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Grenzüberschreitungen – Anmerkungen zu den Tatbestandsvorgaben im Vorschlag der EU-Kommission für eine Richtlinie zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt

von Prof. Dr. Martin Heger

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Abstract
Im Vorschlag für eine Richtlinie zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt hat die Kommission auch Vorschläge für Straftaten unterbreitet. Dabei ist die Kompetenzgrundlage in Art. 83 Abs. 1 AEUV aber fraglich, denn der Vorschlag für Vergewaltigung zielt nicht auf grenzüberschreitende Kriminalität und die Vorgaben zu Cybercrime Delikten sind angesichts der dafür vorgesehenen Mindesthöchststrafe keine schwere Kriminalität. Daher werden mögliche Reaktionen auf der Ebene der EU wie der Mitgliedstaaten erörtert. Schließlich wird der Umsetzungsbedarf der Vorgaben in Deutschland analysiert.

 In the proposal for a directive on combating violence against women and domestic violence, the Commission has also made proposals for criminal offences. However, the basis of competence in Art. 83 (1) TFEU is questionable, because the proposal for rape is not aimed at cross-border crime and the requirements for cybercrime offences are not serious crimes in view of the minimum maximum penalty provided for them. Therefore, possible reactions at EU and Member State level are discussed. Finally, the need for implementation of the provisions in Germany is analysed.

I. Von der Entschließung gegen geschlechtsspezifische Gewalt zur Vorlage eines Richtlinien-Entwurfs

Zum Internationalen Frauentag am 8. März 2022 hat die EU-Kommission ihren Vorschlag für eine EU-Richtlinie zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt vorgelegt.[1] Damit sollen in allen EU-Mitgliedstaaten Mindestvorschriften einerseits auf dem Gebiet des materiellen Strafrechts in Hinsicht von Tatbestandsmerkmalen und Strafen und andererseits auf dem Gebiet des Strafverfahrensrechts für den Schutz von Opfern häuslicher Gewalt gemacht werden. Zur Begründung rekurriert die Kommission einerseits auf das Phänomen von Gewalt gegenüber Frauen und Kindern bis hin zu sog. Femiziden, die erst in den letzten Jahren deutlicher als solche wahrgenommen und problematisiert worden sind; andererseits verweist sie darauf, dass es eben in einigen EU-Mitgliedstaaten trotz der Istanbul-Konvention – aus Sicht der Kommission und gemessen am Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt vom 11.5.2011 (ETS Nr. 210), der landläufig sog. Istanbul-Konvention, welche am 1.8.2014 in Kraft getreten ist, – noch keine hinreichenden Strafnormen gibt. Die Bedeutung der Bekämpfung geschlechtsspezifischer Gewalt auch auf EU-Ebene ist bereits in der Entschließung des Europäischen Parlaments vom 16. September 2021 mit Empfehlungen an die Kommission über die Festlegung von geschlechtsspezifischer Gewalt als neuer Kriminalitätsbereich gemäß Artikel 83 Abs. 1 AEUV (2021/2035(INL)) deutlich geworden; deren Umsetzung auf EU-Ebene dient der vorliegende Richtlinien-Vorschlag, der – sollte er angenommen werden – auch für Deutschland noch einzelne Umsetzungsverpflichtungen mit sich bringen dürfte.

Deutschland hat die Istanbul-Konvention erst nach deren inhaltlicher Übernahme v.a. in § 177 StGB mit dem 50. StÄG am 12.10.2017 ratifiziert, so dass sie hierzulande seit dem 1.2.2018 – wie etwa auch die EMRK – im Rang eines einfachen Bundesgesetzes gilt; außerhalb des Strafrechts sind einzelne Umsetzungen etwa im Sozialrecht erst zum 1.3.2020 erfolgt.

II. Die Umsetzung der Istanbul-Konvention in der EU 

Dass die Istanbul-Konvention bislang nicht in allen EU-Mitgliedstaaten vollumfänglich Beachtung findet, verwundert nicht. Zwar zählten alle EU-Mitgliedstaaten unter Einschluss noch des Vereinigten Königreichs 2011 zum Kreis der Unterzeichnerstaaten, doch haben bis heute nicht alle diese Konvention auch ratifiziert; das gilt etwa für Lettland, Litauen, Slowakei, Tschechien, Ungarn. In Bulgarien hat das Verfassungsgericht 2018 sogar eine Ratifizierung der Konvention untersagt, weil sie nicht mit der nationalen Verfassung vereinbar sei; von der dortigen Richtermehrheit gerügt wurde die Verwendung des Terminus „Gender“ in der Konvention, weil damit ein mit dem (bulgarischen) Verfassungsverständnis von „Geschlecht“ unvereinbarer Begriff in das bulgarische Recht eingeführt werden müsse.[2] Daneben haben einzelne EU-Staaten wie Polen Erklärungen abgegeben, bei denen fraglich ist, ob sie sich tatsächlich noch im Rahmen von der Konvention zugelassener nationaler Vorbehalte bewegen, oder ob sie de facto wesentliche Inhalte der Konvention abbedingen. Sieht man – wie offenbar die Kommission – die Vorgaben der Istanbul-Konvention als richtungsweisend an, könnte sie mittels der Übernahme der dortigen Vorgaben in das sekundäre EU-Recht dieselben letztlich auch für die bislang zögerlichen Mitgliedstaaten binnen relativ kurzer Frist verbindlich machen. Eine entsprechende Strafrechtsharmonisierungs-Richtlinie könnte im Rat mit qualifizierter Mehrheit angenommen werden, so dass die relativ wenigen die Istanbul-Konvention bislang nicht übernehmenden EU-Mitgliedstaaten überstimmt werden könnten.

Allerdings steckt hier der „Teufel im Detail“, denn einerseits könnten umsetzungsunwillige Mitgliedstaaten gestützt auf Art. 82 Abs. 3, 83 Abs. 3 AEUV erstmals seit ihrer Einführung mit dem Vertrag von Lissabon zum 1.12.2009 die dort vorgesehene „Notbremse“ ziehen[3] und damit die Bindungswirkung einer mit Mehrheit beschlossenen Richtlinie ausschalten; dass für die anderen Mitgliedstaaten in einem solchen Fall der Weg zu einer verstärkten Zusammenarbeit frei ist, wäre vorliegend allenfalls ein „schwacher Trost“, handelt es sich bei den potenziellen Bremser-Staaten doch wohl im Regelfall (zu Deutschland als möglicher Ausnahme später) nicht um solche, welche die Istanbul-Konvention bereits ratifiziert und in ihr (nicht nur Straf-)Recht umgesetzt haben dürften. Würde die EU-Umsetzungsvorgaben allen gegenüber solchen Mitgliedstaaten machen, die diese Umsetzung bereits aufgrund der Istanbul-Konvention vorgenommen haben, müsste man obendrein sogar an der europarechtlichen Erforderlichkeit des Vorschlags zweifeln, denn die den Kern des Richtlinien-Vorschlags bildenden Vorgaben sind ja dort bereits ins nationale (Straf-)Recht umgesetzt. Eine besondere Situation stellt sich derzeit für Bulgarien; da dessen Verfassungsgericht die Istanbul-Konvention nicht für vereinbar mit der bulgarischen Verfassung angesehen hat, müsste die Kommission insoweit auch Art. 67 AEUV in Blick nehmen, denn dieser zwingt für den Bereich der Polizeilichen und Justiziellen Zusammenarbeit zur Beachtung spezifischer nationaler Eigenheiten; wenn aber internationale Vorgaben von den innerstaatlich dafür zuständigen Organen explizit als mit der nationalen Verfassung unvereinbar und deshalb nicht ratifizierbar eingestuft werden, ist es zumindest nahe liegend, wenn in einer gleichlautenden EU-Vorgabe dann eine Nichtbeachtung der bulgarischen Verfassungseigenheiten gesehen wird. Konsequent könnte dies – nimmt man die Regelung in Art. 67 AEUV ernst – bedeuten, dass die EU von Anfang an nur auf eine Initiative in Richtung einer verstärkten Zusammenarbeit (zumindest ohne Bulgarien) abzielen würde. Wie noch zu zeigen sein wird, gilt in Bezug auf einzelne der vorgelegten Regelungsvorschläge selbiges punktuell auch für Deutschland (dazu später mehr).

