Strafrecht und Meinungsfreiheit: ein paar Überlegungen zu § 104 Abs. 1 S. 2 StGB

von RA Dr. Mayeul Hiéramente

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Abstract
Im Juni 2020 wurde als Reaktion auf das öffentliche Verbrennen von israelischen Flaggen die Strafvorschrift des § 104 StGB ergänzt. Nunmehr sollen Handlungen, die die Staatenehre eines ausländischen Staates und die Funktionsfähigkeit der diplomatischen Beziehungen beeinträchtigen können, auch dann unter Strafe gestellt werden, wenn diese vom Handeln selbst erworben und dann medienwirksam zerstört werden. Ein Konflikt mit Art. 5 Abs. 1 GG ist vorprogrammiert und dürfte eine äußerst restriktive Auslegung der Vorschrift zur Folge haben, die Zweifel an der Sinnhaftigkeit der Norm weckt.

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Der Gesetzentwurf der Bundesregierung zur effektiveren Bekämpfung von Nachstellungen und bessere Erfassung des Cyberstalkings

von Prof. Dr. Jörg Eisele

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Abstract
Der Beitrag beschäftigt sich mit dem Gesetzentwurf der Bundesregierung zur effektiveren Bekämpfung von Nachstellungen und besseren Erfassung des Cyberstalkings. Dabei soll der Grundtatbestand ausgedehnt, um weitere Nachstellungshandlungen des Cyberstalkings ergänzt und die ursprüngliche Qualifikation in einen besonders schweren Fall mit (weiteren) Regelbeispielen umgewandelt werden. Abgesehen von Ausgestaltungen im Detail ist der Entwurf insgesamt positiv zu bewerten.

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„Bekämpfungsstrafrecht“ außer Rand und Band – Zur unverhältnismäßigen Reform des Geldwäschetatbestands

von Prof. Dr. Anja Schiemann

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Abstract
Der Geldwäschetatbestand ist die am häufigsten geänderte Vorschrift des StGB. Seit seiner Einführung im Jahr 1992 reiht sich eine Reform an die andere, häufig initiiert durch umzusetzende EU-Richtlinien. Auch die neue Reform ist der überfälligen Umsetzung der EU-Richtlinie 2018/1673 geschuldet, geht aber weit über das erforderliche Maß an Änderungen hinaus und führt zu einer unverhältnismäßigen Verschärfung mit weitreichenden Konsequenzen in der Praxis. Das Gesetz zur Verbesserung der strafrechtlichen Bekämpfung der Geldwäsche ist am 18.3.2021 in Kraft getreten.

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Das Stigma der Denunziation bei anonymen Hinweismeldungen am Beispiel des HinSchG-E – ein Trugschluss!

von Wiss. Mit. Kimberly Erlebach und Wiss. Mit. Miguel Veljovic, LL.M.oec

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Abstract
Im Februar 2021 wurde der Referentenentwurf eines Gesetzes für einen besseren Schutz hinweisgebender Personen sowie zur Umsetzung der Richtlinie zum Schutz von Personen, die Verstöße gegen das Unionsrecht melden veröffentlicht. Der Entwurf hat sich klar gegen eine verpflichtende Nachverfolgung anonymer Hinweismeldungen durch die zuständigen internen und externen Meldestellen entschieden. Als vermeintliches Hauptargument wurde in der Begründung zum Referentenentwurf des HinSchG-E die Möglichkeit des Missbrauchs durch denunzierende Meldungen vorgebracht. Trotz der derzeitigen Schwierigkeiten der Einigung im parlamentarischen Verfahren und die Wahrscheinlichkeit, dass der Entwurf aufgrund der sachlichen Diskontinuität parlamentarischer Angelegenheiten wohl nicht in der Form in der jetzigen Legislaturperiode zustandekommen wird, setzt sich der Beitrag kritisch mit der fehlenden Verpflichtung zur Entgegennahme und Nachverfolgung anonymer Hinweismeldungen auseinander, indem die Argumentationslinie der Entwurfsverfassenden einer kritischen rechtlichen und wirtschaftskriminologischen Prüfung unterzogen wird.

