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Das Stigma der Denunziation bei anonymen Hinweismeldungen am Beispiel des HinSchG-E – ein Trugschluss!

von Wiss. Mit. Kimberly Erlebach und Wiss. Mit. Miguel Veljovic, LL.M.oec

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Abstract
Im Februar 2021 wurde der Referentenentwurf eines Gesetzes für einen besseren Schutz hinweisgebender Personen sowie zur Umsetzung der Richtlinie zum Schutz von Personen, die Verstöße gegen das Unionsrecht melden veröffentlicht. Der Entwurf hat sich klar gegen eine verpflichtende Nachverfolgung anonymer Hinweismeldungen durch die zuständigen internen und externen Meldestellen entschieden. Als vermeintliches Hauptargument wurde in der Begründung zum Referentenentwurf des HinSchG-E die Möglichkeit des Missbrauchs durch denunzierende Meldungen vorgebracht. Trotz der derzeitigen Schwierigkeiten der Einigung im parlamentarischen Verfahren und die Wahrscheinlichkeit, dass der Entwurf aufgrund der sachlichen Diskontinuität parlamentarischer Angelegenheiten wohl nicht in der Form in der jetzigen Legislaturperiode zustandekommen wird, setzt sich der Beitrag kritisch mit der fehlenden Verpflichtung zur Entgegennahme und Nachverfolgung anonymer Hinweismeldungen auseinander, indem die Argumentationslinie der Entwurfsverfassenden einer kritischen rechtlichen und wirtschaftskriminologischen Prüfung unterzogen wird.

In February 2021, the draft bill for a law to improve the protection of whistleblowers and to implement the directive on the protection of persons reporting infringements of Union law was published. The draft clearly decided against mandatory follow-up of anonymous tip reports by the responsible internal and external reporting offices. The main argument put forward in the explanatory memorandum to the draft HinSchG-E was the possibility of abuse through denunciatory reports. Despite the current difficulties of reaching an agreement in the parliamentary procedure and the likelihood that the draft will not be passed in the current legislative period due to the factual discontinuity of parliamentary affairs, the article critically examines the lack of an obligation to receive and follow up anonymous tip-offs by subjecting the drafters‘ line of argumentation to a critical legal and economic criminological examination.

I. Ausgangslage

Die europäische Union hat am 23.10.2019 die Richtlinie zum Schutz von Personen, die Verstöße gegen das Unionsrecht melden (EU-Hinweisgeberrichtlinie)[1] verabschiedet, die am 16.12.2019 in Kraft getreten ist. Ziel der EU-Hinweisgeberrichtlinie ist eine bessere Durchsetzung des Unionsrechts durch die Festlegung von Mindeststandards zum Schutz hinweisgebender Personen.[2] Dazu wurden den Mitgliedsstaaten sowohl grundlegende Regelungen zum Schutz hinweisgebender Personen, als auch Regelungen zur verpflichtenden Einführung von Meldekanälen und zu den Meldeverfahren vorgegeben.[3] Das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz hat mit dem Referentenentwurf zum Entwurf eines Gesetzes für einen besseren Schutz hinweisgebender Personen (HinSchG-E) zur Umsetzung der Richtlinie zum Schutz von Personen, die Verstöße gegen das Unionsrecht melden auf die EU-Hinweisgeberrichtlinie reagiert. Die Umsetzungsfrist läuft hierbei am 17.12.2021 aus.[4] Mit einer Verzögerung wurde erst im Februar 2021 der Referentenentwurf zum HinSchG-E veröffentlicht.[5] Im Vorfeld stellte sich die spannende Frage, ob der deutsche Gesetzgeber die Regelungen der EU-Hinweisgeberrichtlinie nur eins zu eins als Mindeststandard umsetzen oder er darüber hinaus umfassende nationale Regelungen einführen würde.[6] Aus dem HinSchG-E geht nun hervor, dass sich mit den Vorgaben des Referentenentwurfs gegen eine wortlautgetreue Kodifizierung entschieden wurde. Mit dem HinSchG-E soll ein neues Stammgesetz geschaffen werden, um den Schutz hinweisgebender Personen umfassend zu verbessern, ihnen Rechtssicherheit zu garantieren sowie sie vor Repressalien zu schützen.[7]

Bisher fehlt es in Deutschland an einem umfassenden Schutz für hinweisgebende Personen. Es existieren lediglich in einzelnen Branchen fragmentarische Regelungen, die die Implementierung von Hinweisgebersystemen und den Schutz von Hinweisgebenden regeln.[8] Primär wurde der Schutz hinweisgebender Personen in den letzten Jahrzehnten lediglich aus arbeitsgerichtlicher Rechtsprechungsperspektive geprägt, sodass strafrechtliche Überlegungen in den Hintergrund traten.[9] Mit der Einführung des GeschGehG wurde erstmals ein branchenübergreifender Schutz von hinweisgebenden Personen eingeführt. Demnach sind sie geschützt, wenn ein Geschäftsgeheimnis offengelegt wird und dieses geeignet ist das öffentliche Interesse zu schützen.  Eine Offenlegung ist nicht nur bei rechtswidrigen Handlungen, sondern auch bei beruflichem oder sonstigem Fehlverhalten möglich (vgl. § 5 Nr. 2 GeschGehG). Durch den begrenzten Anwendungsbereich[10], die unbestimmten Rechtsbegriffe und die uneinheitlichen Schutzmechanismen kann von einem umfassenden Schutz für hinweisgebende Personen jedoch de lege lata keine Rede sein.[11]  Deutschland liegt weiterhin bei der Einführung von umfassenden Regelungen zur Implementierung von Meldekanälen und für den Schutz hinweisgebender Personen im Gegensatz zu anderen europäischen Mitgliedsstaaten weit zurück. Länder wie die Niederlande, Frankreich und Irland haben bereits vor der EU-Hinweisgeberrichtlinie umfassende Gesetze auf dem Gebiet des Whistleblowings erlassen. Die Einbringung des Entwurfs ist ein erster Schritt auf dem Weg zu einem einheitlichen und umfassenden Schutz hinweisgebender Personen in Deutschland. Ob dieser im Hinblick auf das Vertraulichkeitsgebot geglückt ist und sich nachvollziehbar gegen eine verpflichtende Entgegennahme und Nachverfolgung anonymer Meldungen entschieden wurde, wird im Folgenden untersucht.

