Regelungen zur Gefangenenvergütung in Bayern und Nordrhein-Westfalen verfassungswidrig

BVerfG, Urt. v. 20.6.2023 – 2 BvR 166/16 und 2 BvR 1683/17 (Volltext)

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Amtliche Leitsätze:

  1. Das verfassungsrechtliche Resozialisierungsgebot aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG verpflichtet den Gesetzgeber dazu, ein umfassendes, wirksames und in sich schlüssiges, am Stand der Wissenschaft ausgerichtetes Resozialisierungskonzept zu entwickeln sowie die von ihm zu bestimmenden wesentlichen Regelungen des Strafvollzugs darauf aufzubauen.

  1. Das Gesamtkonzept muss zur Erreichung des von Verfassungs wegen vorgegebenen Resozialisierungsziels aus dem Gesetz selbst erkennbar sein. Der Gesetzgeber muss die Zwecke, die im Rahmen seines Resozialisierungskonzepts mit der (Gesamt-)Vergütung der Gefangenenarbeit und insbesondere dem monetären Vergütungsteil erreicht werden sollen, im Gesetz benennen und widerspruchsfrei aufeinander abstimmen.
  1. Der Gesetzgeber ist nicht auf ein bestimmtes Regelungskonzept festgelegt; vielmehr ist ihm ein weiter Gestaltungsraum eröffnet. Die gesetzlichen Vorgaben für die Ausgestaltung des Vollzugs müssen auf sorgfältig ermittelten Annahmen und Prognosen beruhen, und die Wirksamkeit der Vollzugsgestaltungen und Behandlungsmaßnahmen muss regelmäßig wissenschaftlich begleitet und evaluiert werden.
  1. Hat der Gesetzgeber ein Resozialisierungskonzept festgeschrieben und entschieden, welchen Zwecken die Gefangenenarbeit und deren Vergütung dienen sollen, müssen Ausgestaltung und Höhe der Vergütung so bemessen sein, dass die in dem Konzept festgeschriebenen Zwecke auch tatsächlich erreicht werden können. Die Angemessenheit der Vergütungshöhe ist an den mit dem Resozialisierungskonzept verfolgten Zwecken zu messen.
  2. Bei der in diesem Zusammenhang vorzunehmenden Einschätzung, Abwägung und Gewichtung der verschiedenen Gesichtspunkte steht dem Gesetzgeber ein Einschätzungs- und Gestaltungsspielraum zu. Das Bundesverfassungsgericht nimmt die verfassungsrechtliche Überprüfung des Konzepts im Rahmen einer Vertretbarkeitskontrolle vor.

Gründe:

1    Die Verfassungsbeschwerden betreffen die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die gesetzlich festgelegte Höhe der Vergütung, die Gefangene im Strafvollzug für dort erbrachte Arbeitsleistungen erhalten. In Frage steht die Verfassungsmäßigkeit der Vergütungsregelungen im Freistaat Bayern (2 BvR 166/16) nach Art. 46 des Gesetzes über den Vollzug der Freiheitsstrafe und der Jugendstrafe vom 10.12.2007 (Bayerisches Strafvollzugsgesetz – BayStVollzG) und im Land Nordrhein-Westfalen (2 BvR 1683/17) nach den §§ 32 und 34 des Gesetzes zur Regelung des Vollzuges der Freiheitsstrafe in Nordrhein-Westfalen vom 13.1.2015 (Strafvollzugsgesetz Nordrhein-Westfalen.

A. 

I. 

2    1. Vor dem Urteil des Zweiten Senats vom 1.7.1998 zu der Vergütung von Gefangenenarbeit (BVerfGE 98, 169 ff.) legten § 43 Abs. 1 und Abs. 2 sowie § 200 Abs. 1 des Gesetzes über den Vollzug der Freiheitsstrafe und der freiheitsentziehenden Maßregeln der Besserung und Sicherung (Strafvollzugsgesetz – StVollzG) vom 16.3.1976 (BGBl. I S. 581, berichtigte Fassung S. 2088, und BGBl. I 1977, S. 436) eine Bemessung des Arbeitsentgelts von 5 % der Bezugsgröße nach § 18 des Vierten Buches Sozialgesetzbuch (SGB IV) fest. Zusätzlich sah § 42 StVollzG eine Freistellung von achtzehn Werktagen für die Ausübung von einem Jahr zugewiesener Tätigkeit vor.

3    § 200 Abs. 1 StVollzG a.F. nahm, indem er auf § 18 SGB IV verwies, auf das durchschnittliche Arbeitsentgelt aller Versicherten der Rentenversicherung der Arbeiter und Angestellten ohne Auszubildende des vorvergangenen Kalenderjahres Bezug. Die Eckvergütung der Gefangenenarbeit in Höhe von 5 % dieser Bezugsgröße sollte nach den Reformvorstellungen des Gesetzgebers im Zeitraum von 1977 bis 1986 stufenweise auf 40 % angehoben werden. Schon der damalige Regierungsentwurf sah in der Gewährung des Arbeitsentgelts ein wesentliches Mittel der Resozialisierung. Das Arbeitsentgelt führe dem Gefangenen die Früchte seiner Arbeit vor Augen und diene zugleich seiner Eingliederung, indem es ihm ermögliche, zum Lebensunterhalt seiner Angehörigen beizutragen, einen Tatschaden wiedergutzumachen und Ersparnisse für den Übergang in das Leben nach der Entlassung zurückzulegen (BT-Drs. 7/918, S. 67; vgl. BVerfGE 98, 169 [174 f.]).