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Perspektiven der Suizidbeihilfe in Deutschland – Eine Anmerkung zum interfraktionellen Abgeordnetenentwurf eines Suizidhilfegesetzes und zum Diskussionsentwurf des BMG zur Neufassung der Strafbarkeit der Hilfe zur Selbsttötung

von Dipl.-Jur. Niklas Pfeifer

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Abstract
Seit der Nichtigerklärung des umstrittenen Verbots der geschäftsmäßigen Suizidbeihilfe durch das BVerfG im vergangenen Jahr sucht die Politik nach einem neuen Regelungskonzept zum Ausgleich des individuellen Rechts auf Inanspruchnahme von Hilfe bei der Verwirklichung eines selbstbestimmten Selbsttötungsentschlusses mit der staatlichen Pflicht zum Schutz von Autonomie und Leben. Dass das keine leichte Aufgabe ist, zeigt sich auch in den bislang vorliegenden Gesetzesentwürfen. Der Diskussionsentwurf des Bundesministeriums für Gesundheit schockiert, indem er ein generelles, noch über § 217 StGB a.F. hinausgehendes strafrechtliches Verbot der Suizidbeihilfe zum Ausgangspunkt nimmt, während der Abgeordnetenentwurf die Entscheidung über die Freiverantwortlichkeit des Suizidwilligen unter kategorischer Ausblendung des ärztlichen Ethos allein in die Hände des Sterbehelfers und damit i.d.R. in die eines Arztes legen will. Keiner der Entwürfe kann überzeugen. 

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Lauter Verrisse

von Prof. Dr. Elisa Hoven 

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Im vergangenen Jahr haben gleich zwei Rezensionen strafrechtswissenschaftlicher Qualifikationsschriften in der Online-Zeitschrift ZIS für Aufregung gesorgt. Insbesondere die Besprechung der Habilitationsschrift von Frauke Rostalski durch Carl-Friedrich Stuckenberg gibt Anlass,[1] über die Bedeutung von Rezensionen sowie die Anforderungen an Unvoreingenommenheit und Stil zu diskutieren.[2] Einige meiner Gedanken möchte ich hier skizzieren.

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Diskurs statt Diffamierung – Über die Funktion von Buchrezensionen

von Prof. Dr. Thomas Weigend

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Die prononciert negativen Rezensionen von Monographien zweier jüngerer Strafrechtlerinnen in der Online-Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik[1] (ZIS) haben die community des Strafrechts in Aufregung versetzt. Stellungnahmen dazu wurden in der ZIS veröffentlicht,[2] und der Kriminalpolitische Kreis aus 35 deutschen StrafrechtsprofessorInnen hat sich anhand der beiden „Fälle“ auf einer internen Veranstaltung am 4. Mai 2021 mit den Aufgaben und Problemen von Buchbesprechungen beschäftigt. Der folgende Beitrag greift manche der dort geäußerten Gedanken auf, gibt aber selbstverständlich nur die Meinung des Autors wieder. Der Fokus liegt dabei nicht auf einer Beurteilung der beiden (in Ton und Inhalt durchaus unterschiedlichen) Rezensionen, sondern auf der allgemeinen Frage, was von Besprechungen strafrechtlicher Bücher geleistet werden kann und sollte – und was nicht.

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Anforderungen an die Beweiswürdigung zur Täterschaft eines Angeklagten – BGH, Urt. 14.1.2021 – 3 StR 124/20

Urteil als Vollversion / Vorinstanz: LG Düsseldorf, Urt. v. 31.7.2018 – 111 Js 379/00 1 Ks 17/17

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[…]

Gründe:

1    Das LG hat den Angeklagten vom Vorwurf des versuchten Mordes in zwölf Fällen in Tateinheit mit Herbeiführen einer Sprengstoffexplosion freigesprochen und ihm eine Entschädigung wegen der gegen ihn durchgeführten Ermittlungsmaßnahmen zuerkannt. Hiergegen wendet sich die zuungunsten des Angeklagten eingelegte, auf mehrere Verfahrensrügen und auf die Sachrüge gestützte Revision der Staatsanwaltschaft, die vom Generalbundesanwalt nicht vertreten wird. Gleichzeitig hat die Staatsanwaltschaft sofortige Beschwerde gegen   die Entschädigungsentscheidung eingelegt.