II. Wesentliche Regelungen des HinSchG-E

Die folgende Darstellung beschränkt sich auf einzelne Paragraphen des HinSchG-E, die für die Analyse relevant sind.[12]

1. Einrichtung interner und externer Meldestellen

Einen zentralen Regelungsinhalt betrifft die Einrichtung interner und externer Meldestellen, §§ 7 – 30 HinSchG-E. Dabei können hinweisgebende Personen grundsätzlich frei wählen über welchen Kanal sie ihre Meldung abgeben wollen, § 7 Abs. 1 HinSchG-E. Es ist zudem gemäß § 7 Abs. 1 S. 2 HinSchG-E vorgesehen, dass soweit einem intern gemeldeten Verstoß nicht abgeholfen wurde, den hinweisgebenden Personen die Möglichkeit offensteht, sich anschließend an eine externe Meldestelle zu wenden. Dazu sollen gemäß § 7 Abs. 3 HinSchG-E durch den Beschäftigungsgeber sowie durch die Dienststellen Anreize dafür geschaffen werden, dass zunächst die jeweilige interne Meldestelle kontaktiert wird. Grundsätzlich sind gemäß § 12 Abs. 2 HinSchG-E Beschäftigungsgeber und Dienststellen mit mehr als 50 Beschäftigten verpflichtet eine interne Meldestelle einzurichten.[13] Die Möglichkeit einer externen Meldung darf hierdurch weder beschränkt noch erschwert werden (vgl. § 7 Abs. 3 S. 2 HinSchG-E). Entscheidend für die folgende Auslegung ist auch die vom Referentenentwurf verwendete Überschrift des § 7 HinSchG-E als „Wahlrecht zwischen interner und externer Meldung“.

Inwiefern sich das deklarierte „Wahlrecht“ mit dem Wortlaut des § 7 Abs. 1 S. 2 HinSchG-E deckt, ist bereits auf den ersten Blick zweifelhaft, da der Eindruck erweckt wird, der interne Weg sei der vorzugswürdige und zunächst zu beschreitende Weg.[14] Gegen die suggerierte Vorzugswürdigkeit einer internen Meldung sprechen jedoch ganz klar die Erwägungen in der Begründung des Referentenentwurfs, der davon ausgeht, dass die Meldewege „gleichwertig nebeneinanderstehen und zwischen denen hinweisgebende Personen frei wählen können“.[15] Dabei sollen Hinweisgebende „denjenigen Meldekanal wählen, der sich angesichts der fallspezifischen Umstände am besten eignet“[16]. Dabei drängt sich aus rechtshistorischer Sicht die Frage nun förmlich auf, ob hinweisgebende Personen eine vorherige Abwägung vollziehen müssen, dessen Resultat darin mündet, ob das durch das BAG entwickelte Stufenverhältnis[17] eingehalten werden muss oder nicht. Es scheint für Rechtsanwendende so, als wäre die Entscheidung über das Verhältnis interner und externer Meldestellen noch nicht endgültig entscheidungsreif. Eine klare Leitlinie gibt der Referentenentwurf jedenfalls nicht vor. Die vorher angestrebte Rechtssicherheit wird bereits jetzt deutlich geschmälert, sodass mit Nachdruck gefordert werden muss, dass § 7 Abs. 1 S. 2 HinSchG-E sowohl an die Überschrift als auch an die Vorgaben des Referentenentwurfs angepasst wird, um die Diskrepanzen zwischen Wortlaut und gesetzgeberischer Intention gerade an dieser entscheidenden Weiche endgültig und eindeutig zu überwinden.

2. Vertraulichkeitsgebot

Die Meldestellen sind gemäß § 8 Abs. 1 Nr. 1 HinSchG­­­­­­­­­‑E dazu verpflichtet die Identität der hinweisgebenden Personen zu wahren. Darüber hinaus muss die Vertraulichkeit der von einer Meldung betroffenen und die dabei genannten Personen sichergestellt werden (vgl. § 8 Abs. 1 Nr. 2 und Nr. 3 HinSchG-E). Dies entspricht soweit den Vorgaben des europäischen Gesetzgebers. Art. 9 Abs. 1 lit. a EU-Hinweisgeberrichtlinie verpflichtet die Mitgliedsstaaten, dass Meldekanäle so zu konzipieren sind, dass die Vertraulichkeit der Identität der Hinweisgebenden, sowie Dritter, die in der Meldung erwähnt werden, gewahrt bleiben. Gleichlaufend sollen die Mitgliedsstaaten die Identität der betroffenen Personen vor einem öffentlichen Bekanntwerden schützen.[18] Auch aus systematischer Sicht hat der Gesetzgeber zum Beispiel im Rahmen des GwG, in § 25a Abs. 1 S. 6 Nr. 3 KWG oder in § 23 Abs. 6 VAG den Schutz der Identität von hinweisgebenden Personen normativ statuiert. In § 6 Abs. 5 GwG wird vorgegeben, dass die geldwäscherechtlich Verpflichteten „angemessene Vorkehrungen zu treffen [haben], damit es ihren Mitarbeitenden und Personen in einer vergleichbaren Position unter Wahrung der Vertraulichkeit ihrer Identität möglich ist, Verstöße gegen geldwäscherechtliche Vorschriften geeigneten Stellen zu berichten“. Verstöße gegen das Vertraulichkeitsgebot stellen gemäß § 39 Abs. 2 HinSchG-E hierbei eine Ordnungswidrigkeit dar und können mit einer Geldbuße bis zu 20.000 Euro geahndet werden. Die Androhung eines Bußgelds ist wiederum aus systematischer Hinsicht kein Novum. Auch das GwG sieht in § 56 Abs. 1 Nr. 3 GwG eine Ordnungswidrigkeit vor, soweit keine angemessenen internen Sicherungsmaßnahmen, wie insb. ein Hinweisgebersystem, implementiert werden.