4      Die Anhebung auf 40 % der Bezugsgröße wurde in der Folgezeit nicht umgesetzt. Die Bemessungsgrundlage des Arbeitsentgelts betrug weiterhin 5 %der Bezugsgröße nach § 18 SGB IV. Diese lag für das Jahr 1997 bei 51.240 DM. Die Eckvergütung für Gefangenenarbeit betrug im Jahre 1997 monatlich 213,50 DM, da entgegen der gesetzlichen Festlegung in § 200 Abs. 2 StVollzG a.F. über eine Erhöhung der Vergütung nicht befunden worden war.Allerdings wurde von der in § 43 Abs. 2 StVollzG a.F. vorgesehenen Möglichkeit einer Differenzierung des Arbeitsentgelts Gebrauch gemacht. DieStrafvollzugsvergütungsverordnung (StVollzVergO; BGBl. I 1997, S. 57) sah eine je nach Arbeitsart und individueller Arbeitsleistung gestufte Entlohnung (fünfVergütungsstufen zwischen 75 % und 125 % der Eckvergütung, deren mittlere 100 % der Eckvergütung entspricht) vor; ferner regelte sie Lohnzulagen, etwa wegen erschwerter Arbeitsumstände oder aufgrund besonderer individueller Leistungen.

5    2. Nachdem das BVerfG mit Urt. v. 1.7.1998 die Vergütungshöhe von 5 % der Bezugsgröße gemäß § 200 Abs. 1 StVollzG a.F. für mit dem verfassungsrechtlichen Gebot der Resozialisierung aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 und Art. 20 Abs. 1 GG nicht vereinbar erklärt hatte (BVerfGE 98, 169 ff.), trat durch das Fünfte Gesetz zur Änderung des Strafvollzugsgesetzes vom 27.12.2000 (BGBl. I S. 2043) zum 1. Januar 2001 die Neuregelung der §§ 43 und 200 StVollzG in Kraft. Diese sah im Wesentlichen vor, dass die Pflichtarbeit der Strafgefangenen durch ein Arbeitsentgelt in Höhe von 9 % der Bezugsgröße und durch eine zusätzliche Freistellung von der Arbeit im Umfang von einem Tag für zwei Monate zusammenhängend ausgeübter Tätigkeit entlohnt wurde.

6    In einer hiergegen gerichteten Verfassungsbeschwerde trug der dortige Beschwerdeführer vor, Gefangenenarbeit werde noch immer nicht angemessen entlohnt. 5 % der Bezugsgröße seien 1977 als Basiswert für die Anfangszeit des Strafvollzugsgesetzes eingeführt worden und hätten bis 1986 in Stufen auf 40 % angehoben werden sollen. Die Erhöhung auf 9 % in der Neufassung des § 200 StVollzG bleibe dahinter deutlich zurück und sei unangemessen (vgl. BVerfG, Beschl. d. 3. Kammer des Zweiten Senats v. 24.3.2002 – 2 BvR 2175/01, Rn. 27 ff.).

7    Die 3. Kammer des Zweiten Senats nahm die Verfassungsbeschwerde mit begründetem Beschluss vom 24.3.2002 nicht zur Entscheidung an. Die mittelbar angegriffenen §§ 43 und 200 StVollzG seien unter Zugrundelegung der vom Senat aufgestellten Maßstäbe „noch verfassungsgemäß“ (vgl. BVerfG, Beschl. d. 3. Kammer des Zweiten Senats v. 24.3.2002 – 2 BvR 2175/01, Rn. 30, 46).

8    3. Im Zuge der Föderalismusreform I wurde mit Gesetz vom 28. August 2006 (BGBl. I, S. 2034) die Gesetzgebungskompetenz für den Strafvollzug auf die Länder übertragen. Alle Länder haben seither eigene Strafvollzugsgesetze erlassen, wobei die meisten von ihnen an der Pflichtarbeit und den Vergütungsregelungen des Strafvollzugsgesetzes weitgehend festgehalten haben. Dies gilt insbesondere für die Höhe der Bemessungsgrundlage.

9    a) Das Bayerische Strafvollzugsgesetz vom 10.12.2007 (GVBl. S. 866, am 1.1.2008 in Kraft getreten) enthält in Art. 46 BayStVollzG eine Vergütungsregelung, die der bundesrechtlichen Vergütungsregelung entspricht. Diese mit der Verfassungsbeschwerde 2 BvR 166/16 mittelbar angegriffene Norm trat in ihrer aktuellen Fassung vom 22.5.2013 (GVBl. S. 275) zum 1.6.2013 in Kraft und lautet:

(1) Die Arbeit der Gefangenen wird anerkannt durch Arbeitsentgelt und eine Freistellung von der Arbeit, die auch als Urlaub aus der Haft (Arbeitsurlaub) genutzt oder auf den Entlassungszeitpunkt angerechnet werden kann.