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Rechtspolitische Lehren aus dem Wehrhahn-Prozess – BGH, Urt. v. 14.1.2021 – BGH 3 StR 124/20

von RA Dr. Gerd J. van Venrooy

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I. Sachverhalt

Das Revisionsurteil ist seit dem 10. März 2021 auf der BGH-Internetseite nachzulesen. In den Worten des BGH ging es um Folgendes:

„Nach den vom Landgericht getroffenen Feststellungen wurde am 27. Juli 2000 im Bereich des S-Bahnhofs Düsseldorf-Wehrhahn auf der Rückseite des zu den Gleisen gelegenen Geländers einer Fußgängerbrücke eine mit dem Sprengstoff Trinitrotoluol (TNT) befüllte Rohrbombe zur Explosion gebracht. Der Sprengkörper war nicht industriell hergestellt, mit einem externen Zündmechanismus versehen und wurde mit einer funkgesteuerten Fernzündung ausgelöst. Zum Zeitpunkt der Explosion befand sich auf der Fußgängerbrücke eine Gruppe aus Russland, der Ukraine und Aserbaidschan stammender Personen – davon vier jüdischer Abstammung –, die zuvor eine anliegende Sprachschule besucht hatte. Zehn dieser Personen wurden von den durch die Sprengung ausgelösten Splittern – teilweise lebensgefährlich – verletzt. Eine im sechsten Monat schwangere Geschädigte verlor ihr Kind. Der rechtsradikal eingestellte Angeklagte, der längere Zeit als Berufssoldat tätig gewesen war, wohnte rund 500 Meter vom Explosionsort entfernt und war Inhaber einer unweit gelegenen Militariahandlung. Er befand sich zum Zeitpunkt des Anschlags in der Nähe des Tatorts. Dass er die Explosion ausgelöst hatte, hat die Strafkammer nicht festgestellt.“

II. Notwendiger Freispruch

In der Tat: Dass der Angeklagte die Explosion ausgelöst hätte, „hat die Strafkammer nicht festgestellt“. Es war abzusehen, dass der Prozess so enden würde, und zwar von vornherein. Nicht einmal ein Fehl-Geständnis des Angeklagten, wie es nicht selten vorkommt, hätte zu einer anderen Einschätzung führen können. Mehr als schwache Mutmaßungen und „Zeugen“ in Anführungszeichen hatte der Angeklagte nicht gegen sich. Ob es überhaupt einen einzigen außerhalb des Strafrechtssystems und der Medien Stehenden gab, der an die Täterschaft des Angeklagten geglaubt hätte, darf bezweifelt werden. Die Strafkammer jedenfalls gehörte nicht dazu. Und die Bundesanwaltschaft genauso wenig; laut BGH-Urteil vertrat sie nämlich die Revision der Staatsanwaltschaft nicht. Der BGH schließlich gab der Strafkammer in knappen Worten recht.

In eine solche Lage kann jeder geraten. Grund ist § 200 Abs. 1 Satz 1 und 2 StPO, der für den Inhalt der Anklageschrift nur recht großzügige Vorgaben macht. Diese Stelle beschreibt gründlicher und erlebbarer als der gesamte GG-Grundrechtskatalog, wie in diesem Land die Freiheit eingestuft wird. Eine Reform ist überfällig, etwa mit folgender Formulierung:

„§ 200 Abs. 1 Satz 1 und 2 werden durch folgende Sätze 1 bis 3 ersetzt: Die Anklageschrift hat den Angeschuldigten, die Tat, die ihm zur Last gelegt wird, sowie Zeit und Ort ihrer Begehung anhand einer Herleitung aus den gesetzlichen Merkmalen der Straftat und der anzuwendenden Strafvorschriften zu bezeichnen (Anklagesatz). Die Beweismittel sind dem Anklagesatz so zuzuordnen, dass erkennbar ist, welche Umstände mit jedem von ihnen bewiesen werden sollen. In ihr sind ferner das Gericht, vor dem die Hauptverhandlung stattfinden soll, und der Verteidiger anzugeben.“

Auf einer solchen Basis würde die Zahl gerichtlicher Nichteröffnungsbeschlüsse (§ 204 Abs. 1 StPO) nach oben schnellen. Das wäre schon einmal ein gutes Zwischenergebnis. Die Entwicklung würde auf längere Sicht dahin gehen, dass deutlich weniger Anklageschriften verfasst würden; das hätte auch Personaleinsparungen zur Folge.