Eine Gegenausnahme liefert wiederum § 9 HinSchG-E, der das Vertraulichkeitsgebot dann außer Kraft setzt, wenn die hinweisgebende Person vorsätzlich oder grob fahrlässig unrichtige Informationen über Verstöße meldet. Die aufgenommenen Informationen über die Identität der Person dürfen infolgedessen den zuständigen Behörden z.B. zur Einleitung eines Strafverfahrens übergeben werden (vgl. § 9 Abs. 2 HinSchG-E). Daraus lässt sich schlussfolgern, dass der Entwurf von keiner Absolutheit des Identitätsschutzes ausgeht und gleichermaßen einen unmittelbaren Weg geschaffen hat, um entschlossen gegen missbräuchliche Hinweise vorzugehen. Dies ist als sehr positiv zu werten. Es konnte bereits in einer früheren Publikation aufgezeigt werden, dass das Strafbarkeitsrisiko hinweisgebender Personen insbesondere bei vorsätzlichen Missbrauchsmeldungen enorm ist und viele verschiedene Normbereiche in den strafrechtlichen Fokus rücken müssen.[19] Hierbei kommen die kernstrafrechtlichen Vorschriften der §§ 164, 185 ff., 203, 353b StGB in Betracht. Nebenstrafrechtlich-relevante Regelungen finden sich in den §§ 404 AktG, 333 HGB, 85 GmbHG und die wohl praxisrelevanteste Vorschrift in § 23 GeschGehG.[20]

III. Anonyme Meldungen

Der EU-Richtlinienentwurf hat den Mitgliedsstaaten bezüglich der Entgegennahme und Bearbeitung anonymer Meldungen keine verpflichtenden Regelungen vorgeschrieben. In Artikel 6 Abs. 2 der EU-Hinweisgeberrichtlinie, sowie im 34. Erwägungsgrund formuliert der europäische Gesetzgeber deutlich, obwohl er den Mitgliedsstaaten die Entgegennahme und Weiterverfolgung anonymer Meldungen hätte vorschreiben können, dass die Mitgliedsstaaten selbst entscheiden können, ob die Meldestellen anonyme Meldungen von Verstößen, die in den Anwendungsbereich der Richtlinie fallen, entgegennehmen und Folgemaßnahmen ergreifen müssen. Von der Möglichkeit über die Vorgaben der Richtlinie hinaus nationale Regelungen zu anonymen Meldungen zu etablieren, hat der deutsche Referentenentwurf im Ergebnis leider keinen Gebrauch gemacht. Dazu heißt es wörtlich in der Begründung des HinSchG-E, „weder interne noch externe Meldestellen sind verpflichtet, technische Mittel oder Verfahren für anonyme Meldungen vorzuhalten“.[21]

Fraglich bleibt im systematischen Hinblick über bestehende Regelungen zum Umgang mit anonymen Meldungen, wie die Vorschrift des § 53 Abs. 1 S. 3 GwG in dem sich neu aufdrängenden Regelungskomplex zu verstehen ist und inwiefern sie noch zukünftig Anwendung findet. Hierbei könnte man in zwei Richtungen argumentieren. Auf der einen Seite könnte man auf die Kollisionsregel „lex posterior derogat legi priori“ abstellen, sodass das HinSchG-E bei Inkrafttreten als jüngeres Gesetz hinsichtlich seiner Wertungen die des Geldwäschegesetzes aufhebt. Dagegen spricht jedoch der Spezialitätsgrundsatz („lex specialis“), da das Geldwäschegesetz für den Bereich der Geldwäschebekämpfung sowie -prävention sektorenspezifische Regelungen vorsieht. Dieser Grundsatz wurde auch in § 4 Abs. 1 HinSchG-E aufgenommen, sodass die Regelungen des HinSchG-E „vor die Klammer“ gezogen werden und damit als sozusagen „Allgemeiner Teil des Hinweisgeberschutzes“ qualifiziert werden können. Das HinSchG-E gilt also grundsätzlich dann immer, wenn es nicht durch speziellere Regelungen verdrängt wird.

Aus Sicht der Unternehmen ist die fehlende Verpflichtung zur Nachverfolgung anonymer Meldungen aus verschiedenen Gründen nicht praktikabel. Zum einen ist aus der haftungsrechtlichen Perspektive der Criminal-Compliance Unternehmen dringend anzuraten, jedem stichhaltigen Hinweis, egal ob dieser offen oder anonym abgegeben wurde, nachzugehen. Denn bereits aus der zentralen Vorschrift des § 130 OWiG trifft die unternehmensleitenden Personen ein Organisationsverschulden, sofern sie keine geeigneten Vorkehrungen getroffen haben, um Regel- und Normverstöße von Unternehmensangehörigen (auch im Gesamtkonzern) fortlaufend zu verhindern.[22] Unter den wesentlichen Elementen hinsichtlich der Implementierung einer tauglichen Compliance unterfällt auch die etwaige Etablierung einer tauglichen Revision, interner Sicherungsmaßnahmen, die Überwachung und Kontrolle dieser und maßgeblicher Prozesse im Tätigkeitsfeld des Unternehmens.[23] Bei Aufkommen von konkreten Verdachtsmomenten sowie von Vergehen ist eine Intervention verpflichtend, sodass das Nichtnachgehen von anonymen Hinweisen trotz konkreter Verdachtsmomente eine Haftung nach § 130 OWiG auslösen könnte.