(2) Üben Gefangene eine zugewiesene Arbeit oder eine Hilfstätigkeit nach Art. 43 S. 2 aus, so erhalten sie ein Arbeitsentgelt. Der Bemessung des Arbeitsentgelts sind 9 v.H. der Bezugsgröße nach § 18 des Vierten Buches Sozialgesetzbuch (SGB IV) zugrunde zu legen (Eckvergütung). Ein Tagessatz ist der zweihundertfünfzigste Teil der Eckvergütung; das Arbeitsentgelt wird nach einem Stundensatz bemessen.

(3) Das Arbeitsentgelt kann je nach Leistung der Gefangenen und der Art der Arbeit gestuft werden. 75 v.H. der Eckvergütung dürfen nur dann unterschritten werden, wenn die Arbeitsleistungen der Gefangenen den Mindestanforderungen nicht genügen.

(4) Üben Gefangene eine zugewiesene arbeitstherapeutische Beschäftigung aus, erhalten sie ein Arbeitsentgelt, soweit dies der Art ihrer Beschäftigung und ihrer Arbeits-leistung entspricht.

(5) Das Arbeitsentgelt ist den Gefangenen schriftlich bekannt zu geben.

(6) Haben die Gefangenen zwei Monate lang zusammenhängend eine Beschäftigung nach Art. 39 oder eine Hilfstätigkeit nach Art. 43 S. 2 ausgeübt, so werden sie auf ihren Antrag hin einen Werktag von der Arbeit freigestellt. Die Regelung des Art. 45 bleibt unberührt. Durch Zeiten, in denen die Gefangenen ohne Verschulden durch Krankheit, Ausführung, Ausgang, Urlaub aus der Haft, Freistellung von der Arbeitspflicht oder sonstige nicht von ihnen zu vertretende Gründe an der Arbeitsleistung gehindert sind, wird die Frist nach Satz 1 gehemmt. Beschäftigungszeiträume von weniger als zwei Monaten bleiben unberücksichtigt.

(7) Die Gefangenen können beantragen, dass die Freistellung nach Abs. 6 in Form von Arbeitsurlaub gewährt wird. Art. 13 Abs. 2, Art. 14 Abs. 2, 3 und 5, Art. 15 und 16 gelten entsprechend.

(8) Art. 45 Abs. 3 gilt entsprechend.

(9) Nehmen die Gefangenen nicht innerhalb eines Jahres nach Vorliegen der Voraussetzungen die Freistellung nach Abs. 6 S. 1 oder Abs. 7 S. 1 in Anspruch oder kann die Freistellung nach Maßgabe der Regelung des Abs. 7 S. 2 nicht gewährt werden, so wird die Freistellung nach Abs. 6 S. 1 von der Anstalt auf den Entlassungszeitpunkt angerechnet.

(10) Eine Anrechnung nach Abs. 9 ist ausgeschlossen,

  1. soweit eine lebenslange Freiheitsstrafe verbüßt wird und ein Entlassungszeitpunkt noch nicht bestimmt ist,
  2. bei einer Aussetzung der Vollstreckung des Restes einer Freiheitsstrafe zur Bewährung, soweit wegen des von der Entscheidung des Gerichts bis zur Entlassung verbleibenden Zeitraums eine Anrechnung nicht mehr möglich ist,
  3. wenn dies vom Gericht angeordnet wird, weil bei einer Aussetzung der Vollstreckung des Restes einer Freiheitsstrafe zur Bewährung die Lebensverhältnisse des oder der Gefangenen oder die Wirkungen, die von der Aussetzung für ihn oder sie zu erwarten sind, die Vollstreckung bis zu einem bestimmten Zeitpunkt erfordern,
  4. wenn nach § 456a Abs. 1 StPO von der Vollstreckung abgesehen wird,
  5. wenn der oder die Gefangene im Gnadenweg aus der Haft entlassen wird.

(11) Soweit eine Anrechnung nach Abs. 10 ausgeschlossen ist, erhalten die Gefangenen bei Entlassung für ihre Tätigkeit nach Abs. 2 als Ausgleichsentschädigung zusätzlich 15 v.H. des ihnen nach den Abs. 2 und 3 gewährten Entgelts oder der ihnen nach Art. 47 gewährten Ausbildungsbeihilfe. Der Anspruch entsteht erst mit der Entlassung. Gefangenen, bei denen eine Anrechnung nach Abs. 10 Nr. 1 ausgeschlossen ist, wird die Ausgleichszahlung bereits nach Verbüßung von jeweils zehn Jahren der lebenslangen Freiheitsstrafe zum Eigengeld (Art. 52) gutgeschrieben, soweit sie nicht vor diesem Zeitpunkt entlassen werden; § 57 Abs. 4 StGB gilt entsprechend.

10   b) Der mit der Verfassungsbeschwerde 2 BvR 1683/17 mittelbar angegriffene § 32 StVollzG NRW in der Fassung vom 13.1.2015, gültig v. 27.1.2015 bis zum 31.8.2017 (GV NRW S. 76), der den angegriffenen Beschlüssen zugrunde liegt, lautete:

(1) Gefangene, die eine zugewiesene Arbeit oder eine Hilfstätigkeit nach § 29 Abs.3 ausüben, erhalten ein Arbeitsentgelt, welches auf Grundlage von neun Prozent der Bezugsgröße nach § 18 des Vierten Buches Sozialgesetzbuch – Gemeinsame Vorschriften für die Sozialversicherung – in der Fassung der Bekanntmachung vom 12.11.2009 (BGBl. I, S. 3710, 3973; 2011 I, S. 363) in der jeweils geltenden Fassung bemessen wird (Eckvergütung). Ein Tagessatz ist der zweihundertfünfzigste Teil der Eckvergütung.

