teams (JIT) (basierend auf dem Prinzip der gegenseitigen Anerkennung), als auch die Institutionen wie die in der Gründung befindliche Europäische Staatsanwaltschaft bzw. Europol oder Eurojust verantwortlich, da diese „als hybride Institutionen sowohl kooperative als auch supranationale Merkmale aufweisen und die Vernetzung der nationalen Behörden verstärken“ (S. 113).

IV. Zum Teil 1 Kapitel 2: Problemfelder und kollidierende Interessensphären in transnationalen Strafverfahren – Seiten 126-162

Das 2. Kapitel wird unterteilt in die Darstellungen über die Perspektiven der Staaten (S. 126-137), die Perspektiven von Individuen und Unternehmen als Normadressaten (S. 138-154), die Perspektiven von Opfern, Geschädigten und sonstigen Zeugen (S. 154-157) sowie in die Interessen der Allgemeinheit (S. 157-162). Kurz gesagt geht es darum zu ergründen, wer hat welche Interessen an der Strafverfolgung und wieso.

V. Zum Teil 2 Kapitel 3: Völkerrechtliche Anknüpfungsprinzipien zur Begründung von Strafgewalt und ihre Bedeutung für die Konfliktentstehung – Zugleich ein Abriss zum deutschen Strafanwendungsrecht der §§ 3-7, 9 StGB – Seiten 163-260

Sehr umfassend und ausführlich erläutert die Autorin in ihrem Kapitel 3 die Möglichkeiten der völkerrechtlichen Anknüpfungsprinzipien (Strafanwendungsrecht) anhand des Territorialitätsprinzips (S. 164-196), des aktiven (S. 196-211) sowie des passiven Personalitätsprinzips (S. 212-219), als auch durch das Staatsschutz- oder Realprinzip (S. 220-228), das Universalitäts- oder Weltrechtsprinzip (S. 228-244) sowie mittels des Prinzips der stellvertretenden Strafrechtspflege (S. 244-258).

VI. Zum Teil 2 Kapitel 4: Sanktionsgewalt über transnationale Taten von Verbänden – Seiten 261-344

In Kapitel 4 geht Thorhauer der sich ergebenden Frage nach, wie die Staaten überhaupt eine Sanktionsgewalt über Taten begründen können, die von juristischen Personen verübt wurden. Konkret: wie und wo besteht die Verbindung der Verbandsverantwortlichkeit mit den o.g. völkerrechtlichen Anknüpfungspunkten (S. 267-286). Darauf aufbauend erläutert die Autorin Modelle akzessorische Haftung, Modelle der originären Unternehmensverantwortlichkeit und geht auch der zwingenden Frage nach einer originären Verbandverantwortlichkeit sowie einer Möglichkeit nach § 3 OWiG nach. Die sich durch die Modelle ergebene Konsequenz können Jurisdiktionskonflikte und somit die Verdopplung von Konfliktebenen sein. Diese Darstellung ist enorm spannend zu lesen.

VII. Zum Teil 3 Kapitel 5: Ne bis in idem – Transnationales Verbot der Doppelbestrafung und -verfolgung – Seiten 346-463 

Dass Jurisdiktionskonflikte das Risiko der Doppelbestrafung bürgen, erscheint nachvollziehbar zu sein – doch der ne bis in idem-Grundsatz soll solche Situationen gerade dahingehend lösen, dass eine erneute Bestrafung oder Verfolgung einer Person wegen derselben Straftat, zu der diese Person bereits rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen wurde, gerade ausgeschlossen sein soll. Nachdem Thorhauer den Rechtssatz ne bis in idembis zu seinem Ursprung analysierend in der griechischen Antike verortete, erläuterte sie dessen Reichweite und die inhaltliche Bestimmung – auch vergleichend mit anderen Rechtsordnungen. Über Art. 50 der EU-Grundrechtecharta (GRC) wurde ne bis in idem im Vertrag von Lissabon und somit im EU-Primärrecht (Art. 6 Abs. 1 EUV) fixiert. Doch bereits im Schengener Durchführungsübereinkommen (SDÜ) ließ sich seit dem Jahr 1990 eine Regelung zur Doppelbestrafung finden, Art. 54 SDÜ. Folglich analysiert die Autorin den Anwendungsbereich des Art. 50 GRC sowie sein Verhältnis zu Art. 54 SDÜ (S. 355-359) und beleuchtet dazu ausgiebig die EuGH-Rechtsprechung (S. 359-406). Schließlich geht Thorhauer in diesem Kapitel noch ausführlich auf die spezifischen Probleme der Doppelbestrafung bei Sanktionen von Unternehmen (S. 406-446) ein.

