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Die Grenzen der Verantwortung des Compliance-Officers vor dem Hintergrund der Rolle der Geschäftsleitung – Rechtlicher Ansatz in Argentinien

von RAin Dorothea Garff

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Abstract
Sowohl in nationalen als auch in internationalen Unternehmen nimmt die Zahl der Compliance Officer zu. Die Ausübung dieser Tätigkeit ist herausfordernd, da den Compliance Officer eine Reihe von Pflichten und Haftungstatbeständen treffen. Der Beitrag analysiert zunächst die Figur des Compliance Officers und seine Rolle in der argentinischen Gesetzgebung. Sodann werden die Pflichten dargestellt, die Compliance Officer derzeit im argentinischen Recht treffen. Bei der Konturierung dieser Pflichten ist die Rolle Geschäftsleitung von wichtiger Bedeutung. Der Beitrag nimmt dabei die Position ein, dass die Regeln des argentinischen Gesellschaftsrechts eine strafrechtliche Garantenstellung des Compliance Officers begründen könnten. Weiterhin werden die in Argentinien wichtige Unabhängigkeit der Compliance-Funktion hervorgehoben sowie Sonderfälle der Haftung des Compliance Officers dargestellt. Abschließend wird im Hinblick auf die Ausgestaltung der Rolle des Compliance Officers auf bewährte Praktiken in Management und Governance eingegangen.

The number of compliance officers is growing in both national and international companies. The execution of this task is challenging, as the compliance officer is subject to several duties and liabilities. At first, the article analyses the figure of the compliance officer and his role in Argentine legislation. It then describes the duties that compliance officers currently face under Argentine law. In outlining these duties, the role of the executive management is of great importance. The article adopts the position that the rules of Argentine corporate law could establish a criminal guarantor position of the compliance officer. Furthermore, the independence of the compliance function, which is important in Argentina, is highlighted and special cases of the compliance officer’s liability are presented. Finally, best practices in management and governance are discussed regarding the structuring of the compliance officer’s role.

I. Einführung

Es ist ein deutlicher Trend zu beobachten, dass die Zahl von Mitarbeitern, die die Position des Compliance Officers („CO“) innehaben, sowohl in internationalen als auch in lokalen Unternehmen zunimmt. Gleichzeitig steigen auch die Anforderungsprofile, die erfüllt werden müssen. Je nach den Aufgaben, die die Mitarbeiter in den einzelnen Organisationen übernehmen müssen, werden unterschiedliche Fähigkeiten sowie Hard- und Soft Skills verlangt. Im Allgemeinen umfassen diese Aufgaben die Verhinderung und Aufdeckung von Korruption, Betrug und Kartellrechtsverstößen, den Datenschutz, die Bewahrung sonstiger Unternehmenswerte, die Sicherstellung der Einhaltung spezifischer Regeln für bestimmte Märkte und Geschäftsaktivitäten, die Verhinderung von Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung und neuerdings verstärkt auch Themen wie den Schutz von Menschenrechten, den Umweltschutz sowie die Verwirklichung des Ziels einer nachhaltigen wirtschaftlichen Entwicklung sowohl innerhalb des Unternehmens als auch entlang seiner Wertschöpfungskette.[1]

Die Notwendigkeit und die Verantwortung, die Einhaltung der geltenden Vorschriften und der unternehmensinternen Regeln in den oben genannten Bereichen zu gewährleisten, ist sehr herausfordernd. Diese Herausforderungen ergeben sich aus der schrittweisen Ausweitung von Pflichten und Haftungstatbeständen, die Unternehmen derzeit treffen. Ein deutlicher Indikator dafür ist die Einführung einer strafrechtlichen Unternehmenshaftung und die veränderte Rolle des Staates, der das Unternehmen in die Aufgaben der Aufdeckung, Reaktion und Bestrafung von Unternehmenskriminalität einbezieht.Um mögliche Sanktionen sowie Reputationsverluste, Wettbewerbsnachteile und wirtschaftliche Schäden zu vermeiden, führen Unternehmen Präventions- und Kontrollmechanismen in Form von Compliance-Programmen oder, wie sie im argentinischen Recht genannt werden, „Integritätsprogramme“ ein. Es ist offensichtlich, dass mit diesen Trends die Rolle des CO an Bedeutung gewinnt, was auch eindeutig ein positives Zeichen im Kampf gegen die Korruption ist. Die zunehmende Bedeutung von Integritätsthemen birgt jedoch nicht nur größere Risiken für das Unternehmen, sondern auch für den CO[2], insbesondere dann, wenn er nicht die ihm zugewiesenen Aufgaben erfüllt. In diesem Zusammenhang stellen sich Fragen wie die folgenden:

  • Was ist die Rolle des CO und wer übernimmt sie?
  • Welchen Grad und welche Art von Verantwortung sollte der CO übernehmen?
  • Wann ist er strafrechtlich verantwortlich?
  • Was ist die Rolle des Leitungsorgans und der Unternehmensführung?

II. Die Figur des Compliance Officers und seine Rolle in der argentinischen Gesetzgebung

„Compliance-Beauftragte“ oder „interne Beauftragte für Integritätsprogramme“ tauchen vor allem im Gesetz zur Verhinderung von Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung[3], den dazugehörigen Durchführungsvorschriften sowie im Gesetz zur strafrechtlichen Haftung von Unternehmen[4] (Régimen de responsabilidad empresarial penal – „RPE”) auf.

1. Anti-Geldwäsche-Regelung 

Beaufsichtigte Unternehmen, die juristische Personen sind, müssen bei der argentinischen Unidad de Información Financiera (UIF) einen Compliance Officer auf Vorstandsebene benennen, vgl. Art. 21bis 2. c)[5] des Gesetzes 25.246. Zu seinen Aufgaben gehört es, Strategien zur Prävention und Risikosteuerung von Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung vorzuschlagen, ein Präventionshandbuch zu erstellen und die korrekte Umsetzung und das ordnungsgemäße Funktionieren des Systems zur Prävention von Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung zu überwachen. Kapitel IV des Gesetzes 25.246 wiederum normiert ein verwaltungsstrafrechtliches Haftungssystem, das im Falle einer Pflichtverletzung der Compliance-Beauftragten eingreift.[6] Im engeren Bereich der Prävention von Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung sind die Aufgaben und Zuständigkeiten des Compliance-Beauftragten recht eindeutig. Weit weniger klar sind die Stellung und die Verantwortung des CO im Rahmen der strafrechtlichen Verantwortlichkeit von Unternehmen.