(2) Gefangenen, die während der Arbeitszeit ganz oder teilweise an einer schulischen oder beruflichen Orientierungs-, Aus- und Weiterbildungsmaßnahme teilnehmen, wird Ausbildungsbeihilfe gewährt, soweit ihnen keine Leistungen zum Lebensunterhalt zustehen, die nicht inhaftierten Personen aus solchem Anlass gewährt werden. Für die Bemessung der Ausbildungsbeihilfe gilt Abs. 1 entsprechend.

(3) Arbeitsentgelt und Ausbildungsbeihilfe können je nach Leistung der Gefangenen und der Art der Tätigkeit gestuft werden. 75 Prozent der Eckvergütung dürfen nur unterschritten werden, wenn die Leistungen Gefangener den Mindestanforderungen nicht genügen. Das Justizministerium wird ermächtigt, eine Rechtsverordnung über die Vergütungsstufen zu erlassen.

(4) Gefangene, die an einer arbeitstherapeutischen Maßnahme teilnehmen, erhalten ein Arbeitsentgelt, soweit dies der Art ihrer Tätigkeit und ihrer Arbeitsleistung entspricht.

(5) Soweit Beiträge zur Bundesagentur für Arbeit zu entrichten sind, soll von der Vergütung ein Betrag einbehalten werden, der dem Anteil der Gefangenen an dem Beitrag entsprechen würde, wenn sie diese Vergütung als Arbeitnehmer erhielten.

(6) Die Höhe der Vergütung ist den Gefangenen schriftlich bekannt zu geben.

11   Zudem wurde ergänzend eine Anerkennung der Arbeit in § 34 StVollzG NRW geregelt, der in der Fassung vom 13. Januar 2015 lautete:

(1) Als zusätzliche Anerkennung neben der Vergütung nach § 32 und der Freistellung nach § 33 erhalten Gefangene auf Antrag für drei Monate zusammenhängender Ausübung einer Arbeit oder einer Hilfstätigkeit unter Fortzahlung der Vergütung zwei Tage

  1. Freistellung von der Arbeitspflicht oder
  2. Langzeitausgang, soweit dessen Voraussetzungen vorliegen.

Stellen Gefangene keinen Antrag oder kann Langzeitausgang nicht gewährt werden, wird der Entlassungszeitpunkt vorverlegt. Dies gilt auch, wenn Gefangene die Freistellung nach S. 1 Nr. 1 nicht innerhalb eines Jahres nach Vorliegen der Voraussetzungen in Anspruch nehmen. Durch Zeiten, in denen Gefangene ohne ihr Verschulden an der Erfüllung ihrer Arbeitspflicht gehindert sind, wird die Frist nach Satz 1 gehemmt. Beschäftigungszeiträume von unter drei Monaten bleiben unberücksichtigt. Langzeitausgang nach S. 1 Nr. 2 wird nicht auf die Höchstdauer des Langzeitausgangs nach § 54 Absatz 1 Satz 1 angerechnet.

(2) Eine Vorverlegung des Entlassungszeitpunktes ist ausgeschlossen,

  1. soweit ein Entlassungszeitpunkt auf Grund der Art der Strafe noch nicht bestimmt ist,
  2. soweit bei einer Aussetzung der Vollstreckung des Restes einer Freiheitsstrafe zur Bewährung wegen des von der Entscheidung des Gerichts bis zur Entlassung verbleiben- den Zeitraums eine Anrechnung nicht mehr möglich ist,
  3. wenn dies vom Gericht angeordnet wird, weil bei einer Aussetzung der Vollstreckung des Restes einer Freiheitsstrafe zur Bewährung die Lebensverhältnisse der Gefangenen oder die Wirkungen, die von der Aussetzung für sie zu erwarten sind, die Vollstreckung bis zu einem bestimmten Zeitpunkt erfordern,
  4. wenn nach § 456a Abs. 1 der Strafprozessordnung von der Vollstreckung abgesehen wird oder
  5. wenn Gefangene im Gnadenwege aus der Haft entlassen werden.

(3) Soweit eine Vorverlegung des Entlassungszeitpunktes nach Absatz 2 ausgeschlossen ist, erhalten Gefangene bei ihrer Entlassung für ihre Tätigkeit nach Abs. 1 eine Ausgleichsentschädigung von zusätzlich 15 Prozent der ihnen nach § 32 gewährten Vergütung. § 33 Abs. 4 gilt entsprechend. Der Anspruch entsteht erst mit der Entlassung. Vor der Entlassung ist der Anspruch nicht verzinslich. Gefangenen, bei denen eine Vorverlegung nach Abs. 2 Nr. 1 ausgeschlossen ist, wird die Ausgleichszahlung bereits nach Verbüßung von zehn Jahren zum Eigengeld (§ 38) gutgeschrieben, soweit sie nicht vor diesem Zeitpunkt entlassen werden. § 57 Abs. 4 des Strafgesetzbuches gilt entsprechend.