Auch der Regierungsentwurf zum VerSanG-E sieht vielfältige Möglichkeiten zur sanktionsmildernden Berücksichtigung tauglich etablierter Compliance-Maßnahmen vor. Dies statuiert der Regierungsentwurf sowohl im Rahmen der Bemessung der Verbandsgeldsanktion in § 15 Abs. 3 Nr. 6 – 8 sowie in §§ 17 und 18 VerSanG-E durch die Durchführung verbandsinterner Untersuchungen. Indem ein Unternehmen im Einzelfall also nicht auf stichhaltige anonyme Hinweise eingeht, könnte es auf der einen Seite einen Anteil des sanktionsrechtlichen Bonus verspielen und auf der anderen Seite wäre auch eine negative Auslegung im Rahmen der Sanktionszumessung also eine Sanktionsschärfung denkbar, da das Problem der Etablierung einer „Schein-Compliance“ wohl im Hinblick auch auf die zukünftige Rechtsprechungspraxis an Bedeutungskraft gewinnen wird. Weiterhin wird es gerade aus der vorher gezeigten Spezialitätsverweisung in § 4 Abs. 1 HinSchG-E wohl sowieso regelmäßig rechtlich nicht möglich sein, anonymen Hinweisen nicht nachzugehen, sofern Verbände z.B. in den personellen Anwendungsbereich des GwG fallen. Rekurrierend auf die oben erwähnten Organisationspflichten und der daraus auch etablierten Legalitätspflicht bspw. aus § 93 Abs. 1 S. 1 AktG sind die Geschäftsleitung bzw. die Vorstände verpflichtet sich rechtstreu zu verhalten, sich fortlaufend über alle maßgeblichen Vorgänge im Unternehmen zu informieren bzw. informiert zu werden, Compliance-Verstöße aufzuklären, diesen nachzugehen und ggf. Sanktionsmaßnahmen zu erteilen.[24] Dabei ist nicht ersichtlich, inwiefern die gesellschaftsrechtliche und die daraus resultierende haftungsrechtliche Auslegung dieser Organisationspflicht im Rahmen von anonymen Hinweismeldungen teleologisch reduzierbar ist. Der Referentenentwurf denkt weder an den Aspekt der Organisationspflicht noch an die grundsätzlichen Gedanken einer teleologischen Reduktion. Insbesondere erscheint es schwer vertretbar eine Reduktion der Organisationspflichten bei einem Hinweis anzunehmen, der die Schwelle des Anfangsverdachts durch konkrete Anhaltspunkte überschreitet, sodass dieser Umstand unabhängig davon zu beurteilen ist, ob der Hinweis anonym oder offen abgegeben wurde.[25] Weiterhin spricht auch die kriminologische Erkenntnislage dafür diesen Weg Unternehmen anzuraten, da sie durch den gewissenhaften und vertrauensvollen Umgang mit internen Meldungen das Risiko einer externen Meldung deutlich verringern.[26] Mittelbar wahrt das Unternehmen dadurch selbst seine eigenen Interessen.[27]

Hinsichtlich externer Meldestellen findet sich in § 26 Abs. 1 HinSchG-E eine spezielle Vorschrift.  Demgemäß sind externe Meldestellen nicht zur Bearbeitung von anonymen Meldungen verpflichtet. Die Begründung hierfür ist aus verschiedenen Gründen nicht nachvollziehbar. Zunächst ist die Regelung hinsichtlich der öffentlichen Untersuchungspraxis näher zu beleuchten. Denn die Praxis hat bereits gezeigt, dass auch im Rahmen der Abgabe von Geldwäscheverdachtsmeldungen eine Strafbarkeit wegen der Strafvereitelung im Amt gemäß § 258a StGB in Betracht kommt und Staatsanwaltschaften vor Ermittlungsverfahren nicht zurückscheuen.[28] In den Fällen hatten Ermittler nicht oder nicht rechtzeitig Verdachtsmeldungen an die zuständigen Strafverfolgungsbehörden weitergeleitet. Sofern nun anonyme Hinweise an eine zuständige Stelle, z.B. bei der BaFin oder einer zuständigen Staatsanwaltschaft eingehen, und die Mitarbeitenden diesen Hinweisen wissentlich oder absichtlich nicht nachgehen, obwohl eine Straftat aus der Meldung deutlich erkennbar ist, wird jedoch ein Strafbarkeitsrisiko aus § 26 Abs. 1 HinSchG-E wohl nahezu ausgeschlossen, da eben keine Pflicht zur Untersuchung anonymer Meldungen besteht. Der Referentenentwurf äußert sich dennoch zur heiklen rechtlichen Wirkung des § 26 Abs. 1 HinSchG-E überhaupt nicht. Ist dieser nun ein bereichsspezifischer Rechtfertigungsgrund für ein etwaiges Strafbarkeitsrisiko aus § 258a StGB?  Hierbei ist anzuraten, dass der Gesetzgeber nunmehr klarstellend tätig wird, um das Strafbarkeitsrisiko entsprechend zu gestalten. Denn weder aus praktischer noch aus rechtlicher Sicht ist es – wie noch deutlich gezeigt wird – nachvollziehbar, warum das Strafbarkeitsrisiko für anonyme Meldungen auf Null reduziert wird und dies nur, weil es sich um eine anonyme Meldung handelt. Dies würde im Umkehrschluss bedeuten, dass selbst wenn eine anonyme Meldung objektiv betrachtete Beweise mitliefert, das Szenario glaubhaft macht und dies zu konkreten Verdachtsmomenten führen würde, die die Schwelle des Anfangsverdachts überschreiten, die zuständige Behörde nur (!) aufgrund der Anonymität nicht zur Untersuchung verpflichtet ist. § 26 Abs. 1 HinSchG-E greift damit aus diesem Blickwinkel in das Legalitätsprinzip des Strafprozessrechts massiv ein. Weiterhin ist dies auch mit dem rechtspolitischen Gedanken der Förderung des Whistleblowings und damit auch den Interessen der Strafverfolgung unvereinbar. Zur Klarstellung muss angefügt werden, dass die hier vertretene Ansicht keine zwanghafte Untersuchungspflicht i.S.e. gesteigerten Legalitätspflicht fordert, sondern für ein abgestuftes System plädiert, das sich anhand der Kriterien des Anfangsverdachts richtet und damit alle Interessen verhältnismäßig berücksichtigt. Das Legalitätsprinzip des Strafprozessrechts darf durch die Vorgaben des HinSchG-E nicht aus den Angeln gehoben werden. Ein genereller Ausschluss hält damit weder wirtschaftskriminologischen noch rechtlichen Erwägungen stand.

