Die Entscheidung im Original finden Sie hier.
BGH, Beschl. v. 21.2.2023 – 6 StR 16/23: Zum Konkurrenzverhältnis der Tatvarianten des § 235 Abs. 1 StGB
Amtlicher Leitsatz:
Die Tatvarianten des § 235 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 StGB stehen bei Identität des betroffenen Kindes in Tateinheit zueinander.
Sachverhalt:
Das LG Saarbrücken hat die Angeklagte wegen Entziehung Minderjähriger gemäß § 235 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 StGB zu einer mehrjährigen Freiheitsstrafe verurteilt. Nach den tatgerichtlichen Feststellungen gab sich die Angeklagte als Klinikpersonal aus und gegenüber der Zeugin wahrheitswidrig an, sie müsse ihren Sohn zwecks Durchführung eines Abstriches mitnehmen. Nachdem die Zeugin einwilligte, brachte die Angeklagte das Kind in ihre Wohnung, wo es aufgefunden wurde. Die Angeklagte hatte beabsichtigt, das Kind dauerhaft als ihr eigenes Kind auszugeben. Gegen das Urteil des LG Saarbrücken erhob die Angeklagte Revision.
Entscheidung des BGH:
Der Strafsenat verwarf die Revision als unbegründet. Die Strafkammer sei zutreffend davon ausgegangen, dass die beiden Tatbestandsvarianten in Tateinheit zueinander ständen. Der BGH hat damit die bislang nicht entschiedende Frage um das strittige Verhältnis von § 235 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 StGB beantwortet. Entgegen von Teilen in der Literatur vertretende Auffassungen verdränge Nr. 2 nicht die Tatbestandsvariante der Nr. 1. Etwas anders solle nur gelten, wenn ein „im Kern identisches Unrecht doppelt erfasst“ werde, ein Tatbestand gerade typische Erscheinungsform des anderen Tatbestands sei. Hiervon könne in der vorliegenden Fallkonstellation nicht ausgegangen werde, wenn die Entziehung unter Einsatz der Mittel erfolge, die § 235 Abs. 1 Nr. 1 StGB auflistet. Damit werde ein weiteres, spezifisches Tatunrecht begangen.
Der BGH verweist darauf, dass durch die Novellierung des § 235 StGB bewusste Differenzierungen vorgenommen werden sollten. Ziel war es, Strafbarkeitslücken zu schließen und gerade die heimliche Wegnahme von Kleinkindern unter Verzicht der Tatmittel List, Drohung und Gewalt unter Strafe zu stellen.
Anmerkung der Redaktion:
Durch das 6. Strafrechtsreformgesetz vom 26. Januar 1998 (BGBl. I 164) wurde die Vorschrift des § 235 StGB novelliert. Den Gesetzentwurf der Bundesregierung finden Sie hier.