III. Öffentliche Vorverurteilung

Die Strafkammer blieb stets unbeeindruckt von der Ablehnung, die dem Angeklagten in der Öffentlichkeit entgegengebracht wurde, insbesondere nachdem sie noch während der Hauptverhandlung den Haftbefehl aufgehoben hatte mit der zutreffenden Begründung, der Verdacht gegen ihn sei nicht mehr dringend (§ 120 Abs. 1 S. 1 Var. 1 StPO). Die Medien hätten ihn gern verurteilt gesehen und kritisierten demnach auch die Haftentscheidung, wahrscheinlich weil sie die vorprozessuale Presseverlautbarung der Kriminalpolizei über ihre Ermittlungen positiv kommentiert hatten und sich jetzt ins Unrecht gesetzt sahen.

Das Thema „öffentliche Vorverurteilung“ ist alles andere als neu. Aber dieser Fall weist eindrücklich darauf hin, dass es noch lange nicht bewältigt ist. Man glaubt gern jeder Strafkammer, dass sie darauf nicht hereinfällt. Aber auch ohne ein derartiges Fehlverhalten leidet die Lebensgestaltung eines nicht in Untersuchungshaft befindlichen Angeklagten erheblich unter einer solchen Situation. Dieser sah sich nach Aufhebung des Haftbefehls veranlasst, sich zwischen den Hauptverhandlungsterminen zu verstecken (was wiederum als Haftgrund nach § 112 Abs. 2 Nr. 1 Var. 2 StPO hätte aufgefasst werden können, wenn es nicht mit der Strafkammer abgestimmt war). Und er musste sich von den Medien die Frage gefallen lassen, ob er jetzt in irgendeinem Zelt hinter dem Landgericht (wo es in der Tat ein entsprechendes, teilweise benutztes offenes Gelände gibt) sein Essen zubereite. Die Berichterstattung über den Freispruch und die Verwerfung der Revision durch den BGH blieb auf eben diesem Niveau. Von einer Reaktion des Deutschen Presserats war nichts zu vernehmen. Ebenso stumm blieb der NRW-Ministerpräsident als Inhaber der Rechtsaufsicht über den WDR nach § 54 Abs. 1 Satz 1 WDR-Gesetz. Und er hätte Grund gehabt, laut zu werden: Den Umstand, dass der Angeklagte sich gegen die Vorwürfe aus der Anklageschrift verteidigte, als „Erzählen von Räuberpistolen“ zu bezeichnen, verstieß glatt gegen die persönliche Ehre des Angeklagten (§ 5 Abs. 1 S. 2 WDR-Gesetz) und seine Menschenwürde (§ 5 Abs. 2 WDR-Gesetz).

Das darf so nicht weitergehen. Es muss zumindest dafür gesorgt werden, dass die Medien nicht offen Stimmung machen gegen einen Beschuldigten, Angeschuldigten oder Angeklagten. Angesichts der Pressefreiheit (Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG) ist das problematisch, aber eine Abwägung mit den Interessen einer solchen Person (Art. 5 Abs. 3 GG) sollte doch wenigstens ermöglichen, Wertungen anderer Art als juristischer zu untersagen, solange keine rechtskräftige Verurteilung erfolgt ist. Eine entsprechende Bestimmung würde im Sachzusammenhang mit der StPO stehen, könnte also dort oder bei § 169 GVG ihren Platz bekommen. Aber angesichts der Gesetzgebungskompetenz der Länder für das Pressewesen würde man vielleicht eher dort nach einer Regelung suchen. Im Landespressegesetz NRW wäre § 6 über die Sorgfaltspflicht der Presse um folgenden Abs. 2 zu ergänzen:

„Wenn die Presse über Strafverfahren berichtet, darf sie über die Person des Beschuldigten, Angeschuldigten oder Angeklagten (§ 157 der Strafprozessordnung), solange dieser nicht rechtskräftig verurteilt ist, nur Tatsachen verbreiten.“

Die Ordnungswidrigkeitenbestimmung des § 23 wäre in Abs. 1 um folgende Nr. 2a zu ergänzen:

„2a. gegen die Verpflichtung aus § 6 Abs. 2 verstößt,“

Für die weiteren Landesgesetze über Presse, Rundfunk, Fernsehen und sonstige Medien sowie einschlägige Staatsverträge würde Paralleles gelten.