Hinsichtlich der Gründe, warum der Referentenentwurf keine verpflichtenden Regelungen für den Umgang mit anonymen Meldungen vorsieht, finden sich Ausführungen auf Seite 31 f. der Begründung.[29]

1. Schutz vor Überlastung und Abwarten erster Erfahrungen interner und externer Meldestellen

Ein erstes Argument, warum von der verpflichtenden Nachverfolgung anonymer Meldungen abgesehen wurde, ist, dass man die Hinweisgebersysteme vor Überlastung schützen wolle und erste Erfahrungen mit internen und externen Meldestellen abwarten wolle.[30] Hier lässt sich zunächst konstatieren, dass zahlreiche Unternehmen bereits über Erfahrungen mit anonymen Meldungen hinsichtlich interner und externer Hinweisgebersysteme verfügen und empirische Belege vorliegen. Bei Unternehmen, die anonyme Hinweismeldungen ermöglichen, wurden 58% der Erstmeldungen anonym gemeldet.[31] Auch diverse externe Meldestellen verfügen bereits über anonyme Meldekanäle.[32] Am Beispiel der BaFin zeigt sich, dass hinweisgebende Personen auch bei externen Stellen, wenn die Möglichkeit einer anonymen Hinweisgabe besteht, von dieser Gebrauch machen.[33] Die Weiterverfolgung von anonymen Hinweisen führt zweifellos zu einem erhöhten Bearbeitungsaufwand. Dabei sind diese Zahlen aber keineswegs Gründe, die eine Argumentation mit einer Mehrbelastung rechtfertigen. Vielmehr dienen diese Zahlen als Einschätzung und als Erfahrung, in welchem Umfang mit einer Hinweisgabe gerechnet werden kann. Zudem verdeutlichen sie, wie wichtig die Möglichkeit zur Abgabe von anonymen Meldungen ist, um effektiv Verstöße aufzudecken. Der Referentenentwurf verkennt grundlegend, dass Meldesysteme aus Effektivitätsgründen kaum ohne einen anonymen Meldekanal auskommen.[34] Was genau der Referentenentwurf unter einer Überlastung versteht bleibt fraglich. Hierbei käme es grundsätzlich in Betracht an Gefahren durch Cyberattacken und -angriffen[35] zu denken und deswegen eine mögliche technische Überlastung anzuführen. Der Referentenentwurf argumentiert aber auf der Linie einer bloßen technischen Überlastung durch den bloßen Eingang von Verdachtsmeldungen. Dabei stützt er sich weder auf empirische Studien noch begründet er die mögliche Überlastung in einem weiteren Satz. Aufgrund der Fragwürdigkeit dieses Aspekts hält die Nichtbegründung weder einer rechtlichen noch einer wirtschaftskriminologischen Prüfung stand. Vielmehr erscheint die technische Begründung als weitere gesetzgeberische Kapitulation bezüglich rechtlicher Probleme im Digitalisierungskontext. Aus dem Blickwinkel der personellen Ausstattung erscheint diese Schwierigkeit allein eine Frage der Koordination sowie der anfallenden Kosten. Mit dem eigentlich zentralen Punkt, der Anonymität, hat dies nichts zu tun. Es erscheint deswegen nicht vorstellbar, dass ein derart hohes Aufkommen durch anonyme Hinweismeldungen erfolgt, dass die Systeme den Eingang aus einer bloß technischen Warte nicht bewältigen können. In der Konsequenz wäre eher anzuraten gewesen, eine Evaluation zum Ausmaß der eingehenden Hinweise zu vereinbaren und daraus sowohl technische als auch organisatorische Konsequenzen zu ziehen.