VIII. Zum Teil 3 Kapitel 6: Mechanismen auf Ebene des Unionssekundärrechts – Seiten 464-498

In Kapitel 6 erläutert Thorhauer den Rahmenbeschluss 2009/948/JI zur Vermeidung und Beilegung von Kompetenzkonflikten in Strafverfahren[3]vom 15.12.2009 (S. 465-483), durch welchen parallele Strafverfahren innerhalb der EU wegen derselben Taten gegen dieselbe Person vermieden werden sollen – um mit ihm ein Defizit von Art. 54 SDÜ und Art. 50 GRC zu schließen. Leider vermag der Rahmenbeschluss die Jurisdiktionskonflikte nur zu begrenzen, nicht aber gänzlich zu schließen und schon gar nicht zu vermeiden.

IX. Zum Teil 4 Kapitel 7: Gewinn eines rechtsstaatich-prinzipienorientierten, freiheitlichen Konzepts zur Realisierung eines wahrhaften Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Seiten 499-633

Leider vermögen sowohl der Rahmenbeschluss als auch die ne bis in idem-Regelung die Jurisdiktionskonflikte im Bereich der transnationalen Kriminalität nur suboptimal zu bekämpfen. Somit versucht Thorhauer eine normative Korrektur zu finden bzw. wie der Stauts quo des freien „Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Recht“ in Koexistenz zu bringen ist. Dazu untergliedert sie ihr Kapitel 7 in fünf interessante Abschnitte: In die Darstellung über die Notwendigkeit eines Auswegs aus der Netzwerkperspektive (S. 500-516), der Darstellung über die Freizügigkeit in einem Raum der Freiheit (S. 516-555), der Erläuterung des Gesetzlichkeits- und Schuldprinzips sowie des europäischen Gesetzmäßigkeitsprinzips (S. 555-612), der Darstellung des Rechts auf einen gesetzlichen Richter (S. 612-622) sowie der Darstellung des Rechts auf ein faires Verfahren bzw. einer effektiven Verteidigung (S. 622-632).

X. Zum Teil 4 Kapitel 8: Konzept zur Lösung von Jurisdiktionskonflikten de lege ferenda – Seiten 634-794

Bei der weiteren Suche nach einer Lösung der Jurisdiktionskonflikte widmet sich die Autorin in ihrem Kapitel 8 dazu mehreren Konzepten, die (zur Vermeidung eben solcher Konflikte) sinnvollerweise auch auf der europäischen Ebene implementiert sein sollten. Thorhauer bietet dabei ein „Drei-Stufen-Modell zur Konfliktlösung“ als eigenen Vorschlag an (S. 661-667), reflektiert aber auch andere völkerrechtliche Anknüpfungsprinzipien. Dazu führt sie zu einer abstrakt-generellen Zuständigkeitsordnung ex ante (1. Stufe) auf den Seiten 668-724, einer verfahrensmäßig abgesicherten Zuständigkeitsfestlegung ex post (2. Stufe) (S. 724-757) und für die 3. Stufe mittels der Justiziabilität der Forumswahl (S. 758-761) aus. Abschließend und abrundend werden weitere damit im Zusammenhang stehende Probleme erläutert, wie bspw: die Einführung eines EU-weiten elektronischen Strafverfahrensregisters, einer Anklagesperre für die Dauer des Konsultationsverfahrens bis zur rechtskräftigen Entscheidung, der Möglichkeit eines (einmaligen) Zuständigkeitswechsels bei dem Auftreten neuer Erkenntnisse bis zum Abschluss der Ermittlungen oder ein zu modifizierendes ne bis in idem-Konzept. Thorhauer schließt das Drei-Stufen-Modell sowohl durch eine graphische Darstellung (S. 794), als auch durch eine sehr sinnvolle Modellregelung (S. 782-793) ab.

XI. Zum Teil 5: Zusammenfassung der Ergebnisse und Ausblick – Seiten 795-803

Abschließend fasst Thorhauer (neben den zahlreichen Zwischenfazits) ihr komplettes Werk kurz und knapp zusammen.

XII. Fazit

Die Darstellung von Thorhauer ist als sehr gelungen zu bezeichnen. Unzweifelhaft stellt sie eine enorme Fleißarbeit dar. Ihre Arbeit ist stets übersichtlich strukturiert und führt zu sämtlichen Aspekten zu diesem Themenkomplex mehr als ausführlich und beinahe erschöpfend zum aktuellen Stand der Wissenschaft aus. Thorhauer beschäftigt sich mit einem für die Entwicklung der Strafverfolgung enorm wichtigen Thema, welches für den wissenschaftlichen Diskurs längst überfällig gewesen ist – der Koordination der Strafgewalten in der Europäischen Union zur Vermeidung von Jurisdiktionskonflikten.

 

[1]      StIGH, Urt. v. 7.9.1927, PCIJ Series A No 10, S. 3 ff.
[2]      siehe dazu: Schultz, ZaöRV 2002, 703-758.
[3]      ABIEU L 328 v. 15.12.2009, S. 42.

 

 

 

 

 

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