IV. Ankündigungs- und Einräumungszeugen

Der Angeklagte sollte zwei Zeuginnen gegenüber den Anschlag angekündigt und ihn gegenüber zwei weiteren Zeugen eingeräumt haben. Die Strafkammer glaubte diesen vier Zeugen nicht. Einer der beiden Einräumungszeugen verzichtete öffentlichkeitswirksam auf die Belohnung, die für die Ergreifung der Tatperson(en) ausgesetzt war, zugunsten der Opfer. Die Medien sahen das als Beleg seiner Glaubwürdigkeit. Das Gegenteil war selbstverständlich richtig. Wegen Betrugs vorbestraft (§ 68a Abs. 2 S. 2 StPO), konnte er mit seiner Erklärung eigentlich nur einen Umkehrschluss provozieren. Die Strafkammer hatte ihn aber ohnehin schon vor seiner Zusage für unglaubwürdig gehalten. Bemerkenswert ist es, dass die Strafkammer bei keinem der beiden Einräumungszeugen ein „Motiv für eine Falschbelastung“ feststellen konnte. Umso schwerer wiegt es, dass sie ihnen keine Glaubwürdigkeit zubilligte. Es zeigt aber auch, wie gefährlich die beiden Zeugen waren. – Hinsichtlich der beiden Ankündigungszeuginnen sah die Strafkammer keine andere Beurteilungsgrundlage. – Der BGH fasst zusammen: „Auch dass insgesamt vier Personen von Bemerkungen des Angeklagten berichtet haben, die auf seine Tatbegehung hätten hinweisen können, hat die Strafkammer erwogen. Die Bewertung, dass dennoch keiner der Aussagen gefolgt werden konnte, ist nicht zu beanstanden.“

Die Beweiswürdigung der Strafkammer zeigt, dass eine solche Situation gut handhabbar ist. Der „Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung“ des § 261 StPO hat in diesem Fall mithin nicht versagt. Gleichwohl drängt sich eine Ergänzung des § 338 StPO über „Absolute Revisionsgründe“ auf, damit eine bedrohliche Beweiswürdigungslage wie diese stets besondere Aufmerksamkeit erfährt. § 338 StPO würde also um eine Nr. 7a ergänzt:

„7a. wenn das Urteil ausschließlich auf der Aussage eines Zeugen beruht, nach dessen Aussage der Angeklagte die Tat, derentwegen er verurteilt worden ist, ihm gegenüber angekündigt oder eingeräumt hat, oder wenn nicht auszuschließen ist, dass das Urteil ausschließlich auf der Aussage beruht;“

V. Haftgründe

Der Angeklagte hatte geraume Zeit in der Untersuchungshaft verbringen müssen. Der Fehler liegt in § 112 Abs. 3 StPO, wonach gegen eine Person, die (unter anderem) des Mordes dringend verdächtig ist, die Haft auch ohne „Haftgrund nach Abs. 2“ angeordnet werden darf. Die in § 112 Abs. 2 StPO aufgelisteten, ohnehin schon ausufernden, also alle nur denkbaren Sicherheitsbelange überkompensierenden Haftgründe genügen vollkommen. Folgerichtig würde ein StPO-Änderungsgesetz lauten: 