Die folgenden Bemerkungen beschränken sich auf das in Kapitel 2 des RL-E enthaltenen materielle Strafrecht und damit auf Art. 83 Abs. 1 AEUV als die dafür vorliegend einschlägige Ermächtigungsgrundlage. Für verfahrensrechtliche Vorgaben in derselben Richtlinie ist Art. 82 Abs. 2 AEUV die richtige Grundlage, dessen Voraussetzungen hier nicht näher geprüft werden sollen. Nicht näher beleuchtet werden auch die von der Kommission (Begr., S. 16) genannten riesigen wirtschaftlichen Potenziale wirksamer Straf- und Opferschutzvorschriften in diesem Bereich: „Ein Rückgang der Gewalt gegen Frauen und insbesondere der häuslichen Gewalt könnte einen wirtschaftlichen Nutzen von rund 53,1 Mrd. EUR bewirken, der sich langfristig auf rund 82,7 Mrd. EUR belaufen könnte. Das größte Potenzial für wirtschaftliche Vorteile ergibt sich aus der Verringerung der Kosten für physische und seelische Schäden der Opfer (eine geschätzte Verringerung zwischen 32,2 Mrd. und 64,5 Mrd. EUR).“

III. Art. 83 Abs. 1 AEUV als Ermächtigungsgrundlage für originäre Strafrechtsvorgaben

Art. 83 Abs. 1 AEUV enthält in den UAbs. 1 und 2 zwei Gruppen von Voraussetzungen, bei deren kumulativen Vorliegen die EU mittels Richtlinien die Mitgliedstaaten zur Anpassung ihres nationalen Strafrechts an die EU-Vorgaben verpflichten kann. Die im dritten UAbs. vorgesehene Ermöglichung einer Erweiterung der in UAbs. 2 enummerierten Katalogtaten aufgrund einstimmigen Beschlusses des Rates ist seit Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon noch nicht praktisch geworden; die Kommission hat zwar einen Vorschlag für die Erweiterung des Katalogs um „Hasskriminalität“ vorgelegt, über den jedoch noch nicht abschließend entschieden ist.

1. Katalog der Eurodelikte

Die EU ist auch auf dem Gebiet des Strafrechts an das Prinzip der limitierten Einzelermächtigung gebunden. Der RL-Vorschlag muss daher mindestens einen der in UAbs. 2 abschließend aufgezählten Kriminalitätsbereiche erfassen. Der EU ist die Kompetenz, Körperverletzungs- und Tötungsdelikte zu harmonisieren, nicht übertragen, so dass sich mit Recht keine Vorgaben zu Gewaltdelikten gegenüber Frauen – insbesondere zu sog. Femiziden – finden. Der Entwurf beschränkt sich daher für die Tatbestandsvorgaben auf zwei in Art. 83 Abs. 1 UAbs. 2 AEUV tatsächlich benannte Felder, nämlich die sexuelle Ausbeutung von Frauen und Kindern und Computer-Kriminalität bzw. Cybercrime. Ersteres dient als Grundlage für nationale Regelungen zur Strafbarkeit von Vergewaltigungen (Art. 5) und Verstümmelung weiblicher Genitalien (Art. 6), letzteres für Cyber-Stalking (Art. 7), die unbefugte Versendung von Intimaufnahmen via Internet (Art. 8), Cybermobbing (Art. 9) und das Aufstacheln zu Straftaten via Internet (Art. 10) sowie diesbezüglich Anstiftung, Beihilfe und Versuch (Art. 11). Schließlich macht der Richtlinienvorschlag auch differenzierte Vorgaben für Mindesthöchststrafen (Art. 12).

2. Ausschluss von Bagatellen?

Darüber hinaus müssen die Kriterien von Art. 83 Abs. 1 UAbs. 1 erfüllt sein, d.h. die Vorgaben für Katalogtaten müssen nicht nur dem Katalog entsprechen, sondern zugleich eine gewisse Mindestschwere und einen transnationalen Charakter aufweisen. Damit sind zunächst zumindest Vorgaben für Bagatelltatbestände ausgeschlossen.[4] Angesichts des unionsrechtlich gebotenen besonderen Schwerekriteriums fragwürdig sind letztlich Tatbestandsvorgaben, bei denen der EU-Gesetzgeber selbst nur minimale Mindesthöchststrafen vorsieht; das gilt insbesondere auch vor dem Hintergrund, pass primärrechtlich nach Art. 49 Abs. 3 GRCh das Strafmaß zur Straftat nicht unverhältnismäßig sein darf. Die Mindestvorgaben für die Strafrahmenobergrenze müssen von den EU-Staaten so umgesetzt werden können, dass diese letztlich auch innerstaatlich das Höchststrafmaß für den vorgegebenen Tatbestand ergeben (die Mitgliedstaaten können aber – soweit i.S.v. Art. 49 Abs. 3 GRCh verhältnismäßig – darüber hinausgehen); daraus folgt, dass die von der EU vorgegebene Mindesthöchststrafe letztlich als Obergrenze der Sanktion verhältnismäßig ist. Betrachtet man vor diesem Hintergrund die Mindesthöchststrafvorgaben in Art. 12 Abs. 5 und 6 RL-E, sollten diese Tatbestände unter dem Blickwinkel eines Ausschlusses von Bagatellen überprüft werden, denn für die Art. 8 und 10 RL-E vorgegebenen Tatbestände soll eine Strafrahmenobergrenze von zwei Jahren Freiheitsstrafe, für die in Art. 7 und 9 vorgegebenen Tatbestände sogar nur von einem Jahr Freiheitsstrafe ausreichend sein. Damit sollen die Mitgliedstaaten aber nach der allgemeinen Regelung in § 12 Abs. 1 RL-E sicherstellen können, dass wirksame, verhältnismäßige und abschreckende Strafen verhängt werden können. Angesichts der geringen Mindesthöchststrafvorgaben erscheint daher eine Harmonisierung der in Art. 7 bis 10 RL-E vorgesehenen Cybercrime-Delikte fragwürdig. 

3. Grenzüberschreitende Kriminalität?

Schließlich gibt Art. 83 Abs. 1 UAbs. 1 AEUV für die originäre Strafrechtsanweisungskompetenz vor, dass es sich um grenzüberschreitende Kriminalität handeln muss. Das wird man für Cybercrime im Regelfall schon deshalb bejahen können, weil über das Internet zumindest EU-weit überall Tathandlungen (z.B. Stalking, Versenden von Bildern) vorgenommen oder tatbestandliche Erfolge erzielt werden können.[5]

Der Vorgang der Genitalverstümmelung ist als solcher natürlich seinem Wesen nach nicht grenzüberschreitend, doch zeigt der Blick auf die Praxis, dass Täter zur Vornahme solcher Handlungen etwa an ihren Töchtern typischerweise ins (zumeist nicht EU-)Ausland reisen. Die in Art. 83 Abs. 1 UA. 1 AEUV geforderte „grenzüberschreitende Dimension“ dürfte zwar im Regelfall auf einen Grenzübertritt innerhalb der EU abzielen; allerdings ist das nicht begriffsnotwendig, so dass eine EU-weite Regelung von Mindestvorgaben auch dann transnationale Kriminalität betreffen kann, wenn jemand das Opfer an einen Ort außerhalb der EU verbringt, um dort die Verstümmelung vorzunehmen oder vornehmen zu lassen.

Demgegenüber stellt eine Vergewaltigung i.S.v. Art. 5 RL-E weder faktisch noch rechtlich transnationale Kriminalität dar – und zwar erst recht nicht, wenn es um den Bezug zu häuslicher Gewalt geht, denn diese für die Opfer zumeist besonders belastende Gewalt findet typischerweise zuhause statt. Gerade bei häuslicher Gewalt liegt es auch regelmäßig fern, dass der Täter als reisender Kriminelle das Opfer gleichsam auf der Durchreise heimsucht oder sich nach dem Tatvollzug unverzüglich und ohne Wiedersehen ins (EU-)Ausland absetzt.