2. Strafrechtliche Haftung von Unternehmen

Das argentinische Modell strafrechtlicher Unternehmenshaftung regelt die Merkmale, die ein „Integritätsprogramm“ aufweisen sollte. Dessen Umsetzung ist fakultativ, bietet aber Anreize und Vorteile für Organisationen, die es einführen.[7] Das Gesetz 27.401 beschreibt die Kernbestandteile, die in einem Integritätsprogramm enthalten sein sollten, und unterscheidet zwischen obligatorischen und fakultativen Elementen. Die Benennung eines CO[8] ist Teil der in diesem Gesetz vorgesehenen Elemente, aber nur als fakultativer Bestandteil.

In der Praxis kann sich niemand ein Integritätsprogramm ohne ein Unternehmensmitglied vorstellen, das für die Umsetzung und Durchführung des Programms verantwortlich ist; und sowohl die Lehre[9] als auch das Amt für Korruptionsbekämpfung („Oficina Anticorrupción – OA“) betrachten in ihren Guidelines für eine bessere Einhaltung der Artikel 22 und 23 des Gesetzes 27.401 („Los Lineamientos“)[10] den CO sowohl für große als auch für kleine Unternehmen als eine Figur von erheblicher Bedeutung, um Integritätsprogramme effizient zu gestalten. Das Gesetz 27.401 enthält jedoch keine spezifischen Angaben über die Rolle des CO, seine Funktionen oder seine hierarchische Stellung innerhalb des Unternehmens. Es ist dann Sache des Unternehmens, die Rolle des CO sowie die Art und den Umfang seiner Aufgaben zu definieren. Folglich gibt es in der Unternehmensrealität sehr unterschiedliche Positionen und Funktionen des CO, je nach Größe und Tätigkeit des jeweiligen Unternehmens.[11]

3. Position und Aufgaben des Compliance-Beauftragten im Allgemeinen

Um die Grenzen der Verantwortung des CO festzulegen, muss geklärt werden, welche Erwartungen die Regulierungsbehörden auf lokaler und globaler Ebene in diese Rolle setzen. Diese finden sich in der Beschreibung der Elemente eines Integritätsprogramms sowohl in den Lineamientos als auch in den vielen Leitlinien, die weltweit zu diesem Thema entwickelt wurden. Generell kann man sagen, dass aus den Anforderungen und Voraussetzungen, die ein Integritätsprogramm erfüllen muss, um effizient zu funktionieren, hervorgeht, dass der CO nicht nur eine Schlüssel-, sondern auch eine Querschnittsfunktion im Unternehmen hat. In diesem Sinne muss der Einfluss des CO horizontal über alle Abteilungen und Tätigkeiten eines Unternehmens hinweg wirken und vertikal den Zugang zur obersten Führungsebene und allen weiteren Unternehmensebenen sicherstellen.

Allerdings finden sich in den Unternehmen unterschiedliche Organisationsstrukturen für die Einhaltung der Vorschriften. Es gibt COs auf Vorstandsebene und andere, die auf mittlerer Ebene tätig sind. Es gibt Ein-Personen-Strukturen und Teams, die sich aus Compliance-Spezialisten oder aus Spezialisten und anderen Mitgliedern aus verschiedenen Bereichen eines Unternehmens zusammensetzen (z.B. aus Ethikausschüssen oder anderen Arten von kollegialen Gremien, die sich durch ihren multidisziplinären Charakter auszeichnen). Laut der bereits erwähnten Umfrage[12] des Zentrums für Governance und Transparenz der IAE Business School gewinnt die Stellung des CO auf hierarchischer Ebene an Bedeutung. Die Ergebnisse zeigen, dass die meisten COs heute direkt dem Vorstand oder dem Topmanagement unterstellt sind, während sie vor zehn Jahren noch der Rechtsabteilung untergeordnet waren, der sie ebenfalls Bericht erstatten mussten.[13] Gemeinsamer Nenner ist, dass der CO oder das jeweilige Kollegialorgan für das Korruptionsrisikomanagementsystem (und je nach Fall auch für andere Risiken) oder, wie es im RPE-Gesetz heißt, für Integritätsprogramme zuständig ist.

III. Die Verantwortung des Compliance-Beauftragten

Die oben beschriebenen Trends sollen die geschäftliche Realität und die verschiedenen Positionen und Rollen widerspiegeln, die COs einnehmen sollten. Es bleibt zu untersuchen, ob der CO in erster Linie für das Funktionieren eines Integritätsprogramms verantwortlich ist und/oder ob es andere Mitglieder des Unternehmens sind, die reagieren müssen, wenn die zum Integritätsprogramm gehörenden Kontrollsysteme nicht richtig funktionieren.

1. Strafrechtliche Haftung des Compliance-Beauftragten in Argentinien

Um zu beurteilen, inwieweit ein CO für die Nichteinhaltung seiner Pflichten verantwortlich gemacht werden kann, muss zunächst definiert werden, worin diese Pflichten bestehen. Das RPE-Gesetz erwähnt den CO nur als empfohlenes (nicht obligatorisches) Element eines Integritätsprogramms mit folgender Bezeichnung und Rolle innerhalb des Unternehmens: „Ein interner Beauftragter, der für die Entwicklung, Koordination und Überwachung des Integritätsprogramms zuständig ist.“[14]

Eine weitere Beschreibung der Funktionen und Aufgaben ist in den Lineamientos zu finden, die einen ausführlichen Katalog mit den wichtigsten Aufgaben enthalten, die von der Analyse ethischer Risiken, der Durchführung des Programms, der Lösung von ethischen Dilemmata, der Verwaltung des Whistleblowing-Systems, der Überwachung und Anpassung des Programms bis zur Konzeption von Schulungen und der Beteiligung an der strategischen Planung der Organisation reichen, um nur einige zu nennen. Es handelt sich dabei ausschließlich um Vorschläge. Die Leitlinien enthalten keine konkreten Angaben zur Verantwortung des CO. Die einzige Empfehlung lautet:

„Geben Sie in Ihrem Vertrag, in Ihrer Stellenbeschreibung oder gegebenenfalls in einer schriftlichen Erklärung eindeutig an, welche Aufgaben Sie der Person oder den Personen übertragen, die mit der Wahrnehmung von Verantwortung betraut sind.“[15]

Da sich die Empfehlung auf die Formulierung der vom Unternehmen übertragenen Zuständigkeiten bezieht, scheint es sich hierbei eher um eine arbeitsrechtliche Thematik zu handeln. Es ist erwähnenswert, dass die Formulierung der Verantwortlichkeiten dem Unternehmen auch  nachzuweisen hilft, dass es eines der Elemente seines Programms einhält. Die Formulierung kann auch als Beweis-element dienen, falls die Wirksamkeit des Integritätsprogramms nachgewiesen werden muss, was im Falle einer Ermittlung und/oder Selbstanzeige gemäß Art. 9 oder 18 des RPE-Gesetzes eine grundlegende Voraussetzung ist.