(4) Für Gefangene, die an Bildungsmaßnahmen nach § 32 Abs. 2 teilnehmen, gelten die Abs. 1 bis 3 entsprechend.

12   §§ 32 und 34 StVollzG NRW sind als Art. 1 des Gesetzes zur Regelung des Vollzuges der Freiheitsstrafe und zur Änderung des Jugendstrafvollzugsgesetzes in Nordrhein- Westfalen v. 13.1.2015 (GV NRW S. 76) i.d.F. v. 13.4.2022 am 28.4.2022 in Kraft getreten. § 32 StVollzG NRW lautet nunmehr (Hervorhebung der Änderungen nur hier):

(1) Gefangene, die eine zugewiesene Beschäftigung oder eine Hilfstätigkeit nach § 29 Abs. 3 ausüben, erhalten Arbeitsentgelt oder Ausbildungsbeihilfe (Vergütung), welche auf Grundlage von neun Prozent der Bezugsgröße nach § 18 des Vierten Buches Sozialgesetzbuch – Gemeinsame Vorschriften für die Sozialversicherung – in der Fassung der Bekanntmachung vom 12. November 2009 (BGBl. I S. 3710, 3973; 2011 I S. 363) in der jeweils geltenden Fassung bemessen werden (Eckvergütung). Ein Tagessatz ist der zweihundertfünfzigste Teil der Eckvergütung.

(2) Ausbildungsbeihilfe wird nur gewährt, soweit den an einer schulischen oder beruflichen Orientierungs-, Aus- und Weiterbildungsmaßnahme teilnehmenden Gefangenen keine Leistungen zum Lebensunterhalt zustehen, die nicht inhaftierten Personen aus solchem Anlass gewährt werden.

(3) Gefangene, die an einer arbeitstherapeutischen Maßnahme teilnehmen oder eine sonstige Tätigkeit ausüben, erhalten ein Arbeitsentgelt, soweit dies der Art ihrer Tätigkeit und ihrer Arbeitsleistung entspricht.

(4) Die Vergütung kann je nach Leistung der Gefangenen und der Art der Tätigkeit gestuft werden. 75 Prozent der Eckvergütung dürfen nur unterschritten werden, wenn die Leistungen Gefangener den Mindestanforderungen nicht genügen. Das für Justiz zuständige Ministerium wird ermächtigt, zur Umsetzung der Vorschriften über die Vergütung eine Rechtsverordnung über die Bemessung des Arbeitsentgeltes, die Ausbildungsbeihilfe, die anrechenbaren Arbeitszeiten, die Zeiteinheiten in Stunden oder Minuten, die Entgeltart als Zeit- oder Leistungsentgelt, die Vergütungsstufen und die Gewährung von Zulagen zu erlassen.

(5) Soweit Beiträge zur Bundesagentur für Arbeit zu entrichten sind, soll von der Vergütung ein Betrag einbehalten werden, der dem Anteil einer Arbeitnehmerin oder eines Arbeitnehmers entspricht. Nehmen Gefangene an arbeitstherapeutischen Maßnahmen teil, wird der Beitrag von ihnen erst ab dem Zeitpunkt des Eintritts in die Werkphase einbehalten. Üben sie eine sonstige Tätigkeit aus, wird kein Betrag einbehalten.

(6) Die Höhe der Vergütung ist den Gefangenen schriftlich bekannt zu geben.

13   § 34 StVollzG NRW lautet nunmehr (Hervorhebung der Änderungen nur hier):

(1) Als zusätzliche Anerkennung neben der Vergütung nach § 32 und der Freistellung nach § 33 erhalten Gefangene auf Antrag für drei Monate zusammenhängender Ausübung einer Arbeit oder einer Hilfstätigkeit unter Fortzahlung der Vergütung zwei Tage

  1. Freistellung oder
  2. Langzeitausgang, soweit dessen Voraussetzungen vorliegen.

Stellen Gefangene keinen Antrag oder kann Langzeitausgang nicht gewährt werden, wird der Entlassungszeitpunkt vorverlegt. Dies gilt auch, wenn Gefangene die Freistellung nach Satz 1 Nummer 1 nicht innerhalb eines Jahres nach Vorliegen der Voraussetzungen in Anspruch nehmen. Durch Zeiten, in denen Gefangene ohne ihr Verschulden an der Erfüllung ihrer Verpflichtung, eine zugewiesene Beschäftigung auszuüben, gehindert sind, wird die Frist nach Satz 1 gehemmt. Beschäftigungszeiträume von unter drei Monaten bleiben unberücksichtigt. Langzeitausgang nach Satz 1 Nummer 2 wird nicht auf die Höchstdauer des Langzeitausgangs nach § 54 Absatz 1 Satz 1 angerechnet.