Das ist das Kernproblem verbindlicher EU-Vorgaben zur Vergewaltigung (aber auch zu Tötungsdelikten) und dieser Einwand muss aus deutscher Sicht in besonderem Maße gelten, hat doch das BVerfG im Lissabon-Urteil vom 30.6.2009 ausdrücklich festgehalten, dass die in Art. 83 Abs. 1 UA. 1 AEUV als Grundlage einer Ermächtigung der EU genannte grenzüberschreitende Dimension allein aus der Art der Tatbegehung oder den Auswirkungen der Tat – und aus nichts anderem (etwa politischen Erwägungen zur Sinnhaftigkeit EU-weiter Bekämpfung o.ä.) – resultieren kann.[6] Eine grenzüberschreitende Vergewaltigung ist – anders als etwa beim Menschenhandel – nicht sinnvoll denkbar, und die Auswirkungen der Tat sind – anders als etwa bei der Luftverschmutzung – im Regelfall allein am Wohnort des Opfers spürbar. Vor diesem Hintergrund dürfte Deutschland der Vergewaltigungs-Vorgabe in Art. 5 des RL-Entwurfs nicht zustimmen, sollen nicht die Vorgaben aus Karlsruhe ignoriert werden.

IV. Zu den einzelnen Tatbestandsvorgaben

Auch wenn nach dem vorstehend Gesagten gegen den Großteil der Vorgaben zum materiellen Strafrecht aus Kompetenzgründen Bedenken bestehen, sollen nachstehend ein paar Gedanken zu den einzelnen Tatbeständen und möglicher Umsetzungsnotwendigkeiten in Deutschland vorgeführt werden.

1. Art. 5 RL-E: Vergewaltigung

„(1)  Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass die nachstehenden vorsätzlichen Handlungen unter Strafe gestellt werden:

a) Vornahme einer nicht-einvernehmlichen sexuellen Handlung an einer Frau durch vaginale, anale oder orale Penetration, sei es mit einem Körperteil oder einem Gegenstand;

b) Nötigung einer Frau zum Vollzug einer nicht-einvernehmlichen sexuellen Handlung mit einer anderen Person durch vaginale, anale oder orale Penetration, sei es mit einem Körperteil oder einem Gegenstand.

(2)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass unter einer nicht-einvernehmlichen Handlung eine Handlung zu verstehen ist, die gegen den erkennbaren Willen der Frau oder in Fällen vorgenommen wird, in denen die Frau aufgrund ihres körperlichen oder geistigen Zustands nicht in der Lage ist, ihren freien Willen zu äußern, beispielsweise im Zustand der Bewusstlosigkeit, einer Vergiftung, des Schlafs, einer Krankheit, einer Verletzung oder einer Behinderung.

(3)   Die Einwilligung kann während der Handlung jederzeit widerrufen werden. Das Fehlen der Einwilligung kann nicht allein durch das Schweigen der Frau, ihre fehlende verbale oder körperliche Gegenwehr oder ihr früheres sexuelles Verhalten widerlegt werden.“

Die Vorgaben für nationale Strafnormen entsprechen weitgehend der Regelung des § 177 Abs. 1 StGB, wenngleich aus Kompetenzgründen Opfer der Handlung jeweils nur eine Frau oder ein Mädchen sein soll; es ist schon darauf hingewiesen worden, dass jedenfalls für die Vergewaltigung männlicher Kinder im Lichte des in Art. 83 Abs. 1 UAbs. 2 AEUV gleichfalls enthaltenen Kinderschutzes eigentlich auch ein Kompetenztitel vorfindlich ist, der aber – warum auch immer – in diesem Kontext unerörtert bleibt (in der Begründung wird auf die Richtlinie 2011/93/EU zur Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs von Kindern u.a. verwiesen, welche durch Art. 45 RL-E etwas „nachgeschärft“ werden soll). Eine Fokussierung allein auf Frauen und Mädchen als Opfer der genannten sexuellen Handlungen wäre zwar im Einklang mit dem vorliegenden Entwurf, doch könnte ja jeder Mitgliedstaat darüber hinausgehen, so dass etwa Deutschland in Ansehung des Opferkreises einer Vergewaltigung nicht auf den Status quo bis 1997 zurückgehen müsste.

Strafbar sein soll nach Art. 5 Abs. 1 RL die „Vornahme einer nicht-einvernehmlichen sexuellen Handlung an einer Frau durch vaginale, anale oder orale Penetration, sei es mit einem Körperteil oder einem Gegenstand“. Grundsätzlich folgt die Kommission – wie Abs. 2 zeigt[7] – wie der deutsche Gesetzgeber dem Nein-heißt-Nein-Konzept, das nur – wie in § 177 Abs. 2 Nr. 2 StGB – für bestimmte Sondersituationen ausgeschlossen ist. Allerdings wählt der EU-Gesetzgeber hier nicht ein ergänzendes Ja-heißt-Ja-Konzept, so dass – nimmt man den Text beim Wort – Personen, die aufgrund einer Behinderung keinen freien Willen äußern können, bei den genannten sexuellen Handlungen per se zum Opfer einer Sexualstraftat werden müssen, was sie faktisch von sexuellen Kontakten (außer mit ihrerseits Schuldunfähigen) ausschließen dürfte. Da es ja nach der Vorgabe allein darauf ankommen soll, ob die Frau ihren freien Willen äußern kann und nicht, ob sie diesen bilden kann, sind damit auch mit dem gebildeten, aber nicht äußerbaren Wille der (behinderten) Frau erfolgte sexuelle Handlungen als Straftaten einzuordnen.

Obwohl die Überschrift dieser Tatbestands-Vorgabe „Vergewaltigung“ (bzw. „Rape“ etc.) lautet, ist es bei der Europäisierung dieses Kriminalfeldes nur erforderlich, dass die in Art. 5 genannten Mindestvoraussetzungen ordnungsgemäß umgesetzt sind. Das folgt schon daraus, dass Art. 83 Abs. 1 UAbs. 1 AEUV die EU nur befugt, Mindestvorgaben für Straftaten und Strafen zu erlassen, mithin nicht exakte Tatbestände – ggf. versehen mit einer amtlichen Überschrift – vorgeben darf. Nicht notwendig ist daher, dass eine spätere Verurteilung aufgrund des europäisierten Sexualdelikts explizit auf „Vergewaltigung“ lautet. Nicht unionsrechtswidrig wäre es daher etwa, wenn in Deutschland auch in Zukunft nicht jede Penetration einer Frau notwendig als „Vergewaltigung“ i.S.v. § 177 Abs. 6 Nr. 1 StGB abgeurteilt wird; ausreichend wäre auch die Ermöglichung einer Verurteilung eines solchen Verhaltens „nur“ als „Sexuelle Belästigung“ oder „Sexuelle Nötigung“. Damit verbliebe es für die Mitgliedstaaten dabei, dass sie selbst im Rahmen der Umsetzung der Vorgaben von Art. 5 RL-E entscheiden können und müssen, ob sie den der Umsetzung dienenden Tatbestand als „Vergewaltigung“ titulieren oder nicht.

Konsequenzen hat die dies betreffende nationale Umsetzungsentscheidung freilich für einen Europäischen Haftbefehl, denn nach Art. 2 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses über einen Europäischen Haftbefehls gilt innerhalb der Sexualdelikte, dass nur bei einer als eine solche bezeichneten „Vergewaltigung“ nach dem Recht des Ausstellungsmitgliedstaates die Prüfung der beiderseitigen Strafbarkeit zwingend entfällt, während gem. Art. 2 Abs. 4     Rb EuHb für alle anderen Sexualdelikte im Recht des Vollstreckungsmitgliedstaates weiterhin die Prüfung beiderseitiger Strafbarkeit vorgesehen werden können (so etwa in Deutschland). Übernimmt ein Mitgliedstaat mithin auch die Legalüberschrift von Art. 5 RL-E, hätte dies zur Folge, dass alle unter dieser Überschrift erfassten Delikte – und damit auch das Art. 5 umsetzende Recht in toto – unabhängig von der Rechtslage im Ausstellungsmitgliedstaat stets die Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls begründen könnten; stuft der Ausstellungsmitgliedstaat dagegen in seinem Strafrecht das Umsetzungsrecht „nur“ als ein anderes Sexualdelikt ein (z.B. „sexuelle Nötigung“ – oder wie in § 177 Abs. 1 und 2 – „sexueller Übergriff“), wäre diese Wirkung nicht automatisch gegeben, denn die Klassifizierung des inkriminierten Verhaltens auf EU-Ebene als „Vergewaltigung“ wäre eben nicht – wie von Art. 2 Abs. 2 Rb EuHb gefordert – eine solche nach dem Recht des den EuHb erlassenden Mitgliedstaates. 