Dies betrifft jedoch die strafrechtliche Haftung des Unternehmens, nicht die persönliche Haftung des CO. Inwieweit dieser selbst strafrechtlich verantwortlich ist, ist hingegen zweifelhaft. Das RPE-Gesetz schweigt zu dieser Frage, und das Gesetz zur Verhinderung von Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung (Art. 21 und 23, Gesetz 25.246) sowie Art. 304 des Strafgesetzbuchs regeln primär die Verantwortlichkeit und die Sanktionierung des Unternehmens selbst.  Selbstverständlich ist aber, dass der CO z.B. für Korruptionsdelikte strafrechtlich verantwortlich ist, die von ihm direkt begangen werden – und zwar unabhängig davon, ob er im Namen des Unternehmens handelt oder nicht. Zudem kommt eine Haftung auch des Unternehmens in Betracht, sofern die Voraussetzungen des Art. 2 RPE-Gesetz erfüllt sind. Weitere Zweifel ergeben sich, wenn der CO seinen Verpflichtungen im Zusammenhang mit dem Integritätsprogramm, z.B. seinen Überwachungspflichten, nicht nachkommt.

In Argentinien gibt es keine spezifische Rechtsprechung für diese Fälle, und das Strafgesetzbuch enthält auch keinen Straftatbestand der Unterlassung von Überwachungspflichten im Unternehmen, der sich darauf auswirken könnte.

2. Rechtsvergleichung – der Compliance Officer als Garant

Während in Argentinien keine spezifische strafrechtliche Haftung existiert, hat die Rechtsprechung in anderen Ländern die strafrechtliche Haftung auf COs ausgeweitet oder präzisiert. Sowohl in Spanien als auch in Deutschland wurden COs wegen eines Unterlassens strafrechtlich sanktioniert, und zwar im Rahmen ihrer Garantenpflicht. Ein wichtiger Präzedenzfall ist das obiter dictum des BGH aus dem Jahr 2009, in dem der Senat die Garantenpflicht i.S.d. § 13 StGB eines CO daraus ableitete, dass dieser die Begehung von Straftaten durch das Unternehmen zu verhindern habe.[16] In Spanien wurden gegen zehn Compliance-Beauftragte der Banco Santander und der BNP Paribas ermittelt, weil sie die Kontrollen, für die sie zuständig waren, nicht durchgeführt hatten.[17]

Die Rechtsprechung, die dem CO die Stellung eines Garanten zuweist, ist in der Literatur sehr umstritten. Es ist davon auszugehen, dass diese Diskussion erst am Anfang steht und dass weitere Positionen hinzukommen werden, wenn weitere Fälle vor Gericht verhandelt werden. Diejenigen, die dafür plädieren, den CO als Garanten für die Verhinderung von Straftaten anderer im Unternehmen zu betrachten, erklären die Stellung des Garanten mit der Aufsichts- und Kontrollpflicht, die COs im Allgemeinen haben. Der Grad der strafrechtlichen Verantwortung des CO hinge vom Umfang seiner tatsächlich übernommenen Verantwortung und von der Rolle, die ihm innerhalb der Unternehmensstruktur zukommt, ab.[18] Folgt man dieser Argumentation ist es eher möglich, einem CO, der z.B. Mitglied eines Leitungsorgans oder eines Aufsichtsrats ist, eine Garantenstellung zuzuweisen als einem Fachmann, der eher die Rolle eines internen oder externen Beraters spielt.

Je nach Ausmaß der übernommenen Rolle ist auch umstritten, ob der CO Täter oder Teilnehmer einer Straftat durch Unterlassen ist.[19] Um die Grenzen einer besonderen strafrechtlichen Haftung oder Garantenstellung des CO zu verdeutlichen, lassen sich folgende Fälle zusammenfassen, bei denen weitgehend Einigkeit über eine bestehende Garantenstellung herrscht:

  • Wenn er auf der gleichen Ebene wie die Geschäftsleitung tätig ist. In diesen Fällen ergibt sich die Garantenstellung aus der allgemeinen Haftung von Vorstandsmitgliedern und Managern, die Sorgfalts- und Treuepflichten nach Art eines ordentlichen Geschäftsmannes einhalten müssen.
  • Wenn Programme zur Einhaltung der Vorschriften gesetzlich vorgeschrieben sind, einschließlich einer spezifischen Verpflichtung zur Ernennung eines CO. In diesem Fall lässt sich die Garantenstellung des CO durch seinen institutionellen Charakter und die entsprechende Zuweisung staatlicher Präventionsaufgaben begründen.
  • Wenn er freiwillig die Verantwortung für ein Compliance-Programm übernimmt, um die Unternehmensinteressen zu schützen oder um Straftaten gegenüber Dritten zu verhindern. In diesen Fällen wird die Garantenstellung aufgrund des besonderen Vertrauens in den CO und aufgrund seiner Organisationskompetenz begründet. Dies setzt ferner voraus, dass der CO die Verantwortung für die Verwaltung und Weitergabe der vom Vorstand benötigten Informationen übernimmt.[20]

Die Debatte ist viel tiefgreifender und wird derzeit in Europa geführt. In Argentinien gibt es noch keine Rechtsprechung zu diesem Thema. Daher kann lediglich versucht werden, einige Ideen zur Rolle des CO, seiner Haftung und deren Wechselwirkung mit den Pflichten der Geschäftsleitung aufzuzeigen, um ein Gleichgewicht zu erreichen, das den CO nicht per se mit der Gefahr einer strafrechtlichen Haftung überlastet.

IV. Die Rolle der Geschäftsleitung

Um die Verantwortung des CO und deren Grenzen zu verstehen, ist es wichtig, das Thema in seinem Kontext zu analysieren, d.h. die Position des CO innerhalb der Unternehmensstruktur, die Rolle der Unternehmensleitung und die Rechtsform des Unternehmens zu berücksichtigen. Sowohl die Rolle der Unternehmensleitung als auch die Rolle des CO hängt wiederum von der Art und Größe der Organisation ab und davon, ob die Geschäftstätigkeit unter einer Aufsichtsbehörde ausgeübt wird, wie z.B. der Zentralbank im Falle von Finanzinstituten. Antworten auf die Verteilung der Zuständigkeiten in Bezug auf das Integritätsprogramm und dessen ordnungsgemäße Ausführung finden sich sowohl in den geltenden Rechtsvorschriften als auch in Best Practices für effiziente Compliance-Programme.