2. Zusätzliche Kosten

In der Begründung wird weiter angeführt, dass für anonyme Meldungen zusätzliche technische Voraussetzungen geschaffen werden müssten, die zusätzliche Kosten verursachen.[36] Grundsätzlich kann dieses Argument nicht überzeugen. Über ein Hinweisgebersystem können prinzipiell auch anonyme Hinweise abgegeben werden.[37] Sicherlich muss hier eine Differenzierung nach Meldekanälen erfolgen. Bei telefon- oder email-basierten Meldekanälen ist die Abgabe eines anonymen Hinweises, ohne zusätzliche technische Voraussetzungen schwerer wahrzunehmen als bei webbasierten Systemen. Somit muss der Kostenaspekt differenziert betrachtet werden und kann nicht verallgemeinert für alle Stellen, die nun verpflichtet sind, Meldekanäle einzurichten als Grund für das Absehen von der verpflichteten Nachverfolgung anonymer Meldungen angeführt werden. Sowohl Behörden als auch zahlreiche Unternehmen, die jede Größenordnung von Groß- bis Kleinunternehmen umfassen, verfügen bereits über eingerichtete Meldekanäle, die auch anonyme Hinweise entgegennehmen.[38] Insbesondere bei webbasierten Systemen ist die Option eine anonyme Meldung abzugeben bereits standardmäßig verfügbar und stellt keinen nennenswerten zusätzlichen technischen Aufwand dar.[39] Diese Meldestellen müssten, wenn überhaupt lediglich Anpassungen ihrer bisherigen Systeme vornehmen. Der Kostenaspekt dürfte grundsätzlich insbesondere für klein- und mittelständige Unternehmen relevant sein. Jedoch sind die konkret anfallenden Kosten für die Implementierung interner Meldekanäle in Unternehmen und Behörden, die noch über kein Hinweisgebersystem verfügen, schwer feststellbar und abzuschätzen. Die EQS Group bewirbt die Implementierung ihrer Integrity Line, ein richtlinienkonformes Meldesystem mit anonymer Dialogfunktion in Unternehmen unter 1.000 Mitarbeitenden, ab 100 Euro im Monat.[40] Im Impact Assessment der europäischen Kommission sind für mittelständige Unternehmen einmalige Implementierungskosten i.H.v. 1.374 Euro und jährliche Betriebskosten i.H.v. 1.054,60 Euro angegeben.[41] Die Kosten pro Unternehmen belaufen sich auf geschätzte Mehrkosten von weniger als 0,01% der durchschnittlichen Wertschöpfung mittelständiger Unternehmen.[42] Damit kann von erheblichen Mehrkosten schwerlich die Rede sein kann.[43] Zudem darf in der Diskussion um die Kosten der finanzielle Nutzen von anonymen Meldekanälen nicht außer Acht gelassen werden. Die Effektivität hängt oftmals von der Anonymität der hinweisgebenden Personen ab.[44] Haben hinweisgebende Personen Angst vor Repressalien aufgrund mangelnder Vertraulichkeit und Anonymität unterbleibt oft eine Hinweisgabe.[45] Die empirische Forschung hat gezeigt, dass Repressalien enorme Auswirkungen auf hinweisgebende Personen haben. Rothschild stellte fest, dass 69% der internen und 84% der externen Meldenden ihren Job verloren bzw. dazu gezwungen wurden ihren Job aufzugeben.[46] Dies führt nicht selten zu gravierenden persönlichen Problemen. Insgesamt litten 84% aller Hinweisgebenden an schweren Depressionen, 78% an schweren gesundheitlichen Problemen, 66% unter finanziellen Schwierigkeiten und bei 53% führte die Situation zu familiären Spannungen.[47] Daraus kann insgesamt geschlussfolgert werden, dass wenn hinweisgebende Personen zunehmend mit Repressalien konfrontiert sind, das Risiko der Eskalationsspirale mit dem Ergebnis der externen Meldung ansteigt. Grundsätzlich stellt die externe Meldung empirisch gesehen, einen Ausnahmefall dar und erfolgt nur dann, wenn die hinweisgebende Person nicht ernst genommen wird[48] oder gar formellen sowie informellen Repressalien ausgesetzt ist[49]. Das Resultat dieser enormen Drucksituation verbunden mit der Abnahme des Bindungsgrades an das Unternehmen ist die externe Meldung als ultima ratio. Heroldverbildlicht diese Entwicklung zutreffend als „Eskalationsspirale“.[50] Gerade das Unternehmen als berufliche Sozialisationsinstanz trägt mithin die Hauptverantwortung für die Entscheidungsabgabe. Aus organisationspsychologischer Sicht beeinflusst ein bunter Strauß an Faktoren die Wahl des Kanals. Chen und Lai konnten feststellen, dass insbesondere die beobachtete Schwere des Vergehens (respektive Verbrechens oder Fehlverhaltens) und dadurch resultierend die Auswirkungen des gesellschaftlichen Drucks sowie der mögliche Schaden, die eigene persönliche Verantwortung, die Bindung zum Unternehmen sowie der Umgang mit hinweisgebenden Personen entscheidend sind.[51] Diese Entwicklung kann das Unternehmen selbst steuern und aktiv beeinflussen, indem es unter anderem sicherstellt, dass hinweisgebende Personen ihre Meldung anonym abgeben dürfen, diesen Meldungen nachgegangen wird und die hinweisgebenden Personen keine Repressalien zu befürchten haben. Denkbar ist, dass die fehlende Garantie, dass anonyme Meldungen verfolgt werden, hinweisgebende Personen von einer Meldung umso mehr Abstand nehmen lässt. Grundsätzlich gilt jedoch das Unternehmen, die frühzeitig auf intern gemeldete Verstöße reagieren und Abhilfe schaffen, Kosten senken können, die eine spätere Aufdeckung im Gegensatz nach sich gezogen hätte.[52] Das können sowohl Bußgelder, wie auch zivilrechtliche Schadensersatzzahlungen sein, aber auch ein Reputationsverlust, der sich monetär auswirken kann[53]. Somit sollte insbesondere internen Meldestellen viel daran gelegen sein, einen vertrauenswürdigen Meldekanal zu implementieren. Der finanzielle Nutzen dürfte regelmäßig die Kosten übersteigen. Aus diesem Grund überzeugt das Argument der zusätzlichen Kosten für die technische Einrichtung anonymer Meldekanäle auch vor diesem Hintergrund nicht. Wieder stützt sich der Referentenentwurf zuvörderst nur auf negative Komponenten und versäumt eine umfassende und dem wissenschaftlichen Diskurs würdige Betrachtung. Mit dem Argument scheint man vielmehr haushaltspolitischen Erwägungen gerecht werden zu wollen.

3. Gefahr von denunzierenden Meldungen

Ein weiteres vermeintliches Argument, welches der Referentenentwurf anführt, ist die Gefahr denunzierender   Meldungen. Dabei handelt es sich allerdings um einen unbegründeten Vorbehalt.[54] Denn es ist hinlänglich verifiziert, dass anonyme Meldungen nicht mit einem erhöhten Aufkommen denunzierender Meldungen assoziiert werden können. Buchert berichtete schon 2008 aus seinem Berufsalltag als externer Ombudsmann, dass er bei über 250 Compliance-Fällen mit ca. 300 hinweisgebenden Personen, keinen Fall einer denunzierenden Meldung dokumentiert hat.[55] Die EQS Group hat Unternehmensbefragungen durchgeführt und kam zu dem Ergebnis, dass anonyme Meldungen „keinen Einfluss auf den Anteil rechtsmissbräuchlicher Meldungen“ haben.[56] Auch der BMKS Benchmark Report verweist auf einen niedrigen Prozentsatz bei dem Anteil rechtsmissbräuchlicher Meldungen. Bei 66% der befragten europäischen Unternehmen liegen rechtsmissbräuchliche Meldungen bei unter 2%, bei 84% der befragten Unternehmen bei unter 5%.[57] Die Beispiele beziehen sich auf die unternehmerische Praxis und zeigen somit, dass denunzierende Meldungen in der Realität kaum vorkommen. Aus empirischer Sicht überzeugt die deutsche Skepsis somit keinesfalls.

Die Skepsis gegenüber anonymen Hinweismeldungen erfolgt in einigen Fällen wohl noch aufgrund von Erfahrungen der jüngeren deutschen Historie, die insbesondere in der NS-Zeit sowie während des DDR-Regimes vom Spitzeltum geprägt war.[58] Anonymität fördere damit als Nährboden für Denunziation und Spaßmeldungen ein „Klima des Misstrauens“, das wiederum kriminalitätsfördernd wirke.[59] Vor diesem Hintergrund scheint man sich nicht von der negativen Konnotation des Begriffs Whistleblowing lösen zu können.[60] Jedoch unterscheidet sich das Whistleblowing im aktuell diskutierten Kontext von der Denunziation der damaligen Zeit.[61] Hinweisgebersysteme haben für verschiedene Akteure diverse Vorteile. In erster Linie profitieren Unternehmen von eingerichteten Meldesystemen[62], aber auch für Strafverfolgungsbehörden oder die Öffentlichkeit haben Hinweisgebersysteme Vorteile. Dies haben viele andere Länder bereits erkannt. Ein entsprechender Verständniswandel ist auch in Deutschland wünschenswert und längst überfällig. Leider wird aus der Begründung zum HinSchG-E deutlich, dass sich Deutschland weiter von einem Verständniswandel entfernt und sich von der negativen Konnotation vor dem kulturellen Hintergrund nicht gelöst werden konnte.