Allerdings hätte auch ohne die Übernahme der Legalüberschrift die Mindestharmonisierung dieses Tatbestandes Konsequenzen für die Rechtshilfe, denn weil nach Umsetzung in allen EU-Staaten überall zumindest die Mindestvorgaben von Art. 5 RL-E strafbar sein werden, ist die beiderseitiger Strafbarkeit (vgl. § 7 StGB) insoweit im Regelfall zu bejahen.

Umsetzungsbedarf könnte sich allerdings aus den Mindesthöchststrafvorgaben des Art. 12 Abs. 2 RL-E ergeben, denn dieser sieht auch für einfache Fälle von Taten i.S.v. Art. 5 RL-E eine Mindesthöchststrafe von acht Jahren vor, während § 177 Abs. 1 und 2 StGB für sexuelle Übergriffe einen Strafrahmen von drei Monaten bis zu fünf Jahren festlegt. Die weitere Vorgabe einer Mindesthöchststrafe von zehn Jahren für erschwerte Umstände ist bereits in § 177 Abs. 6 StGB verwirklicht. Dass die in Art. 5 Abs. 1 RL-E genannten Penetrationshandlungen im Normalfall für sich einen besonders schweren Fall i.S.v. § 177 Abs. 6 Nr. 1 StGB begründet, mag man genügen lassen; formal ist das aber nicht ganz richtig, denn diese Strafrahmenobergrenze gilt eben nicht in jedem Fall einer Penetration einer Frau, sondern eben nur, wenn nicht ausnahmsweise trotz Vorliegens einer Penetration i.S.v. § 177 Abs. 6 Nr. 1 StGB die Regelbeispielswirkung und damit das Vorliegen eines besonders schweren Falles entfallen lässt. Unionsrechtskonform könnte man diese natürlich für Frauen als Opfer einzuschränken suchen, doch wäre dies eine Analogie zulasten des Täters und auch eine nach innerstaatlichem Recht kaum zu rechtfertigende Ungleichbehandlung von Männern, deren strafbewehrte Penetration unverändert nicht zur generellen Bejahung eines besonders schweren Falles führen dürfte. Die Alternative wäre letztlich, auch schon den Strafrahmen von § 177 Abs. 1 StGB deutlich anzuheben; da in Deutschland eine Strafrahmenobergrenze von mindestens acht Jahren ungebräuchlich ist, müsste diese im Einklang mit anderen Delikten bei zehn Jahren gezogen werden (was nach Art. 12 Abs. 2    RL-E freilich die Mindesthöchststrafe für besonders schwere Fälle sein sollte). Betrachtet man andere Vergehenstatbestände mit 10 Jahren Strafrahmenobergrenze im deutschen Recht, liegt dort die Untergrenze regelmäßig bei sechs Monaten Freiheitsstrafe (z.B. § 224 StGB); daran müsste sich dann wohl eine erneute Reform des § 177 Abs. 1 StGB orientieren, was aber letztlich eine Verdoppelung der Ober- wie Untergrenze gegenüber der geltenden Fassung mit sich bringen würde.

2. Art. 6 RL-E: Weibliche Genitalverstümmelung

„Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass die nachstehenden vorsätzlichen Handlungen unter Strafe gestellt werden:

a) Entfernung, Infibulation oder Durchführung jeder sonstigen Verstümmelung der gesamten großen oder kleinen Schamlippen oder Klitoris oder eines Teiles davon;

b) ein Verhalten, durch das eine Frau oder ein Mädchen dazu genötigt oder dazu gebracht wird, sich einer der unter Buchstabe a aufgeführten Handlungen zu unterziehen.“

Die Vorgaben für eine EU-weite Strafbewehrung von Genitalverstümmelungen beschränken sich – wie in § 226a StGB – nach der Überschrift auf Mädchen bzw. Frauen, d.h. im hiesigen Kontext letztlich Personen mit einem weiblichen primären Geschlechtsorgan. Auf den ersten Blick ausgeklammert zu sein scheinen damit v.a. Jungen und Männer. Für letztere wäre Art. 83 Abs. 1 UAbs. 2 AEUV zwar per se keine taugliche Grundlage; da diese Norm aber neben Frauen auch Kinder als besonders geschützte Opfergruppen nennt, wäre eine Erfassung von Jungen theoretisch nicht unmöglich. Dass dies nicht geschehen ist, entspricht sicherlich der international anerkannten Differenzierung zwischen einer zulässigen Knabenbeschneidung und einer strafwürdigen Verstümmelung der weiblichen Genitalien. Die EU-Kommission folgt wie selbstverständlich dieser Dichotomie, obwohl – wie gezeigt – sich diese hier nicht notwendig aus den Kompetenzgrundlagen ablesen lässt. Und die in Deutschland hierfür argumentativ immer wieder herangezogene Religionsfreiheit aus Art. 4 GG (i.V.m. mit dem elterlichen Erziehungsrecht auch in Religionsdingen) spielt für die EU-Organe trotz der Regelung von Art. 10 GRCh traditionell eine eher untergeordnete Rolle.[8]

Allerdings zeigt ein näherer Blick auf die konkreten Vorgaben, dass Art. 6 lit. a RL-E, der „die Entfernung, Infibulation oder Durchführung jeder sonstigen Verstümmelung der gesamten großen oder kleinen Schamlippen oder Klitoris oder eines Teiles davon“, pönalisiert, letztlich zumindest auch nicht binäre oder Trans-Personen mit weiblichen Genitalien erfasst. Ein Problem wäre hier natürlich, wie man mit Trans-Männern umgeht, die in Angleichung ihres biologischen an das soziale Geschlecht eben die operative Entfernung ihrer weiblichen Genitalien wünschen. In Erwägungsgrund 17 heißt es dazu nur recht unbestimmt und knapp: „Die Richtlinie sollte sich auf Praktiken erstrecken, die aus nicht medizinischen Gründen durchgeführt werden.“ Zumindest wenn die innerstaatlichen Regelungen für eine solche Angleichungsoperation gegeben sind, liegen medizinische Gründe in diesem Sinne vor; damit soll nach dem erkennbaren Willen der Kommission eine Pflicht zur Strafbewehrung aufgrund von Art. 6 RL-E entfallen und letztlich die prima facie weitergehende Sprachfassung der Vorgaben teleologisch reduzieren. Dafür spricht auch die Gleichbehandlung mit der umgekehrten Situation bei Trans-Frauen, die eine Entfernung der männlichen Genitalien wünschen; da diese nicht in Art. 6 RL-E erfasst ist, können sie sich nach den EU-Vorgaben nicht strafbar machen. Letztlich würde eine Erfassung von Angleichungsoperationen allein bei Trans-Männern aufgrund ihres Geschlechts gegenüber Trans-Frauen, deren Angleichungsoperation nicht strafbar sein kann, diskriminieren.