Eines der im RPE-Gesetz vorgeschlagenen Elemente eines wirksamen Integritätsprogramms ist die „sichtbare und unmissverständliche Unterstützung des Integritätsprogramms durch die Geschäftsleitung und das Management.“[21] Es ist kein Zufall, dass die Lineamientos an erster Stelle der Tabelle, die dreizehn obligatorische und empfohlene Elemente eines Integritätsprogramms enthält[22], eine Unterstützung durch das Top-Management vorsehen.

Die am weitesten entwickelte Rechtspraxis zu diesem Thema ist die zum FCPA, einschließlich der Empfehlungen seiner Regulierungsbehörden, der Richtlinien des US Departement of Justice (DOJ) und der US Securities and Exchange Commission (SEC). Sie sind nach wie vor die weltweit umfangreichste Quelle für viele Compliance-Richtlinien und Rechtsvorschriften. Nach der jüngsten Aktualisierung der DOJ-Richtlinien geben die obersten Führungskräfte des Unternehmens – der Vorstand und die leitenden Angestellten – den Ton für den Rest des Unternehmens an.[23]

Auch die argentinischen Lineamientos folgen diesem Beispiel, indem sie den „tone from the top“ als grundlegendes und fundamentales Element des eigentlichen Charakters des Programms betrachten. Ohne eine solche Verpflichtung der obersten Unternehmensebene kann es nicht einmal als Integritätsprogramm angesehen werden. Die DOJ-Leitlinien sprechen auch von geteilter Verantwortung, sowohl vertikal als auch horizontal, wenn sie die Gatekeeper eines Integritätsprogramms erwähnen. Zu ihnen gehören nicht nur der CO und sein Team, sondern alle Akteure in einem Unternehmen, die mit Kontrollverantwortung betraut sind und die Befugnis zur Genehmigung und Zertifizierung von Prozessen oder Richtlinien haben.[24]

Es bleibt zu prüfen, inwieweit der „tone from the top“ (oder „from the middle“) den Grad der Verantwortung beeinflusst, den das Top-Management und/oder diese Gatekeeper für fehlende Kontrollen im Rahmen eines Integritätsprogramms zu übernehmen haben.

1. Gesellschaftsrechtliche Haftung des Leitungsorgans

Um die Haftungsgrenzen des COs anschaulicher darlegen zu können, müssen wir die Verantwortung prüfen, die das Gesetz den Organen, die eine Organisation vertreten und leiten, zuweist.

Die Haftung der obersten Führungsebene der meisten Unternehmen in Argentinien wird zunächst durch das Ley General de Sociedades („LGS“)[25] geregelt. Im Rahmen des Gesellschaftsrechts wird das Leitungsorgan einer juristischen Person – am Beispiel der Aktiengesellschaft („Sociedad Anónima – SA“) – als die Person charakterisiert, die die Funktionen der Leitung, Verwaltung und Vertretung der Gesellschaft wahrnimmt und die für die Durchführung aller unerlässlichen Handlungen, die direkt oder indirekt mit dem Gesellschaftszweck zusammenhängen, verantwortlich ist.[26]

Der allgemeine Grundsatz der Haftung von Geschäftsführern ist in Artikel 59 LGS verankert, in dem es heißt, dass die Geschäftsführer und Vertreter der Gesellschaft treu und mit der Sorgfalt eines ordentlichen Geschäftsmannes handeln müssen. Wer seinen Pflichten nicht nachkommt, haftet unbeschränkt und gesamtschuldnerisch für den Schaden, der durch sein Handeln oder Unterlassen entsteht. Art. 274 LGS wiederum sieht die Haftung für eine fehlerhafte Amtsausübung von Vorständen einer argentinischen Sociedad Anónima (vergleichbar mit der deutschen Aktiengesellschaft) vor:

„Die Vorstände haften unbeschränkt und gesamtschuldnerisch gegenüber der Gesellschaft, den Aktionären und Dritten für eine fehlerhafte Amtsausübung nach den Kriterien von Artikel 59 sowie für die Verletzung des Gesetzes, der Satzung oder der Geschäftsordnung und für jeden anderen durch Vorsatz, Missbrauch von Befugnissen oder grobe Fahrlässigkeit verursachten Schaden.“

Die Rechtsbegriffe der Treue und der Sorgfalt legen die allgemeinen Verhaltensrichtlinien fest, die bei der Geschäftsführung zu beachten sind, und aus der Sicht Dritter ist es das Verhalten, das das Unternehmen von seinem Vorstand aufgrund des ihm bei seiner Bestellung entgegengebrachten Vertrauens erwartet.[27]

Das Konzept der gesamtschuldnerischen Haftung bezieht sich auf den kollegialen Charakter des Geschäftsführungsorgans, in dem der Wille des Organs das Ergebnis des Zusammentreffens der Mehrheit der Einzelwillen ist, aus denen es sich zusammensetzt, während die Haftung unbeschränkt ist, da sie sich nicht auf die Einlage beschränkt, die jedes Vorstandsmitglied leisten muss, sondern vielmehr auf das gesamte Vermögen bezieht.[28]

Es wird deutlich, dass das Geschäftsführungsorgan in Handelsgesellschaften für die Kontrolle der juristischen Person zuständig ist, da seine umfassende Verantwortung nicht nur die Handlungen seiner Mitglieder, sondern auch deren Unterlassungen umfasst. Nach dem LGS ist diese Kontrolle ausschließlich den Vorständen vorbehalten, indem Art. 266 LGS festlegt, dass die Vorstandsämter grundsätzlich höchstpersönlich und nicht übertragbar sind. Das LGS sieht allerdings einige Ausnahmen vor, wenn es in Art. 269 heißt: „Die Satzung kann einen Exekutivausschuss einrichten, der sich aus Vorstandsmitgliedern zusammensetzt, die nur für die Führung der laufenden Geschäfte zuständig sind.“ Gleichzeitig sieht es jedoch vor, dass dieser Ausschuss vom Vorstand überwacht wird, und außerdem legt dieselbe Norm fest, dass die Einsetzung eines Ausschusses „die Pflichten und Verantwortlichkeiten der Vorstände nicht ändert“.