IV. Fazit

Mit dem HinSchG-E soll der bislang unzureichende und fragmentarische Schutz hinweisgebender Personen ausgebaut werden und deren Schutz nachhaltig verbessert werden.[63] Mit der fehlenden Regelung zur Entgegennahme und Bearbeitung anonymer Meldungen, sorgt der deutsche Gesetzgeber jedoch für eine erneute bzw. bleibende Lückenhaftigkeit. Der Referentenentwurf verkennt, dass aus anderen Normen bereits die Verpflichtung herrührt anonyme Hinweise weiter zu verfolgen. Sowohl die rechtliche als auch die kriminalpolitische Begründung des Referentenentwurfs, die insbesondere auf haushaltspolitische Erwägungen abstellt, sind hierbei nicht nachvollziehbar und empirisch auch nicht stichhaltig. Die hier vertretene Ansicht, und das soll betont werden, fordert keine absolute Verpflichtung zur Nachverfolgung anonymer Meldungen,  sondern  eine  Pflicht, sofern  konkrete  Anhaltspunkte für eine Straftat oder ein Fehlverhalten glaubhaft gemacht wurden. Dazu erscheint eine Orientierung am strafprozessualen Begriff des Anfangsverdachts sinnvoll, der sich von der bloßen Vermutung abgrenzen lässt. Es ist nicht nachvollziehbar, warum der anonymen Meldung ein geringerer Schutzstandard zukommt als der offenen Meldung.[64] Bereits das BVerfG betonte in einem Urteil aus dem Jahre 1971 die Wichtigkeit einer hinweisgebenden Person für den „Bestand der freiheitlich demokratischen Ordnung“.[65] Zusammenfassend darf auf qualitativer Ebene nach der hier vertretenen Ansicht nicht zwischen einer offenen und einer anonymen Meldung unterschieden werden. Ein positives Beispiel bietet der erste Fall einer anonymen Meldung über das webbasierte Meldesystem des Bundeskartellamtes. Das durch anonymes Whistleblowing eingeleitete Verfahren endete mit der Verhängung von hohen Bußgeldern gegen verschiedene Automobilzulieferer.[66]      

Die historische Betonung der Bedeutung von hinweisgebenden Personen wurde jedoch – aus derzeitiger Sicht – auch 50 Jahre danach nicht adäquat in einem rechtlichen Schutzrahmen verankert. Zwischen dem Anspruch der Verbesserung des Schutzes von hinweisgebenden Personen durch den vorgelegten Entwurf des HinSchG-E und der rechtlichen Wirklichkeit klafft eine Lücke, die nunmehr einer dringenden Korrektur bedarf. Der Gesetzgeber tut nun gut daran, die sachliche Diskontinuität parlamentarischer Verfahren zu nutzen, um neue Impulse zu setzen, Rechtssicherheit zu schaffen und kriminologische Erkenntnisse im Reformprozess zu berücksichtigen. Trotzdem darf der Gesetzgeber sich nicht allzu lange Zeit lassen. Ein mögliches Vertragsverletzungsverfahren steht vor der Tür.

 