Die zweite Tatbestandsalternative in Art. 6 lit. b RL-E sieht über die Genitalverstümmelung hinaus vor, dass bereits jedes „Verhalten, durch das eine Frau oder ein Mädchen dazu genötigt oder dazu gebracht wird, sich einer der unter Buchstabe a aufgeführten Handlungen zu unterziehen“, strafbar sein soll. Damit werden die Mitgliedstaaten zu einer Vorverlagerung der Strafbarkeit verpflichtet, wobei hier eine Einwirkung nur auf Frauen und Mädchen, also Personen weiblichen Geschlechts erfasst ist. In Deutschland gibt es noch kein Pendant, doch werden Handlungen, die als unmittelbares Ansetzen i.S.v. § 22 StGB zur Genitalverstümmelung gem. § 226a StGB angesichts von deren Verbrechenscharakter als Versuch strafbewehrt. Insofern ist freilich nicht unproblematisch, dass Art. 11 Abs. 2 RL-E eine zusätzliche Versuchsstrafbarkeit mit Blick auf den EU-Tatbestand fordert, was wiederum eine Vorverlagerung gegenüber §§ 226a, 22 StGB notwendig machen könnte (deshalb wäre m.E. eine Beschränkung die Versuchsstrafbarkeit lediglich auf Art. 6 lit. a RL-E vorzugswüdrig). Und Nötigungshandlungen auch der genannten Art sind bereits durch § 240 StGB unter Strafe gestellt. Schließlich kann eine Einwirkung auf das Opfer unterhalb der Nötigungsschwelle als Beteiligung an der Genitalverstümmelung selbst strafbar sein, etwa wenn in dieser Einwirkung eine Beihilfe zu § 226a StGB gesehen werden kann. Eine Strafbarkeitslücke bestünde daher allenfalls, wenn ein Opfer ohne Nötigungsmittel dazu gebracht wird (z.B. durch Überredung), sich einer Genitalverstümmelung zu unterziehen, ohne dass darin zugleich eine ggf. auch nur psychische Beihilfe zu dieser Tat liegt, und angesichts der Verpflichtung aus Art. 11 Abs. 1 RL-E u.a. auch Anstiftung und Beihilfe zu Art. 5 bis 9 RL-E zu poenalisieren darüber hinaus auch für den Fall, dass eine Tatbestandsvorgabe in Deutschland „nur“ von §§ 226a, 27 StGB für die bloße Beihilfe hierzu (soweit diese nicht ihrerseits auch als Beihilfe zur Haupttat angesehen und damit gemäß §§ 226a, 27 StGB bestraft werden kann).[9]

Wenn die EU-Kommission gleichwohl mit Blick auf Eingriffe an den Genitalien bei Kindern allein auf solche bei Mädchen rekurriert, zeigt dies, dass sie die üblicherweise bei Jungen vorgenommenen Beschneidungen gerade nicht als strafbar ansieht. Wäre dies anders, müsste sich der vorliegende Vorschlag vorhalten lassen, er ziele – dann ohne rechtfertigenden Grund – auf eine Differenzierung nach dem Geschlecht eines Kindes und das heißt bei der Behauptung des Fehlens eines guten Grundes nichts anderes als auf eine Diskriminierung; da solche der EU-Kommission – zumal angesichts des Ziels, geschlechtsbezogener Benachteiligung entgegenzutreten – fern liegt, ist klar, dass die EU-Kommission die zugrunde liegende Differenzierung zwischen Mädchen und Jungen als Adressaten des jeweiligen Handelns für richtig hält und deshalb ihrem Vorschlag zugrunde legt. Das bestärkt – auch jenseits der Religionsfreiheit – den deutschen Gesetzgeber in seiner entsprechenden, 2012/13 fast zeitgleich in Gesetzesform gegossenen Differenzierung zwischen der Strafbarkeit weiblicher Genitalverstümmelung in § 226a StGB und der Rechtfertigung einer Zirkumzision bei Jungen aufgrund von § 1631d BGB. Die im deutschen Schrifttum vereinzelt unter dem Gesichtspunkt angeblicher Ungleichbehandlung vorgetragenen Bedenken gegen diese differenzierende Rechtslage verfangen damit zu Recht auch auf europäischer Ebene nicht.

3. Art. 7 RL-E: Nicht-einvernehmliche Weitergabe von intimem oder manipulierten Material

„Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass die nachstehenden vorsätzlichen Handlungen unter Strafe gestellt werden:

a) Herstellung von intimen Bildern, Videos oder anderen Materialien, die sexuelle Handlungen einer anderen Person darstellen und einer Vielzahl von Endnutzern mittels Informations- und Kommunikationstechnologien zugänglich sind, ohne Einwilligung der betreffenden Person;

b) Herstellung oder Manipulation von Bildern, Videos oder anderen Materialien, die den Anschein erwecken, dass eine andere Person sexuelle Handlungen vornimmt, und deren anschließende Zugänglichmachung für eine Vielzahl von Endnutzern mittels Informations- und Kommunikationstechnologien, ohne Einwilligung der betreffenden Person;

c) Androhung einer unter den Buchstaben a und b genannten Handlung mit dem Ziel, eine andere Person zu einer bestimmten Handlung zu nötigen oder sie dazu zu bringen, diese zu dulden oder davon abzusehen.“

Ausweislich des Titels dieser Vorgabe geht es um die (nicht-vernehmliche) Weitergabe von intimem Material oder manipuliertem Bildmaterial. Demgegenüber betonen die beiden ersten Tatvarianten zunächst jeweils dessen Herstellen. In Lit. a beschränkt sich die vorgesehene Tathandlung nach dem Wortlaut sogar – für echte Intimaufnahmen – darauf, denn die Zugänglichkeit für Endnutzer via Internet ist sprachlich nur Teil der Beschreibung dieser Bilder (die – so wörtlich – „zugänglich sind“). Denkbar wäre daher auch eine Tatbegehung dergestalt, dass jemand vorsätzlich solche Bilder herstellt, die danach – ohne sein weiteres Zutun (etwa aufgrund eines Bedienungsfehlers) einer Vielzahl von Endnutzern im Internet zugänglich werden. Wie viele eine „Vielzahl“ sind, soll nach  Erwägungsgrund  18  von  den  Umständen abhängig sein;[10] dass hier auf konkrete Zahlenvorgaben verzichtet wird, ist nicht nur vor dem Hintergrund sich möglicherweise ändernder technischer Möglichkeiten überzeugend, sondern auch, weil dies den Mitgliedstaaten ermöglicht, bei der Einfügung in dieser Vorgabe in ihr nationales Strafrecht ihre nationalen Umsetzungsnormen an ggf. schon anzutreffende ähnliche Formulierungen sprachlich und/oder inhaltlich anzulehnen (so findet sich in Deutschland immer wieder die Formulierung „einer großen Zahl von Menschen“, welche der BGH zu § 306b Abs. 1 StGB zumindest bei 14 gefährdeten Menschen bejaht hat[11]).

Versteht man die Vorgabe in einem solchen Sinne, ist allerdings ihre Einstufung als Computerkriminalität fragwürdig, denn die Herstellung des Bildmaterials geschieht ja nicht notwendig via Internet (möglich wäre etwa auch eine Filmaufnahme durch eine nicht internetbasierte Kamera; selbst ein gemaltes Aktbild wäre wohl nicht ausgeschlossen, denn nach Erwägungsgrund 19 soll Bildmaterial „aller Art“ erfasst sein, wenn es danach abfotografiert und dieses Foto ins Internet eingestellt würde); wird danach die Aufnahme im Computer geladen und gelangt erst darüber ins Internet, handelt es sich nicht im eigentlichen Sinne um Cybercrime, so dass die Ermächtigungsgrundlage bei einem solchen Verständnis zweifelhaft wäre. Schon deshalb müsste man die Vorgabe – und sei es im Lichte einer primärrechtskonformen Auslegung, die verhindern würde, dass die Richtlinie mangels hinreichender Ermächtigungsgrundlage in Art. 83 Abs. 1 UAbs. 2 AEUV nicht mit dem primären Unionsrecht vereinbar wäre – wohl so verstehen, dass es darum geht, echte Intimaufnahmen anderen via Internet zugänglich zu machen, ohne dass ein darauf Abgebildeter damit einverstanden ist.

In lit. b folgt auf die Herstellung bzw. Manipulation der Bilder dann als weitere Tathandlung noch die Zugänglichmachung, d.h. eine Weitergabe des Bildmaterials via Internet. Relevanz hat dies nach dem Einleitungssatz dieser Norm für den Vorsatz, der ja alle nachfolgend genannten Handlungen erfassen muss. Daher muss neben dem Herstellen bzw. Manipulieren der Bilder auch deren Zugänglichmachen vom Tätervorsatz umfasst sein. Dass sich die Vorgabe sprachlich etwas unglücklich letztlich auf die Weitergabe von vom Täter hergestelltem oder manipuliertem Bildmaterial zu beschränken scheint, könnte bei der Finalisierung des Vorschlags noch geändert werden, wäre aber auch deswegen kein echtes Problem, weil die Mitgliedstaaten bei der Umsetzung ja über die Vorgaben hinausgehen könnten, indem sie auch die Weitergabe eines von einem anderen hergestellten oder manipulierten Bildes strafbewehren.