(2) Eine Vorverlegung des Entlassungszeitpunktes ist ausgeschlossen,

  1. soweit ein Entlassungszeitpunkt auf Grund der Art der Strafe noch nicht bestimmt ist,
  2. soweit bei einer Aussetzung der Vollstreckung des Restes einer Freiheitsstrafe zur Bewährung wegen des von der Entscheidung des Gerichts bis zur Entlassung verbleiben- den Zeitraums eine Anrechnung nicht mehr möglich ist,
  3. wenn dies vom Gericht angeordnet wird, weil bei einer Aussetzung der Vollstreckung des Restes einer Freiheitsstrafe zur Bewährung die Lebensverhältnisse der Gefangenen oder die Wirkungen, die von der Aussetzung für sie zu erwarten sind, die Vollstreckung bis zu einem bestimmten Zeitpunkt erfordern,
  4. wenn nach § 456a Abs. 1 der Strafprozessordnung von der Vollstreckung abgesehen wird,
  5. wenn Gefangene im Gnadenwege aus der Haft entlassen werden oder
  6. wenn nach Übertragung der Vollstreckung der Freiheitsstrafe auf einen anderen Staat die Überstellung ins Ausland erfolgt ist.

(3) Soweit eine Vorverlegung des Entlassungszeitpunktes nach Abs. 2 ausgeschlossen ist, erhalten Gefangene bei ihrer Entlassung zusätzlich eine Ausgleichsentschädigung in Höhe von 15 Prozent der Bezüge, die sie für die geleistete Tätigkeit, die Grundlage für die Gewährung der Freistellungstage nach Abs. 1 gewesen ist, erhalten haben. Der Anspruch entsteht erst mit der Entlassung. Vor der Entlassung ist der Anspruch nicht verzinslich. Gefangenen, bei denen eine Vorverlegung nach Abs. 2 Nr. 1 ausgeschlossen ist, wird die Ausgleichszahlung bereits nach Verbüßung von zehn Jahren zum Eigengeld (§ 38) gutgeschrieben, soweit sie nicht vor diesem Zeitpunkt entlassen werden. § 57 Abs. 4 des Strafgesetzbuches gilt entsprechend. Im Falle des Abs. 2 Nr. 6 steht die Überstellung der Entlassung gleich.

(4) Auf Gefangene, die an arbeitstherapeutischen Maßnahmen teilnehmen oder eine sonstige Tätigkeit ausüben, sind die Abs. 1 bis 3 nicht anwendbar. Für Gefangene, die an Bildungsmaßnahmen nach § 32 Abs. 2 teilnehmen, gelten die Abs. 1 bis 3 entsprechend.

14   4. In den meisten Staaten Europas besteht für Gefangene eine Arbeitspflicht, wobei es in der Praxis oft nicht gelingt, ausreichend Arbeitsplätze zur Verfügung zu stellen (vgl. Dünkel, in: Schneider, Internationales Handbuch der Kriminologie, Bd. 2, 2009, S. 170). In einigen Staaten, wie etwa in Frankreich, Spanien, Slowenien und den Niederlanden, wurde die Arbeitspflicht abgeschafft (vgl. Kett-Straub, ZStW 2013, 883 [890 m.w.N.]; Wissenschaftlicher Dienst des Deutschen Bundestages, Sachstand „Arbeitspflicht für Strafgefangene – geltende Rechtslage in Deutschland, Frankreich und Spanien“, 2016, S. 6 f.).´

15   a) Häufig wird den arbeitenden Gefangenen ein feststehender, eher niedriger Nettobetrag gezahlt. Im Schrifttum wurde indes auf eine Entwicklung hin zu einem Bruttolohnsystem in einigen Staaten hingewiesen, in dem typischerweise die volle oder zumindest eine an die tarifliche Entlohnung angenäherte Vergütung – unter Vornahme verschiedener Abzüge – vorgesehen ist (vgl. Lohmann, Arbeit und Arbeitsentlohnung des Strafgefangenen, 2002, S. 206 f., 218; Hillebrand, Organisation und Ausgestaltung der Gefangenenarbeit in Deutschland, 2009, S. 29 f.). Die Regelungen in Österreich, Frankreich und Italien werden für diese Entwicklung beispielhaft herangezogen.

16   aa) In Österreich sind alle arbeitsfähigen Gefangenen gemäß § 44 Abs. 1 des Bundesgesetzes über den Vollzug der Freiheitsstrafen und der mit Freiheitsentziehung verbundenen vorbeugenden Maßnahmen vom 26.3.1969 (Strafvollstreckungsgesetz – StVG), zuletzt geändert durch das Maßnahmenvollzugsanpassungsgesetz 2022 vom 30.12.2022, BGBl. I Nr. 223/2022, zur Arbeit verpflichtet. Gefangene, die eine befriedigende Arbeitsleistung erbringen, erhalten gemäß § 51 Abs. 2 StVG eine Arbeitsvergütung. Die 1993 eingeführte österreichische Regelung zur Höhe der Vergütung orientierte sich ursprünglich am tariflichen Mindestlohn für Metallhilfsarbeiten (60 bis 90 %). Vorgesehen war der Abzug eines Haftkostenbeitrags in Höhe von 75 %. Gemäß § 52 Abs. 2 StVG ist seit dem Jahr 2001 (BGBl. I Nr. 130/2001) jährlich eine Anpassung der Vergütungssätze entsprechend der Erhöhung des von der Bundesanstalt Statistik Österreich errechneten Tariflohnindexes vorzunehmen. Eine höhere Vergütung kann für besondere Leistungen nach § 53 StVG gewährt werden.