Art. 270 LGS wiederum sieht die Delegation von Befugnissen und Aufgaben an Haupt- und Sondergeschäftsführer vor, wobei die Verantwortung des Vorstands stets unberührt bleibt.

Etwas flexibler ist die Delegation von Verantwortlichkeiten in der Sociedad de Responsibilidad Limitada (vergleichbar mit der deutschen GmbH), wenn Art. 157 LGS ausdrücklich festlegt, dass die Haftung der Geschäftsführer individuell oder gesamtschuldnerisch ist, „je nach der im Vertrag festgelegten Ausgestaltung der Geschäftsführung und der Regelung ihrer Arbeitsweise.“

Daher sieht das LGS nur eine horizontale, nicht aber eine vertikale Delegation von Verantwortung vor. Es liegt auf der Hand, dass das Ausmaß der Verantwortung, die der CO übernimmt, von der hierarchischen Stellung abhängt, die er innerhalb einer Organisation einnimmt. Er trägt eindeutig die Verantwortung des Leitungsorganes, wenn er diesem angehört.

In diesem Sinne kommt die Lehre zu dem Schluss, dass in den Fällen, in denen die für die Durchführung, Überwachung und Kontrolle des Programms verantwortliche Person tatsächlich Mitglied des Vorstands einer Aktiengesellschaft (oder eines Leitungsorgans in einer anderen Gesellschaftsform) ist und eine der Funktionen und Aufgaben, für die sie ausschließlich verantwortlich ist, nicht oder mangelhaft erfüllt, sie gemäß Artikel 59 i.V.m. 274 LGS für eine fehlerhafte Amtsausübung haftet. [29]

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Regeln des Gesellschaftsrechts, der Haftungsmaßstab der Treue und Sorgfalt des ordentlichen Geschäftsmannes, die die Kontrolle und Überwachung der Geschäftstätigkeit einschließen, im Prinzip persönlich und nicht delegierbar sind. Diese, sich aus dem Gesellschaftsrecht ergebende Haftung des Leitungsorgans hat Ordnungsrechtscharakter und könnte daher auch eine strafrechtliche Garantenstellung begründen. Dies setzt voraus, dass ein Mitglied, das seinerseits für die Compliance zuständig ist, es (grundsätzlich vorsätzlich) unterlässt, ein oder mehrere Mitglieder der Gesellschaft zu kontrollieren oder zu beaufsichtigen. Die zu kontrollierenden Mitglieder müssen dabei im Zusammenhang mit der Geschäftstätigkeit der Gesellschaft ein Korruptionsdelikt oder eine andere Straftat mit wirtschaftskriminellem Charakter begehen.

2. Verantwortung des Leitungsorgans für Fragen der Einhaltung der Vorschriften

Weltweit und insbesondere im US-amerikanischen System wurden die Grenzen der Kontrolle und Überwachung festgelegt, die die Geschäftsführer eines Unternehmens ausüben müssen, um Korruptionsdelikte zu vermeiden. Bei ihren Entscheidungen müssen sie nach Treu und Glauben handeln oder in der Sprache des angelsächsischen Systems: den Grundsatz der duty of care beachten.

Als Haftungsbeschränkung für das Leitungsorgan gilt auch die Business Judgement Rule: Dieser Grundsatz besagt, dass Entscheidungen, die auf der Grundlage angemessener Informationen und in gutem Glauben getroffen werden, nicht gerichtlich überprüft werden können. Um angemessene Informationen zu erhalten, ist der Vorstand sogar verpflichtet, interne Untersuchungen einzuleiten, wenn es im Unternehmen Anzeichen für Korruption gibt.[30] In diesem Sinne hat die FCPA-Rechtspraxis Vorstände mit Geldstrafen in Millionenhöhe belegt, weil sie es versäumt haben, Untersuchungen einzuleiten, obwohl ein zweifelhaftes Anreizsystem die Gewinne exponentiell ansteigen ließ, wie beispielsweise im Fall der Wells Fargo Bank. Ein weiterer FCPA-Fall mangelnder Aufsicht und Kontrolle durch den Vorstand ereignete sich bei Volkswagen in Deutschland, wo es um den Skandal ging, dass Software in Fahrzeugen verändert wurde, um niedrigere Emissionen vorzutäuschen.[31] Daraus lässt sich schließen, dass das Leitungsorgan seine Verantwortung für die Kontrolle und Überwachung beibehalten muss, dies also Aufgaben sind, die nicht an einen leitenden Angestellten delegiert werden können, wenn dieser nicht Teil des Vorstands ist.

Diese Grundsätze gelten sowohl im argentinischen Recht als auch weltweit. In der Realität ist der CO in den meisten Unternehmen nur selten Teil des Leitungsorgans. Wenn er nicht dem Leitungsorgan angehört, hat er im Idealfall einen direkten Berichtsweg zur Geschäftsleitung.

V. Unabhängigkeit der Compliance-Funktion

Unabhängig von der Position des CO gibt es weitere relevante Aspekte, die die Compliance-Funktion erfüllen muss. Um das Integritätsprogramm umsetzen und seine Überwachungs- und Kontrollfunktionen wahrnehmen zu können, ist es von entscheidender Bedeutung, dass der CO über Autonomie und Unabhängigkeit verfügt, und zwar sowohl in einer Führungsposition als auch von einer untergeordneten Ebene aus. In den Lineamientos wird die Bedeutung dieser beiden Aspekte in den ergänzenden Fragen an den internen Beauftragten (CO) hervorgehoben: [32]

1. Fragen im Zusammenhang mit der Autonomie:

  • Verfügen Sie über ausreichende Autonomie und Ressourcen?
  • Ist Ihre Position im Unternehmen angemessen, um Entscheidungen von Kollegen, die Ihnen gleichgestellt sind, zu beeinflussen?
  • Kommen Ihnen angemessene Berichtserstattungskompetenzen zu, um die Entscheidungen der obersten Führungsebene zu beeinflussen?

2. Fragen im Zusammenhang mit der Unabhängigkeit:

  • Wird Ihre Unabhängigkeit bei der Beurteilung gewährleistet?
  • Besteht ein alternativer Berichtsweg für kritische Fälle oder wenn die Verantwortung eines Vorgesetzten betroffen sein könnte?
  • Besteht eine Garantie für eine klare Arbeitsplatzsicherheit?

Nur, wenn diese Fragen bejaht werden können, hat der CO die Möglichkeit, kritische Punkte unabhängig von der Hierarchieebene anzusprechen und gegebenenfalls auf das Missverhalten auch von Mitarbeitern in höheren Positionen (z.B. in der Geschäftsleitung) hinzuweisen.