Lit. c ist der Sache nach ein spezieller Nötigungstatbestand, der als Nötigungsmittel die Drohung mit einer der Handlungen aus lit. a und b und als Nötigungserfolg allgemein ein Handeln, Dulden oder Unterlassen des Genötigten vorsieht. Da sich das hiernach Anzudrohende unschwer jedenfalls als ein empfindliches Übel i.S. von § 240 Abs. 1 StGB einordnen lassen, werden diese Vorgaben in Deutschland bereits durch § 240 StGB vollumfänglich erfasst; wird als Handlung etwa eine Vermögensverfügung angestrebt, wäre sogar § 253 StGB einschlägig.

4. Art. 8 RL-E: Cyberstalking 

„Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass die nachstehenden vorsätzlichen Handlungen unter Strafe gestellt werden:

a) dauerhafte Bedrohung oder Einschüchterung einer anderen Person mittels Informations- und Kommunikationstechnologien, was dazu führt, dass die betreffende Person um die eigene Sicherheit oder um die Sicherheit unterhaltsberechtigter Personen fürchtet;

b) ständige Überwachung einer anderen Person ohne deren Einwilligung oder rechtliche Genehmigung mittels Informations- und Kommunikationstechnologien mit dem Ziel, die Bewegungen und Tätigkeiten dieser Person zu verfolgen oder zu überwachen;

c) Zugänglichmachen von Material, das personenbezogene Daten einer anderen Person enthält, ohne deren Einwilligung für eine Vielzahl von Endnutzern mittels Informations- und Kommunikationstechnologien, um diese Endnutzer dazu anzustiften, der betreffenden Person einen physischen oder erheblichen psychischen Schaden zuzufügen.“

Auch hier beschränken sich die Vorgaben auf Tathandlungen im Internet und damit auf Cyber-Stalking in einem engen Sinne; sicherlich ist dies heute ein wichtiger Ort für Stalking, weshalb auch der deutsche Gesetzgeber bei der jüngsten Reform von § 238 StGB vor allem Regelungen zur besseren Erfassung von Cyber-Stalking vorgesehen hat. Anders als bei einigen der anderen vorgeschlagenen Cybercrime-Delikte ist aber Stalking faktisch keinesfalls auf das Internet fokussiert. Für die EU-Vorgaben ist das aber kein Problem, können die Mitgliedstaaten bei deren Implementierung doch problemlos darüber hinausgehen und damit etwa auch Kombinationen von virtuellem und reellem Stalking, die vielleicht erst kumulativ das erforderliche Einschüchterungspotenzial aufweisen, strafrechtlich sachgerecht erfassen. Die Vorgabe dient daher erstens der Überprüfung vorhandener Stalking-Regelungen dahingehend, ob sie auch für Cyber-Stalking angemessene Regelungen vorsehen (oder noch im analogen Tatraum verhaftet sind) und zweites der Sicherstellung, dass es in allen EU-Mitgliedstaaten Strafnormen wenigstens gegen Cyber-Stalking gibt. 

5. Art. 9 RL-E: Cybermobbing 

„Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass die nachstehenden vorsätzlichen Handlungen unter Strafe gestellt werden:

a) Initiierung eines Angriffs mit Dritten gegen eine andere Person, indem einer Vielzahl von Endnutzern mittels Informations- und Kommunikationstechnologien Material mit Drohungen und Beleidigungen zugänglich gemacht wird, was zur Folge hat, dass der angegriffenen Person erheblicher psychischer Schaden zugefügt wird;

b) Beteiligung mit Dritten an den unter Buchstabe a genannten Angriffen.“

Damit sollen alle Formen von Mobbing i.S. der Initiierung einer Mobbingattacke im Internet erfasst werden. Solches Cybermobbing kann natürlich auch sexuell konnotierte Inhalte betreffen, muss es aber nicht. Mobbing als solches ist bislang im deutschen Strafrecht noch nicht eigens tatbestandlich verankert. Sofern das an eine Vielzahl von Nutzern gesandte Material allerdings eine Beleidigung des Mobbingopfers enthält, wäre dieses Verhalten tatbestandlich bereits von § 185 StGB erfasst; und seit der 2021 eingefügten tatbestandsinterne Qualifikation für eine Beleidigung via Internet gäbe es dafür auch einen adäquaten Strafrahmen. Demgegenüber wäre eine im Internet verbreitete Drohung dann als Bedrohung gem. § 241 StGB strafbewehrt, wenn dem Mobbingopfer dadurch entweder bestimmte Vergehen oder ein Verbrechen in Aussicht gestellt werden. Das erfasst natürlich keineswegs umfänglich den Kreis möglicher Drohungen. Drohungen mit einem empfindlichen Übel sind dagegen de lege lata nur strafbewehrt, wenn dadurch i.S.v. § 240 StGB ein Nötigungserfolg zumindest angestrebt wird. Und die Zufügung psychischer Schäden ist nach noch h.M. nur dann auch als Körperverletzung gem. § 223 StGB einzustufen, wenn damit ein körperlich-pathologischer Zustand verbunden ist (z.B. bei psychosomatischen Erkrankungen); psychische Schäden können aber auch ohne eine solche körperliche Begleiterkrankung auftreten. Daraus ergeben sich gewisse Lücken, die der deutsche Gesetzgeber zwingend schließen müsste. Dafür wird er wohl nicht darum herumkommen, einen bislang noch nicht gewollten (zumindest Cyber-) Mobbing-Tatbestand zu schaffen, doch gäbe dies die Chance, auch bei der Strafzumessung etwas höher als bloß im Rahmen von §§ 185, 241 StGB anzusetzen. Dabei sollte man dann auch entscheiden, ob sich dieser auf den Tatort Internet beschränkt oder über die EU-Vorgaben hinausgehend auch andere Orte für Mobbing wie den Schulhof etc. erfassen kann. 

6. Art. 10 RL-E: Aufstachelung zu Gewalt oder Hass im Internet

„Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass die vorsätzliche Aufstachelung zu Gewalt oder Hass gegen eine nach biologischem oder sozialem Geschlecht definierte Gruppe von Personen oder gegen ein Mitglied einer solchen Gruppe durch die Verbreitung von diese Aufstachelung enthaltendem Material mittels Informations- und Kommunikationstechnologien, unter Strafe gestellt wird.“

Damit soll – nicht unähnlich zu § 130 Abs. 1 StGB – das Aufstacheln zum Hass gegen bestimmte Personengruppen und deren Angehörige erfasst werden. Dies ist allerdings aufgrund der Kompetenzgrundlage – anders als in Deutschland – beschränkt auf ein Handeln via Internet. Die Mitgliedstaaten können insoweit natürlich darüber hinausgehen, so dass Deutschland an seiner Regelung festhalten kann. Weiterhin ist der Anwendungsbereich der EU-Vorgabe gegenüber § 130 StGB enger, weil sich diese auf Hass wegen des biologischen oder sozialen Geschlechts bezieht; demgegenüber nicht erfasst sind die in § 130 Abs. 1 Nr. 1 StGB explizierte nationalen, rassischen, religiösen oder durch ihre ethnische Herkunft bestimmten Gruppen, ohne dass explizit auch das Geschlecht genannt wäre. Gleichwohl ist der Regelungsgehalt bereits Teil des deutschen Strafrechts, weil neben diesen Gruppen und ihren Angehörigen auch allgemein „Teile der Bevölkerung“ genannt sind. Dazu werden nach einem neueren Judikat etwa auch die „Frauen“ gezählt, so dass als Teil der Bevölkerung auch Geschlechtergruppen angesehen werden können. Selbst wenn man die Kritik daran, dass auch die Bevölkerungsmehrheit gegen Volksverhetzung durch eine Minderheit geschützt sein soll, teilt, wird man anerkennen müssen, dass spätestens mit Ablauf der Umsetzungspflicht dieses RL-Vorschlages eine Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung von § 130 StGB (jedenfalls für ein Aufstacheln im Internet) zur Erfassung von durch ihr (biologisches und/oder soziales) Geschlecht bestimmten Gruppen als Teil der Bevölkerung besteht.