17   Gemäß § 32 Abs. 1 und 2 StVG wird den Gefangenen ein Kostenbeitrag in Höhe von 75 % ihrer Arbeitsvergütung für ihren Unterhalt abgezogen. Die restlichen 25 % der Vergütung werden nach Maßgabe des § 54 StVG nach Abzug des Anteils an der Arbeitslosenversicherung zur Hälfte als Hausgeld ausgezahlt; der Rest wird einbehalten, um ihn als Rücklage für den Gefangenen anzusparen. Kranken- und rentenversichert sind die Gefangenen nicht.

18   bb) Gemäß Art. 717-3 Abs. 2 Code de procédure pénale (CPP), zuletzt geändert durch die Ordonnance Nr. 2022-478 vom 30.3.2022, soll in Frankreich Strafgefangenen auf Antrag eine Beschäftigungsmöglichkeit gegeben werden. Eine Arbeitspflicht ist nicht (mehr) vorgesehen (vgl. Wissenschaftlicher Dienst des Deutschen Bundestages, Sachstand „Arbeitspflicht für Strafgefangene – geltende Rechtslage in Deutschland, Frankreich und Spanien“, 2016, S. 6 m.w.N.).

19   Für arbeitende Gefangene ist gemäß Art. D412-64 des Code pénitentiaire (CP), zuletzt geändert durch das Décret Nr. 2022-655 vom 25.4.2022, ein Mindestvergütungssatz vorgesehen, der sich am nationalen Mindestlohn SMIC („salaire minimum interprofessionnel de croissance“) orientiert. Für Arbeiten im Bereich der Produktion ist eine Mindestvergütung von 45 %, für Dienstleistungen der Klasse I in Höhe von 33 %, für Dienstleistungen der Klasse II in Höhe von 25 % und für Dienstleistungen der Klasse III in Höhe von 20 % des SMIC vorgesehen. Die Gefangenenbeschäftigung ist sozialversicherungspflichtig und unterliegt der Besteuerung. Die Gefangenen sind auch in die Rentenversicherung einbezogen. Ein Teil des nach allen Abzügen verbleibenden Lohns wird nach Maßgabe des Art. D332-12 CP für die Entschädigung von Tatverletzten und die Zahlung von Unterhaltsbeihilfe einbehalten (zwischen 20 und 30 %), ein weiterer Teil (10 %) wird gemäß Art. D332-13 CP als Rücklage für den Gefangenen angespart.

20   cc) Gemäß Art. 20 des italienischen Strafvollzugsgesetzes (Legge sull‘ordinamento penitenziario e sulla esecuzione delle misure privative e limitative della libertà, Gesetz Nr. 354 vom 26.7.1975, zuletzt geändert durch das Gesetz Nr. 199 vom 30.12.2022; Art. 20 zuletzt geändert durch die italienische Strafvollzugsreform [Gesetz Nr. 123] mit Wirkung zum 10.11.2018), müssen alle Anstrengungen unternommen werden, um den Gefangenen die Möglichkeit zur Arbeit zu geben; die Arbeit darf jedoch keinen belastenden Charakter haben und muss entlohnt werden. Die Organisation und die Methoden der Gefängnisarbeit müssen diejenigen der Arbeit in einer freien Gesellschaft widerspiegeln, um den Gefangenen eine für normale Arbeitsbedingungen geeignete Berufsausbildung zu ermöglichen und die soziale Wiedereingliederung zu erleichtern. Gefangene sind vollständig in die Sozialversicherung einschließlich der Rentenversicherung eingegliedert.

21   Gefangene, die im Dienste der Strafvollzugsverwaltung arbeiten, haben gemäß Art. 22 Abs. 1 des italienischen Strafvollzugsgesetzes (Art. 22 zuletzt geändert durch die italienische Strafvollzugsreform [Gesetz Nr. 123] mit Wirkung zum 10.11.2018) einen Anspruch auf Vergütung in Höhe von zwei Dritteln der allgemeinen tarifvertraglichen Vergütung für eine vergleichbare Tätigkeit. Nach Art. 20 Abs. 8 des italienischen Strafvollzugsgesetzes wird die konkrete Vergütung unter Berücksichtigung der Quantität und Qualität von den zentralen und territorialen Organen der Strafvollzugsverwaltung in Absprache mit öffentlichen und privaten Stellen bestimmt (zur Geltung des vollen tarifvertraglich vorgesehenen Mindestlohns für Gefangene, die für private Unternehmen arbeiten, vgl. Zanella, Prison Work and Convict Rehabilitation, 2020, S. 9).

22   Gemäß Art. 24 des italienischen Strafvollzugsgesetzes können von der Vergütung Abzüge zur Begleichung von Schadensersatzforderungen und Gerichtskosten gemacht werden. Auch ein Beitrag für die Unterhaltskosten der Gefangenen kann abgezogen werden (Art. 24 i.V.m. Art. 2 des italienischen Strafvollzugsgesetzes; vgl. Zanella, Prison Work and Convict Rehabilitation, 2020, S. 9). Den Gefangenen sollen aber drei Fünftel der Vergütung verbleiben, wobei Ausnahmen zum Beispiel für Unterhaltsverpflichtungen gemacht werden können.