„§ 112 Abs. 3 wird aufgehoben.“

VI. Ermittlungserwägungen

Soweit das von außen nachvollzogen werden konnte, ließen die vorprozessualen Ermittlungen einige auf der Hand liegende Fragen offen. Vor allem scheint nicht darüber nachgedacht worden zu sein, ob von dem Anschlag tatsächlich die Opfer getroffen werden sollten oder wirklich alle: Der in Betracht kommende Täterkreis ändert sich zwangsläufig, wenn vielleicht nur eine Person aus dieser Gruppe das Ziel des Anschlags war und Tod oder Verletzung der anderen lediglich in Kauf genommen wurden – oder wenn im äußersten Fall die Bombe aus Tätersicht bei einer „falschen“ Gruppe zur Explosion gebracht wurde. Das nähme der Tat zwar weder ihre Tragweite noch ihre rechtliche Einstufung als versuchter Mord; die mögliche Motivlage würde sich jedoch ganz anders darstellen. – Auch der Ort, von dem aus die Rohrbombe gezündet worden sein soll, steht keineswegs außer Zweifel. Laut Anklage soll die Zündung von einer Person vorgenommen worden sein, die auf einem Verteilerkasten saß und von dort die Stelle im Blick hatte, wo die Bombe befestigt war. Um einiges näher liegt die Annahme, dass sie gezündet wurde aus einem der vielen Häuser, von denen aus man den Platz einsehen kann, ohne selbst gesehen zu werden. – Ebenso wenig ist wohl untersucht worden, ob es Zeugen für das Anbringen der Bombe gab, mag es auch nicht erkennbar gewesen sein, dass es um eine Bombe ging. Immerhin steht im BGH-Urteil über den Angeklagten der Satz: „Er befand sich zum Zeitpunkt des Anschlags in der Nähe des Tatorts.“

Wenn alles so war, wie es sich dem neutralen Beobachter darstellte, besteht wiederum legislativer Handlungsbedarf, auch wenn die Sicht der Strafkammer davon nicht beeinträchtigt wurde. Das BGH-Urteil berichtet von einer „operativen Fallanalyse“, in der aber „nicht die Person des Angeklagten, sondern die eines potentiellen Täters beschrieben wird“. Vielleicht wäre man nach einer Lektüre der Fallanalyse klüger. Verlassen sollte man sich jedoch nicht darauf. Demnach würde man § 338 StPO um eine Nr. 7b ergänzen:

„7b. wenn das Urteil auf einer Annahme beruht, die nicht zwingend ist, oder wenn nicht auszuschließen ist, dass das Urteil auf der Annahme beruht;“

Ein solcher Vorschlag mag wegen des auch strafrechtlichen BGH-Grundsatzes (wohl zuletzt ausformuliert im Urt. v. 25.10.2012 – 4 StR 346/12), Denkfehler der Vor-instanz als Revisionsgrund zu behandeln, überflüssig erscheinen. Doch wäre sinngemäße Erst-Adressatin dieser Nr. 7b die Kriminalpolizei, die sich daran orientieren könnte, bevor sie nach § 163 Abs. 2 S. 1 StPO „ihre Verhandlungen“ der Staatsanwaltschaft übersendet. Auch dadurch würde die Zahl der Anklageschriften reduziert.

VII. Fazit

Die Tat ist lange her, mittlerweile rund 21 Jahre. Man sollte trotzdem hoffen, auch wenn der Glaube daran schwerfällt, dass irgendwann doch noch festgestellt wird, wem sie zur Last gelegt werden muss; Verjährung droht nicht, § 78 Abs. 2 StGB. Gegen eine Anklage, die Hand und Fuß hätte, wäre aus juristischer Sicht gewiss nichts einzuwenden. Auf den Freispruch reagierte die Kriminalpolizei konsensfähig: „Weiter ermitteln.“

 

 

 

Nathalie Isabelle Thorhauer: Jurisdiktionskonflikte im Rahmen transnationaler Kriminalität – Zur Koordination der Strafgewalten über nationale Personen und Unternehmen in der Europäischen Union

von Oliver Michaelis, LL.M., LL.M. 

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2019, Nomos Verlag, Baden-Baden, ISBN: 978-3-8487-5396-3, S. 853, Euro 146,00

I. Einleitung 

Thorhauer gliedert ihre Arbeit in eine Einleitung, acht Themenkapitel (Kapitel 1-8, S. 60-794) und ihr Ergebnis (S. 795-803).

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