Es stellt sich die Frage, was passiert, wenn der CO im Vorstand einer Gesellschaft sitzt. In solchen Fällen könnte ein Vorstandsmitglied nicht nur für eine fehlerhafte Amtsausübung, sondern auch für ein Korruptionsdelikt eines anderen Vorstandsmitglieds gesamtschuldnerisch haften. Eine gesamtschuldnerische Haftung könnte daher die entsprechenden Kontrollen des CO innerhalb des Leitungsorgans behindern, da die Gefahr besteht, dass der CO selbst von möglichen Sanktionen betroffen ist. Die gesamtschuldnerische Haftung des Vorstandsmitglieds ermöglicht es ihm außerdem nicht, die oben erwähnte notwendige Autonomie und Unabhängigkeit zu erlangen. Nur mit einer klaren Aufteilung der Funktionen und Zuständigkeiten, auch innerhalb des Leitungsorgans, kann eine Compliance-Struktur gewährleistet werden, die eine unternehmensweite Kontrolle und Überwachung ermöglicht.

Das LGS sieht die Möglichkeit vor, Funktionen und Zuständigkeiten innerhalb ein und derselben Verwaltungsstelle horizontal zuzuordnen. In diesem Sinne erlaubt Artikel 274 LGS die persönliche und ausschließliche Zuweisung der Verantwortung an einzelne Vorstandsmitglieder, mit der Auflage, dass diese Zuweisung im zuständigen Handelsregister eingetragen wird.

VI. Sonderfälle der Haftung des Compliance-Beauftragten

Neben den allgemeinen Regeln des Gesellschaftsrechts gibt es für bestimmte Unternehmen Sonderregelungen, die dem CO eine größere oder spezifische Haftung zuweisen. Um sie von den allgemeinen Konzepten der Haftung und ihrer Verteilung innerhalb der Unternehmensorganisation abzugrenzen, werden nachfolgend kurz und beispielhaft die Sonderregelungen aufgelistet:

  • Die gesetzliche Verpflichtung zur Ernennung eines Compliance-Beauftragten innerhalb des Leitungsorgans in allen beaufsichtigten Unternehmen, die dem Gesetz zur Verhinderung von Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung unterliegen.
  • Der Corporate-Governance-Kodex der Nationalen Wertpapierkommission, der für Unternehmen gilt, die Aktien und/oder Schuldverschreibungen öffentlich anbieten. Der Kodex enthält Grundsätze der Integrität und Transparenz, die in die Führungsstruktur einzubeziehen sind.
  • Der Beamte, der die Funktion des CO in staatlichen Einrichtungen oder staatlichen Unternehmen ausübt. Als Beamter hat er eine größere Verantwortung, z.B. die Pflicht, Straftaten anzuzeigen, von denen er Kenntnis erhält.

In Bezug auf die letztgenannte Annahme entwickelte die Lehre das Konzept der „öffentlichen Rechtstreue“, das grundsätzlich auf jede öffentliche juristische Person, einschließlich der vom Staat gegründeten Unternehmen, anwendbar ist. Nach diesem Standpunkt sollten solche Einrichtungen durch besondere Vorschriften reguliert werden, die das Erfordernis eines „öffentlichen CO“ mit besonderen Funktionen und Merkmalen beinhalten.[33]

Obwohl es in Argentinien noch keine Rechtsprechung zu diesem Thema gibt, kann man zu dem Schluss kommen, dass in den genannten Fällen eine strafrechtliche Garantenstellung des CO gerechtfertigt sein könnte, da seine Rolle und seine Aufgaben gesetzlich festgelegt sind. Dies liegt, wie erwähnt, an der institutionellen Ausgestaltung der Compliance-Funktion und der damit verbundenen Zuweisung von staatlichen Präventionsaufgaben.[34]

VII. Aufteilung und Ausgewogenheit der Zuständigkeiten – bewährte Praktiken in Management und Governance

Der Grad der Verantwortung des CO ist also von der Rolle und Position im Unternehmen und den übernommenen Aufgaben abhängig und kann nicht isoliert analysiert werden. Vielmehr muss dieser in den Kontext der Unternehmensstruktur gestellt und vor allem vor dem Hintergrund der nicht delegierbaren Verantwortung der obersten Unternehmensleitung interpretiert werden.

Auch das Konzept des „Tone from the Top“ und die von den „Gatekeepern“ innerhalb eines effizienten Compliance-Risikomanagementsystems zu übernehmenden Rollen zeigen, dass die Verantwortung für eine gute Compliance auf mehrere Mitglieder einer Organisation verteilt werden muss. Diese Auffassung deckt sich auch mit den Vorgaben des RPE-Gesetzes, wonach das Integritätsprogramm „den mit der Tätigkeit der juristischen Person verbundenen Risiken sowie ihrer Größe und wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit“ entsprechen muss.[35] Ein „angemessenes“ Programm impliziert mehr oder weniger Aufgaben und Zuständigkeiten, die immer von der Geschäftstätigkeit und der Struktur des jeweiligen Unternehmens abhängen. In der Praxis gibt es anerkannte und bewährte Instrumente, die dazu beitragen, den Grad der Verantwortung zu klären, den die Unternehmensleitung übernehmen sollte, und die Compliance-Funktionen und damit die Last der Überwachung und Kontrolle auf mehrere Personen zu verteilen. Für die Vorbeugung, Aufdeckung und Behebung von Compliance- und Antikorruptionsproblemen können die ISO-Normen für Managementsysteme genannt werden. Ein weiteres Instrument sind die Corporate-Governance-Systeme mit ihrem viel umfassenderen und langfristigeren Ansatz.

1. ISO-Managementsysteme

Es gibt verschiedene Managementsysteme, die nach den ISO-Normen zur Korruptionsbekämpfung und Compliance (ISO 37.001 und 37.301) zertifiziert werden können. Dabei handelt es sich um Leitlinien für die Einführung und den Betrieb von Korruptionsrisikomanagement- und/oder Compliance-Systemen, deren Umsetzung für Unternehmen freiwillig ist. Die jeweiligen Leitlinien enthalten eine klare Beschreibung der Rolle und der Zuständigkeiten der „Compliance-Funktion“, d.h. des für ein Integritätsprogramm oder ein Korruptionsrisikomanagement-System zuständigen Mitarbeiters oder eines Teams von Mitarbeitern. Der CO, die Compliance-Funktion oder die für das System verantwortliche Person sind jedoch nicht der einzige verantwortliche Teil des Managementsystems. Die ISO-Normen sehen Compliance-Verantwortung für Manager, Mitarbeiter und natürlich die oberste Führungsebene vor, immer mit der Vorgabe, die Rollen und Zuständigkeiten in den jeweiligen Stellenbeschreibungen zu klären. Diese Systeme tragen dazu bei, Rollen und Zuständigkeiten klar zu definieren und die gewichtige Rolle und Verantwortung der obersten Führungsebene zu stärken. Folglich erleichtern sie auch die Klärung der Verantwortung für die Unterlassung der Kontrolle und Überwachung eines oder mehrerer Verantwortlicher innerhalb eines Managementsystems, die dem CO, einem Gatekeeper, einem Manager oder einem Mitglied des Leitungsorgans zukommen kann.