[1]      Richtlinie (EU) 2019/1937 des europäischen Parlaments und des Rates vom 23.10.2019, ABl. L 305 vom 26.11.2019, S. 17.
[2]      Art. 1 EU-Hinweisgeberrichtlinie.
[3]      Ausführlich zu den Regelungen der EU-Hinweisgeberrichtlinie: Erlebach, CB 8/2020, 284; Schmolke, NZG 2020, 5; Thüsing/Rombey, NZG 2018, 1001.
[4]      Vgl. Art. 26 Abs. 1 EU-Hinweisgeberrichtlinie.
[5]      Abrufbar unter: https://www.whistleblower-net.de/wp-content/uploads/2021/02/Referentenentwurf-BMJV-WB-RL Umsetzungsgesetz.pdf (zuletzt abgerufen am 12.4.2021).
[6]      So auch: Wiedmann/Seyfert, CCZ 2019, 12 (19); Dilling, CCZ 2021, 60.
[7]      HinSchG-E, S. 1.
[8]      Dazu auch: Erlebach, CB 8/2020, 284.
[9]      Grundsatzurteil durch das BAG, NZA 2004, 427 ff.; ausführlich zum Spannungsfeld von Arbeits- und Strafrecht und zur arbeitsgerichtlichen Rechtsprechung: Gänßle, KJ 2007, 265 ff.; Fortführung der Rechtsprechung des BVerfG, das sich mit dem Begriff der Stufentheorie auseinandersetzen musste: BVerfGE 28, 191 (203).
[10]    Dieser ist der Umsetzung der EU-Know-how-Richtlinie, ABl. L. 157 v. 15.6.2016 geschuldet; so auch Taschke/Pielow/Volk, NZWiSt 2021, 85 (88).
[11]    Insb. zur paradoxen Anwendungseinschränkung des § 5 GeschGehG: Erlebach/Veljovic, wistra 2020, 190 (192); Nöbel/Veljovic, CB 2020, 34 (38).
[12]    Einen Gesamtüberblick liefernd: Dilling, CCZ 2021, 60 ff.; Gerdemann, ZRP 2021, 37.
[13]    Die Definition von Beschäftigungsgeber und Dienststelle siehe § 3 Abs. 9 und Abs. 10 HinSchG-E.
[14]    § 7 Abs. 1 S. 2 HinSchG-E: „Wenn einem intern gemeldeten Verstoß nicht abgeholfen wurde, bleibt es der hinweisgebenden Person unbenommen, sich anschließend an eine externe Meldestelle zu wenden.“.
[15]    HinSchG-E, S. 30.
[16]    HinSchG-E, S. 52.
[17]    BAG, NZA 2004, 427 ff.; ebenso EGMR, NJW 2011, 3501.
[18]    ABl. L 305 v. 26.11.2019, Erwägungsgrund 100.
[19]    Nöbel/Veljovic, CB 2020, 34 (36 f.).
[20]    Dazu ausführlich: Nöbel/Veljovic, CB 2020, 34 (36 f.).
[21]    HinSchG-E, S. 28.
[22]    OLG Düsseldorf, wistra 1999, 115 (116).
[23]    Ausführlich: Bachmann, in: Kremer/Bachmann/Lutter/v. Werder, Deutscher Corporate Governance Kodex, 8. Aufl. (2021), DCGK A.2 CMS Rn. 4 ff.
[24]    Pörtge, CCZ 2020, 65 (66f.).
[25]    Ähnlich: Ott/Lüneborg, CCZ 2020, 71 (76).
[26]    Lee/Fargher, JBE 2013, 283 (285); Schemmel/ Ruhmannseder/ Witzigmann, Hinweisgebersysteme, 2012, 3. Kap. Rn. 21; Herold, Whistleblower, 2016, S. 333.
[27]    Dies ausführlich unter: 2. Zusätzliche Kosten. 
[28]    Abrufbar unter: https://www.spiegel.de/panorama/justiz/verdacht-auf-strafvereitelung-ermittler-gehen-gegen-zoll-spezialeinheit-fiu-vor-a-8d657c7f-f570-4a16-85c0-82134da79905 (zuletzt abgerufen am 12.4.2021).
[29]    „Um das neue Hinweisgeberschutzsystem nicht zu überlasten und erste Erfahrungen sowohl interner wie auch externer Meldestellen abzuwarten, ist keine Pflicht zur Bearbeitung anonymer Hinweise vorgesehen. Denn damit einhergehen würden nicht nur zusätzliche Kosten für die notwendigen technischen Voraussetzungen, sondern auch die Gefahr von denunzierenden Meldungen und einer Überlastung der Meldestellen.“, HinSchG-E S. 31. 
[30]    HinSchG-E, S. 31.
[31]    Hauser/Hergovits/Blumer, Whistleblowing Report 2019, S. 10, 59.
[32]    So etwa das LKA Niedersachsen, LKA Baden-Württemberg, Bundeskartellamt und BaFin.  
[33]    Gerdemann, Transatlantic Whistleblowing, 2019, Rn. 281.
[34]    So auch: Schmolke, NZG 2020, 5 (11).
[35]    Die Ergebnisse der Umfrage von „Bitkom Research“ konnte herausfinden, dass sechs von zehn Internetnutzern im Jahr 2020 Opfer von Cyberkriminalität wurden. Abrufbar unter: https://www.bitkom.org/Presse/Presseinformation/6-von-10-Internetnutzern-von-Cyberkriminalitaet-betroffen (zuletzt abgerufen am 12.4.2021).
[36]    HinSchG-E, S. 31.
[37]    So auch: Dilling, CCZ 2021, 60 (62).
[38]    Hauser/Hergovits/Blumer, Whistleblowing Report 2019, S. 40; Schmolke, AG 2018, 769 (778).
[39]    BKMS Benchmark Report Executive Summary 2019, S. 7.
[40]    Siehe: https://www.eqs.com/de/compliance-loesungen/integrity-line/ (zuletzt abgerufen am 12.4.2021); Was konkret ab 100 Euro bedeutet, ob damit die Implementierungskosten und/oder nur die Betriebskosten umfasst sind, ist fraglich.
[41]    Commission Staff Working Document, Executive Summary of the Impact Assessment, Proposal for a Directive of the European Parliament and of the Council on the protection of persons reporting on breaches of Union law, S. 61.
[42]    A.a.O.
[43]    So auch: Dilling, CCZ 2021, 60 (62); entgegenstehend: Gerdemann, der die Kosten für die Implementierung eines effektiven Meldesystems als deutlich höher einstuft: Gerdemann, RdA 2019, 16 (20).
[44] Bittmann/Brockhaus/von Coelln/Heuking, NZWiSt 2019, 1 (5); Schmolke, NZG 2020, 5 (11).
[45]    Egger, CCZ 2018, 126 (128); Vogel/Poth, CB 2019, 45 (47).
[46]    Rothschild, Current Sociology 2008, 884 (890).
[47]    A.a.O.
[48]    Yeoh, IJLMA 2014, 459 (470).
[49]    Herold, S. 333.
[50]    Herold, S. 333.
[51]    Chen/Lai, Business Ethics: A European Review 2014, 327 (337).
[52]    Lee/Fargher, JBE 2013, 283 (285); Federmann/Racky/Kalb/Modrzyk, Der Betrieb, 1665 (1671).
[53]    Lee/Fargher, JBE 2013, 283 (285).
[54]    So auch: Dilling, CCZ 2021, 60 (62).
[55]    Buchert, CCZ 2008, 148 (149).
[56]    Hauser/Hergovits/Blumer, Whistleblowing Report 2019, S. 10.
[57]    BKMS Benchmark Report Executive Summary 2019, S. 7.
[58]    Buchert, in: Hauschka/Moosmayer/Lösler, Corporate Compliance, 3. Aufl. (2016), § 42 Rn. 81; Egger, CCZ 2018, 126; Tinnefeld/Rauhofer, DuD 2008, 717 (721 f.).
[59]    Bussmann/Matschke, CCZ 2009, 132 (137).
[60]    Rotsch/Wagner, in: Rotsch, Criminal Compliance, 2015, § 34 C. Rn. 82; Tinnefeld/Rauhofer, DuD 2008, 717 (721).
[61]    Dazu: Taschke/Pielow/Volk, NZWiSt 2021, 85 (87).
[62]    Ausführlich zu rechtlichen, ökonomischen und kriminologischen Vorteilen von Hinweisgebersystemen: Veljovic, CB 2019, 475 (477).
[63]    HinSchG-E, S. 1.
[64]    Ebenso Colcernic/Gerdemann, Die Umsetzung der Whistleblower-Richtlinie in deutsches Recht, 2020, S. 137.
[65]    BVerfG, NJW 1970, 1498 (1500).
[66]    Pressemitteilung des Bundeskartellamts vom 24.6.2015, abrufbar unter: https://www.bundeskartellamt.de/SharedDocs/Meldung/DE/Pressemitteilungen/2015/24_06_2015_Automobilbranche.html (zuletzt abgerufen am 12.4.2021).

 

 

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