Aus deutscher Sicht ist die Erfassung auch des sozialen Geschlechts spätestens nach der diesbezüglichen Entscheidung des BVerfG (E 147, 1) kein Problem (mehr); den damit verbundenen Paradigmenwechsel unterstreicht auch die beabsichtigte Ersetzung des überholten Trans-   sexuellengesetzes von 1980 durch das von der Ampel-Koalition vorgelegte sog. Selbstbestimmungsgesetz. Ob das in allen Mitgliedstaaten geteilt wird, erscheint freilich fraglich – man denke nur an die oben erwähnte Absage des bulgarischen Verfassungsgerichts an nichtbiologische Geschlechtszuschreibungen. Praktisch dürfte es etwa darum gehen, ob die bewusste Titulierung einer Transperson mit ihrem „Deadname“ und dem darauf bezogenen „falschen“ Pronomen in Beiträgen im Internet als solches strafbar sein muss.

Solches Aufstacheln wird heute in aller Regel via Internet bzw. darüber verbreitete soziale Medien erfolgen, so dass die Beschränkung der EU-Vorgabe auf diesen Verbreitungsweg – der schlicht der Kompetenzbeschränkung u.a. auf Cyberkriminalität geschuldet ist – in der Rechtspraxis die allermeisten Fälle erfassen dürfte; darüber hinaus sind auch insoweit die Mitgliedstaaten natürlich frei, auch andere Verbreitungswege gleichermaßen mit Strafe zu belegen (dies ist bei § 130 StGB bereits der Fall).

7. Art. 13 RL-E: Erschwerende Umstände

„Sofern die nachstehenden Umstände nicht bereits ein Tatbestandsmerkmal der in den Artikeln 5 bis 10 genannten Straftaten sind, stellen die Mitgliedstaaten sicher, dass sie im Zusammenhang mit diesen Straftaten als erschwerende Umstände gelten:

a) Die Straftat oder eine andere Straftat der Gewalt gegen Frauen oder häuslicher Gewalt wurde wiederholt begangen.

b) Die Straftat wurde gegen eine Person begangen, die durch besondere Umstände wie eine Abhängigkeitssituation oder einen Zustand körperlicher, psychischer, geistiger oder sensorischer Behinderung schutzbedürftig geworden ist oder in einer Einrichtung lebt.

c) Die Straftat wurde gegen ein Kind begangen.

d) Die Straftat wurde in Gegenwart eines Kindes begangen.

e) Die Straftat wurde von zwei oder mehr Personen gemeinschaftlich begangen.

f) Der Straftat ging ein extremes Maß an Gewalt voraus oder mit der Straftat ging ein extremes Maß an Gewalt einher.

g) Die Straftat wurde unter Verwendung einer Waffe oder Drohung mit einer Waffe begangen.

h) Die Straftat wurde unter Anwendung von Gewalt oder unter Androhung von Gewalt oder unter Nötigung begangen.

i) Die Straftat führte zum Tod oder Selbstmord des Opfers oder zu schweren körperlichen oder psychischen Schäden bei dem Opfer.

j) Der Straftäter war zuvor wegen ähnlicher Straftaten verurteilt worden.

k) Die Straftat wurde gegen einen früheren oder derzeitigen Ehegatten oder Partner begangen.

l) Die Straftat wurde von einem Familienangehörigen oder einer mit dem Opfer zusammenlebenden Person begangen.

m) Die Straftat wurde unter Missbrauch einer anerkannten Stellung des Vertrauens, der Autorität oder des Einflusses begangen.

n) Die Straftat wurde gefilmt, fotografiert oder in anderer Form aufgezeichnet und vom Täter zugänglich gemacht.

o) Die Straftat wurde dadurch begangen, dass das Opfer dazu veranlasst wurde, Drogen, Alkohol oder andere Rauschmittel zu nehmen, zu konsumieren oder davon beeinflusst zu werden.“

Art. 13 RL-E sieht einen Katalog von nicht weniger als 15 Erschwerungsgründen vor, deren Vorliegen dazu führt, dass die für die einzelnen Tatbestandsvorgaben in Art. 12 RL-E enthaltenen Mindesthöchststrafenvorgaben jeweils erhöht werden. Das setzt nicht notwendig voraus, dass in einer nationalen Norm zwischen einem normalen und einem erschwerten Fall unterschieden wird, soweit nur der nationale Strafrahmen auch im Normalfall bereits hoch genug ist, um auch einen schweren Fall in diesem Sinne zu erfassen. Damit ist der Gesetzgeber nicht verpflichtet, den umfänglichen Katalog explizit in sein Strafgesetz zu überführen.

8. Sonstige Vorgaben zum materiellen Strafrecht

Art. 14 RL-E enthält einige Vorgaben zum Strafanwendungsrecht und Art. 15 RL-E zur Verfolgungsverjährung; beide würden wohl den deutschen Gesetzgeber zu kleineren Anpassungen der §§ 3 ff. bzw. § 78a StGB „nötigen“, doch wäre dies ohne grundlegende Brüche mit dem geltenden Recht möglich.

V. Verhältnis von Art. 67 zu Art. 83 Abs. 3 AEUV

Betrachtet man sowohl die denkbaren Bedenken aus deutscher Sicht gegen Art. 5 RL-E als auch die ebenso denkbaren Angriffspunkte aus bulgarischer Sicht, sind zwei Wege für eine Lösung denkbar, die so viel als möglich von dem Kommissionsvorschlag für möglichst viele Mitgliedstaaten vorsieht und zugleich den jeweils nationalen Vorbehaltsrechten vollumfänglich Rechnung trägt. Der Weg, den die Kommission mit der Vorlage ohne Rücksicht auf diese denkbaren nationalen Sonderbelange bislang gegangen ist, ist nicht per se europarechtswidrig, denn selbst wenn es am Ende (auch) im Rat zu einer Abstimmung über eben diese Vorlage kommen sollte und diese – gegen die Stimmen der betroffenen Mitgliedstaaten – mit qualifizierter Mehrheit angenommen werden sollte, könnten die Mitgliedstaaten ja gestützt auf Art. 83 Abs. 3 AEUV die „Notbremse“ ziehen und ihr Veto einlegen. Danach wäre nur noch möglich, dass die übrigbleibenden Mitgliedstaaten den Rechtsakt im Wege verstärkter Zusammenarbeit und damit nur für sich übernehmen.

Andererseits ist die Kommission bereits bei der Vorlage ihres Vorschlags an Art. 67 Abs. 1 AEUV gebunden, der festlegt, dass im von der Union gebildeten Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts die Grundrechte und die verschiedenen Rechtsordnungen und -traditionen der Mitgliedstaaten geachtet werden. Hier geht es – anders als in Art. 6 Abs. 3 EUV – nicht um gemeinsame (Verfassungs-)Überlieferungen aller Mitgliedstaaten, sondern gerade um deren traditionelle oder auch erst kürzlich begründete Sonderwege, die – das zeigt der Verzicht auf einen Bezug auf das nationale Verfassungsrecht – nicht notwendig in der nationalen Verfassung fundiert sein müssen. Angesichts des insoweit eindeutigen Lissabon-Urteils des BVerfG wird man festhalten können, dass die Nichtübertragung einer Kompetenz an die EU zur Strafrechtsharmonisierung für in Art. 83 Abs. 1 UAbs. 2 AEUV genannte Straftatbestände, falls diese weder aufgrund ihrer Art noch ihrer Auswirkungen einen transnationalen Charakter aufweisen, zumindest der deutschen (Verfassungs-)Rechtsordnung entstammt und entspricht (dass es aus EU-Sicht oder der Sicht der anderen Mitgliedstaaten im Rahmen von Art. 83 Abs. 1 AEUV auch anders fundierte transnationale Straftatbestände geben kann, spielt keine Rolle, denn für Art. 67 Abs. 1 AEUV kommt es ja allein auf die Perspektive des einzelnen betroffenen Mitgliedstaates an). Der diese nationale Schranke missachtende Vorschlag der Kommission würde mithin – zumindest wenn er auch für Deutschland wirksam werden sollte – einen Verstoß der Union gegen Art. 67 Abs. 1 AEUV begründen. Ähnlich stellt sich die Rechtslage in Bulgarien dar, denn auch hier ist durch das dafür zuständige nationale Verfassungsgericht angesichts der anstehenden Beschlussfassung über einen internationalen Vertrag aus dem nationalen (Verfassungs-)Recht eine Schranke herausgelesen worden; die vom bulgarischen Verfassungsgericht postulierte zwingende Beschränkung auf eine binäre biologisch begründete Geschlechterordnung (verbunden mit der Absage an eine davon abweichende soziale Geschlechtszuschreibung) konkretisiert das diesbezügliche bulgarische (Verfassungs-)Recht und steht damit nicht nur – wie eben 2018 entschieden – einer Ratifizierung der Istanbul-Konvention in Bulgarien entgegen, sondern ist auch Teil der bulgarischen (Verfassungs-)Rechtsordnung bzw. (wahrscheinlich auch) der Rechtstradition, so dass sie als solches von der Kommission bei Vorschlägen für das die gesamte Union berührende Recht im Lichte von Art. 67 Abs. 1 AEUV beachtet werden muss.