2. Regeln der Unternehmensführung

Es ist offenkundig, wie wichtig Engagement, Verantwortung und „Tone from the top“ für eine wirksame Einhaltung der Vorschriften und mehr noch für die Ausrichtung des Unternehmens auf eine Kultur der Ethik und Integrität sind. In der Realität nimmt jedoch die oberste Führungsebene in vielen Unternehmen diese Aufgaben nicht konsequent wahr. NAVEX Global führte eine Umfrage unter 1.000 Führungskräften über ihre Unternehmensführung und ihr Engagement für die Einhaltung von Vorschriften durch. Es stellte sich heraus, dass ein hohes Maß an allgemeinem Engagement für die Einhaltung der Vorschriften besteht (70 % der Befragten), dieses Engagement jedoch auf 45 % sinkt, wenn die Geschäftsinteressen mit dem Compliance-Programm in Konflikt geraten.[36] Es wurde auch erwähnt, dass die Verantwortung von Unternehmen allgemein immer weiter ausgedehnt wird.

Das RPE-Gesetz gewinnt zunehmend an Bedeutung, aber es kommen noch weitere Herausforderungen in Bezug auf Umwelt-, Sozial- und Menschenrechtsfragen hinzu. Eines der wichtigsten Instrumente, um ein größeres Engagement der Unternehmen und ihrer Führungskräfte und damit die Einhaltung der erweiterten Ziele und Verantwortlichkeiten zu erreichen, sind die Grundsätze der Corporate Governance. Die OECD fasst den Zweck der Governance wie folgt zusammen:

“The corporate governance framework should ensure the strategic guidance of the company, the effective  monitoring of management by the board, and the board’s accountability to the company and the shareholders.”[37]

Laut OECD bietet eine gute Corporate Governance angemessene Anreize für den Vorstand und das Management, Ziele zu verfolgen, die im Interesse des Unternehmens und seiner Aktionäre liegen, und erleichtert zudem eine wirksame Überwachung. Kurz gesagt, die Governance-Grundsätze und -Regeln erfordern nicht nur schriftliche Regeln und Verfahren, sondern auch eine klare Verteilung der Rollen und Zuständigkeiten innerhalb des Leitungsorgans auf horizontaler Ebene und eine Delegation von Aufgaben auf vertikaler Ebene. Korruptionsprävention und eine Kultur der Integrität sollten bereits Teil dieser Governance-Regeln sein. Es ist bekannt, dass die Regeln der Good Governance zahlreiche Vorteile mit sich bringen, zum Beispiel die folgenden:

  • Sie schaffen Vertrauen, sowohl für die Mitglieder eines Unternehmens als auch für seine „Stakeholder“, zu denen Aktionäre, Investoren, Verbraucher und andere interessierte Parteien gehören.
  • Sie tragen dazu bei, Talente zu binden, da die Mitarbeiter immer mehr danach streben, Teil von Unternehmen mit einer starken ethischen Kultur als Unterscheidungsmerkmal zu sein.
  • Sie stärken Unternehmen mit einem schwachen regulatorischen Umfeld oder einer geringen Rechtsanwendung, da sie ein höheres Maß an Selbstregulierung aufweisen.
  • Sie sorgen für eine größere Vielfalt in den Gremien, die Entscheidungen treffen und gestalten.[38]
  • Sie werden von Institutionen und Aufsichtsbehörden auf lokaler und globaler Ebene verlangt, z. B. für Unternehmen, die ihre Wertpapiere öffentlich anbieten.
    Der von der nationalen Wertpapierkommission ausgearbeitete Corporate-Governance-Kodex und auch bilaterale oder multilaterale Organisationen wie die Interamerikanische Entwicklungsbank oder die Weltbank verlangen von den Unternehmen die Einbeziehung ihrer Standards oder Kodizes für die Unternehmensführung, einschließlich der Compliance-Programme.[39]
  • Sie unterstützen Unternehmen, die sich an den UN-Zielen für nachhaltige Entwicklung orientieren und mit ihnen eine langfristig nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung anstreben.

VIII. Schlussfolgerungen

Compliance und die Person(en), die in einem Unternehmen für ein Integritätsprogramm und das entsprechende Risikomanagementsystem für Korruption bzw. andere Risiken zuständig sind, spielen eine immer wichtigere Rolle. Daraus ergibt sich die Debatte über die strafrechtliche Verantwortlichkeit des CO, wenn dieser seinen Kontroll- und Aufsichtspflichten nicht nachkommt. In einigen Ländern gibt es bereits eine Rechtsprechung, die dem CO in solchen Fällen eine Garantenstellung zuweist. Dies kann vernünftig sein, wenn der CO Teil des Leitungsorgans ist. Grund dafür ist, dass er in dieser Position persönliche und nicht delegierbare Verpflichtungen hat, mit der Loyalität und Sorgfalt eines ordentlichen Geschäftsmannes zu handeln, die ihm durch das Recht der Handelsgesellschaften zugewiesen werden.

In diesem Zusammenhang wird deutlich, wie wichtig die Unabhängigkeit und Autonomie ist, die die Compliance-Funktion benötigt, um Dilemmata und Verstöße anzusprechen und sogar Beschwerden gegen ein Mitglied des Leitungsorgans vorzubringen. Ein wirksames Programm setzt voraus, dass die Zuständigkeiten des CO begrenzt werden und seine Rolle und seine Aufgaben geklärt werden.

Im weiteren Sinne sollte die Verantwortung für die Einhaltung der Vorschriften ausgewogen auf mehrere Personen innerhalb eines Unternehmens verteilt werden, wobei die oberste Führungsebene eine klare Führungsrolle übernehmen sollte. Dieses Gleichgewicht kann durch Managementsysteme, wie sie in den ISO-Normen vorgestellt werden, und/oder durch eine stärkere Selbstregulierung des Unternehmens und seines Leitungsorgans nach den Regeln der Corporate Governance erreicht werden. Letzteres hat viele zusätzliche Vorteile, insbesondere in Kontexten und Ländern mit geringer oder schwacher Strafverfolgung.