Nimmt die Kommission jedenfalls bei der Finalisierung ihres Vorschlags die Regelung in Art. 67 Abs. 1 AEUV wirklich ernst, gäbe es für sie formal eigentlich nur zwei Wege, den genannten Belangen der beiden Mitgliedstaaten Rechnung zu tragen: Erstens könnte man auf eine Verbindlichkeit für diese Staaten verzichten und gleich auf eine bloß verstärkte Zusammenarbeit der 25 übrigen Mitgliedstaaten setzen, doch würde dies dazu führen, dass die beiden betroffenen Mitgliedstaaten auch in solchen Teilaspekten des RL-Entwurfs außen vor bleiben würden, in denen ihre nationalen Rechtsordnungen gar nicht tangiert sind. Zweitens könnte sich die Kommission bei den betroffenen Artikeln mit Opt-Out-Klauseln behelfen, die dann für die Mitgliedstaaten einen passgenauen Ausschluss nur solcher Verpflichtungen, die mit ihrer Rechtsordnung nicht in Einklang stehen, ermöglichen würde; will man allerdings am grundsätzlich verbindlichen Charakter (nahezu) aller Regelungen des vorliegenden Vorschlags festhalten und ein Rosinen-Picken aller Mitgliedstaaten vermeiden, müsste man nicht bloß die Opt-Out-Klausel auf die tatsächlich bestehenden Problemfelder begrenzen und obendrein eine Opt-Out-Erklärung auf Fälle des Art. 67 Abs. 1 AEUV beschränken. Der dritte Weg ist angesichts der Verbindlichkeit von Art. 67 AEUV eigentlich von (Unions-)Rechtswegen keiner, könnte sich aber vorliegend gleichwohl als gangbarer Weg erweisen; danach könnte die Kommission ihren Vorschlag unverändert in den Rat einbringen und abwarten, ob dort ein Mitgliedstaat die „Notbremse“ zieht, wonach ggf. ohnehin über Änderungen zu verhandeln ist. Hier könnten dann z.B. die Opt-Out-Klauseln als Notausgang aus der Krise gefunden werden (solche Regelungen hat es in der Vergangenheit ja schon bei der Ratifizierung neuer EG- bzw. EU-Verträge gegeben). Damit hätte die Kommission politisch kommuniziert, dass sie eigentlich für alle Mitgliedstaaten ohne Abstriche das gleiche Recht gelten lassen will, in Ansehung eines drohenden Vetos einzelner Mitgliedstaaten dann aber im Interesse des Gesamtprojekts soweit als zwingend nötig nachgegeben. Allerdings ist es natürlich denkbar – und das gilt angesichts der Zurückhaltung in Bezug auf eine vollumfängliche Ratifizierung und Umsetzung des Vertrags von Istanbul auch in anderen EU-Mitgliedstaaten, selbst wenn deren Verfassungsgerichte möglicherweise nicht die Bedenken wie dasjenige in Bulgarien hegen, – dass sich nach einer Notbremse im Rat nicht durchsetzen lässt, dass ein Opt-Out strikt nur an die Voraussetzungen in Art. 67 Abs. 1 AEUV gebunden ist, so dass möglicherweise allen EU-Mitgliedstaaten dieses Instrument zusteht und das Ziel einer Verankerung der Istanbul-Konvention gerade auch in bislang eher zurückhaltenden Mitgliedstaaten faktisch in sich zusammenbrechen könnte.

VI. Fazit

Die materiellstrafrechtlichen Vorgaben im vorliegenden Vorschlag für eine Richtlinie zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt genügen zum großen Teil den Voraussetzungen des Art. 83 Abs. 1 AEUV als der zugrunde gelegten Ermächtigungsgrundlage nicht. Bei der Vorgabe für die Vergewaltigung fehlt der grenzüberschreitende Bezug; und bei den Vorgaben zu Cybercrime handelt es sich letztlich angesichts der vorgesehenen Mindesthöchststrafen durchweg um Bagatelldelikte, die mithin nicht als schwere Kriminalität angesehen werden können. Vor dem Hintergrund von Art. 83 Abs. 1 AEUV und Art. 49 Abs. 3 GRCh kann daher nur der Vorschlag für einen Tatbestand gegen weibliche Genitalverstümmelungen „bestehen“. Sollten gleichwohl auch die Vorschläge in Art. 5, 7 bis 10 RL-E im Rat beraten werden, müsste die Bundesregierung die dagegen bestehenden Bedenken ernst nehmen und ggf. die „Notbremse“ ziehen.

 

[1]      Proposal for a Directive of the European Parliament and of the Council on combating violence against women and domestic violence v. 8.3.2022, COM(2022) 105 final – 2022/0066 (COD); online abrufbar unter: https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/?
uri=CELEX%3A52022PC0105 (zuletzt abgerufen am 28.7.2022).
[2]      Vgl. dazu die vernichtende Kritik des Bulgarian Helsinki Committee v. 2.8.2018, online abrufbar unter: www.liberties.eu/de/stories/bulgariens-verfassungsgericht-vs-istanbulkonvention/15388 (zuletzt abgerufen am 28.7.2022).
[3]      Zu deren Voraussetzungen schon Heger, ZIS 2009, 406 (413 f.).
[4]      Vgl. Dorra, Strafrechtliche Legislativkompetenzen der Europäischen Union, 2013, S. 195.
[5]      Vgl. Haase, Computerkriminalität im Europäischen Strafrecht, 2017, S. 79 f.
[6]      BVerfGE 123, 267 (410 f.). Zu möglichen Deutungen dieser Passage vgl. auch Dorra, Strafrechtliche Legislativkompetenzen der Europäischen Union, 2013, S. 197 ff. 
[7]      Erwägungsgründe 13 und 14 lassen allerdings tendenziell eine Sympathie für das Ja-heißt-Ja-Konzept anklingen, die sich so aber eben nicht im – für die Mitgliedstaaten verbindlichen – Text von Art. 5 Abs. 2 RL-E niedergeschlagen hat.
[8]      Vgl. nur Waldhoff, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 6. Aufl. (2022), Art. 10 GRCh Rn. 7.
[9]    Zu vergleichbaren Teilnahme-Problemen bei früheren Rahmenbeschlüssen vgl. Brons, Binnendissonanzen im AT, 2014, S. 439 ff.
[10]    Aus Erwägungsgrund 18: „Der Begriff „Vielzahl“ sollte so verstanden werden, dass er sich auf das Erreichen einer beträchtlichen Anzahl von Endnutzern der betreffenden Technologien bezieht und somit einen bedeutenden Zugang zu diesem Material und dessen potenzielle weitere Verbreitung ermöglicht. Der Begriff sollte unter Berücksichtigung der jeweiligen Umstände ausgelegt und angewandt werden, einschließlich der Technologien, die verwendet werden, um dieses Material zugänglich zu machen, und der Mittel, die diese Technologien zur Verstärkung bieten.
[11]   BGHSt 44, 175.

 

 

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