 

[1]      Vgl. die Ergebnisse einer neueren Umfrage des Zentrums für  Governance und Transparenz der IAE Business School in Pilar (Argentinien), abrufbar unter https://www.gobernabilidadytransparencia.com/wp-content/uploads/2016/08/Presentacion-encuesta-marzo2021.pdf (zuletzt abgerufen am 4.7.2022).
[2]      Aus stilistischen und sprachlichen Gründen bezieht sich „der CO“ (Compliance Officer) auf alle Geschlechter.
[3]      Gesetz 25.246 vom 13.4.2000, B.O. 10.05.2000, Nr. 29.395, S. 1 ff.; alle argentinischen Gesetze sind unter https://www.argentina.gob.ar/normativa abrufbar (zuletzt abgerufen am 4.7.2022).
[4]      Gesetz 27.401 vom 8.11.2017, B.O. 1.12.2017, Nr. 33.763, S. 3 ff.; vgl. dazu näher Tangerino/Montiel/Olive, KriPoZ 2019, 189 (192 ff.).
[5]      Art. 21bis wurde durch Art. 13 des Gesetzes 27.446 vom 30.5.2018 neu gefasst, vgl. B.O. 18.6.2018, Nr. 33.893, S. 4 f.
[6]      Genera, Revista de Derecho Comercial 301, 33, Cita: TR LALEY AR/DOC/314/2020.
[7]      Genera, Revista de Derecho Comercial 301, 33, Cita: TR LALEY AR/DOC/314/2020.
[8]      Oder „intern verantwortliche Person, die für die Entwicklung, Koordinierung und Überwachung des Integritätsprogramms zuständig ist“ (Art. 23 IX, RPE-Gesetz).
[9]      Vgl. Ozollo, in: La nueva ley de responsibilidad penal de personas jurídicas y el compliance, 2018, S. 69 ff.
[10]    Lineamientos de Integridad para el mejor cumplimiento de lo establecido en los artículos 22 y 23 de la Ley N° 27.401 de Responsabilidad Penal de Personas Jurídicas, abrufbar als Annex I (S. 19 ff.) der Lineamientos para la implementación de Programas de Integridad, online abrufbar unter: https://www.argentina.gob.ar/sites/default/files/lineamientos_para_la_implementacion.pdf (zuletzt abgerufen am 4.7.2022).
[11]    Vgl. die Umfrageergebnisse des Zentrums für Governance und Transparenz der IAE Business School (Fn. 1).
[12]    Vgl. oben Fn. 1.
[13]    Vgl. (Fn. 1), S. 3.
[14]    Art. 23 IX, Gesetz 27.401.
[15]    Lineamientos (Fn. 10), S. 70.
[16]    BGH, NJW 2009, 3173 (3175).
[17]    Vgl. Anllo/Alguacil: ¿Tiene el Compliance Officer responsabilidad penal?, abrufbar unter https://www.worldcomplianceassociation.com/1408/articulo-tiene-el-compliance-officer-responsabilidad-penal.html (zuletzt abgerufen am 4.7.2022).
[18]    Vgl. Castellanos/Domeniconi, in: Peralta/Rusca (Hrsg.), Fundamentos del Derecho Penal y delitos de cuello blanco, S. 82 ff.
[19]    Vgl. Castellanos/Domenicioni, a.a.O.
[20]    Vgl. die verschiedenen Positionen in: Ferrari/Gramática Bosch, Revista Argentina de Derecho Penal y Procesal Penal – Número 28 – Junio 2020, Fecha: 25-06-2020 Cita: IJ-CMXIV-461, S. 11.
[21]    Art. 23 c) II. Gesetz 27.401.
[22]    Lineamientos (Fn. 10), S. 26.
[23]    U.S. Department of Justice Criminal Division Guidelines: Evaluation of Corporate Compliance Programs, (Updated June 2020), S. 10, online abrufbar unter:https://www.justice.gov/criminal-fraud/page/ file/937501/download (zuletzt abgerufen am 4.7.2022).
[24]    U.S. Department of Justice Criminal Division Guidelines, Fn. 23,   S. 4.
[25]    Gesetz Nr. 19.550 v 3.4.1972, B.O. 25.4.1972, Nr. 22.409, S. 11.
[26]    Degrossi, La responsabilidad de los directores en una sociedad anónima, online abrufbar unter: https://abogados.com.ar/la-responsabilidad-de-los-directores-en-una-sociedad-anonima/29382 (zuletzt abgerufen am 4.7.2022).
[27]    Degrossi, Fn. 26.
[28]    Degrossi, Fn. 26.
[29]    Genera, Revista de Derecho Comercial 301, 33, Cita: TR LALEY AR/DOC/314/2020.
[30]    Kleinhempel, „The Eight Pillars of Compliance“, IAE Business School, Temas Grupo Editorial, 2021. S. 56 ff.
[31]    Siehe die zitierten Fälle unter: https://fcpablog.com/2021/11/23/are-goals-good-for-people-and-bad-for-organizations/ (zuletzt abgerufen am 4.7.2022).
[32]    Lineamientos, (Fn. 10), S. 72 f.
[33]    Ceserani, DPyC 2020 (September), 03/09/2020 Cita: TR LALEY AR/DOC/2314/2020.
[34]    Gramática Bosch/Ferrari, Compliance y Responsabilidad Penal del oficial de cumplimiento en la Argentina, online abrufbar unter: https://riu.austral.edu.ar/handle/123456789/1284 (zuletzt abgerufen am 4.7.2022).
[35]    Art. 22. RPE-Gesetz.
[36]    Online abrufbar unter: https://www.jdsupra.com/legalnews/2021-benchmark-leadership-s-commitment-1192237/ (zuletzt abgerufen am 4.7.2022).
[37]    OECD, G20/OECD Principles of Corporate Governance, 2015, S. 45.
[38]    Siehe ausführliche Beispiele bei Kleinhempel, Gobierno Corporativo y Compliance, Nota técnica IAE, 2013.
[39]    Siehe zum Beispiel https://idbinvest.org/es/blog/instituciones-financieras/como-incorporar-la-gobernanza-corporativa-en-las-em-presas-familiares (zuletzt abgerufen am 4.7.2022).

 

 

 

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