23   b) Die Europäische Kommission für Menschenrechte (EKMR) führte bereits in der Entscheidung Twenty-One Detained Persons v. Germany (Entsch. V. 6.4.1968, Nr. 3134/67) aus, dass Art. 4 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) keine Vorgaben zur Vergütung von Gefangenenarbeit zu entnehmen seien. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) bestätigte diese Auffassung in seinen Folgeentscheidungen (vgl. EGMR [GK], Stummer v. Austria, Urt. v. 7.7.2011, Nr. 37452/02, § 122; Zhelyazkov v. Bulgaria, Urt. v. 9.10.2012, Nr. 11332/04, § 36 f.; Floroiu v. Romania, Entsch. v. 12.3.2013, Nr. 15303/10, § 32 f.). Er wies allerdings darauf hin, dass zwischenzeitlich eine Überarbeitung der Europäischen Strafvollzugsgrundsätze 1987 v. 11.1.2006 (zuletzt geändert durch die Empfehlung des Ministerkomitees des Europarates v. 1.7.2020, Rec[2006]2-rev) stattgefunden habe, nach deren Nr. 26.10 nunmehr in allen Fällen die Gefangenenarbeit angemessen zu vergüten ist. Hierin erblickte der EGMR einen sich entwickelnden Trend (vgl. EGMR, Zhelyazkov v. Bulgaria, Urt. v. 9.10.2012, Nr. 11332/04, §§ 16 ff.; § 36).

24   Da eine Mehrheit der Vertragsstaaten zwar irgendeine Form der sozialen Absicherung für Gefangene vorsehe, jedoch nur eine kleine Anzahl von Staaten arbeitende Gefangene unmittelbar in das jeweilige allgemeine Altersversorgungsbeziehungsweise Rentensystem aufnehme, sah der Gerichtshof keine hinreichende Übereinstimmung in der Staatenpraxis, um eine entsprechende Garantie aus Art. 4 EMRK ableiten zu können. Zwar zeige Nr. 26.17 der Europäischen Strafvollzugsgrundsätze 2006, wonach arbeitende Gefangene so weit wie möglich in das nationale Sozialversicherungssystem einzubeziehen sind, einen Trend in diese Richtung auf. Dieser habe sich jedoch nicht zu einer Verpflichtung der Staaten nach der Europäischen Menschenrechtskonvention verdichtet (vgl. EGMR [GK], Stummer v. Austria, Urt. v. 7.7.2011, Nr. 37452/02, §§ 130 ff. unter Bezugnahme auf EKMR, Twenty-One Detained Persons v. Germany, Entsch. v. 6.4.1968, Nr. 3134/67 u.a.; EGMR, Meier v. Switzerland, Urt. v. 9.2.2016, Nr. 10109/14, § 67).

25 c) Der Sachverständigenausschuss für die Durchführung der Übereinkommen und Empfehlungen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO), deren Übereinkommen Nr. 29 v. 28.6.1930 (BGBl. II 1956, S. 640; in der Bundesrepublik in Kraft seit dem 13.6.1957) bei der Beratung des Grundgesetzes als internationaler Standard dem Willen des Verfassungsgebers zugrunde lag und Auslegungshilfe auch für das Grundgesetz ist (vgl. BVerfGE 98, 169 [206]), forderte Deutschland mit Blick auf Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 lit. c des ILO-Übereinkommens Nr. 29 mehrfach dazu auf, notwendige Maßnahmen zu ergreifen, um die Arbeitsbedingungen für Strafgefangene soweit wie möglich den Bedingungen in freien Arbeitsverhältnissen anzupassen. Dies umfasse unter anderem das Vergütungsniveau und den Grad der sozialen Absicherung (vgl. etwa Report of the Committee of Experts on the Application of Conventions and Recommendations, Application of International Labour Standards, 2017, Report III [Part 1A], S. 198 f.; Report of the Committee of Experts on the Application of Conventions and Recommendations, Application of International Labour Standards, 2019, Report III [Part A], S. 211).

II.

26   Den Verfassungsbeschwerden liegen folgende Sachverhalte zugrunde.

 […]

III.

54   Das Bayerische Staatsministerium der Justiz, das Ministerium der Justiz des Landes Nordrhein-Westfalen, der Bayerische Landtag, der Landtag Nordrhein-Westfalen, alle Landesregierungen, der Deutsche Bundestag, der Bundesrat, das Bundeskanzleramt, das Bundesministerium des Innern und für Heimat, das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz, das Bundesarbeitsgericht, das Bundessozialgericht, der Deutsche Gewerkschaftsbund, die Bundesvereinigung Deutscher Arbeitgeberverbände, die Deutsche Rentenversicherung, die Bundesvereinigung der Anstaltsleiter und Anstaltsleiterinnen im Justizvollzug e.V., die Bundesarbeitsgemeinschaft für Straffälligen-hilfe e.V. sowie die Gefangenengewerkschaft/Bundesweite Organisation hatten Gelegenheit zur Stellungnahme.

[…]

IV.

133 Der Senat hat am 27. und 28.4.2022 eine mündliche Verhandlung durchgeführt, in der die Verfahrensbeteiligten ihr bisheriges Vorbringen ergänzt und vertieft haben. 

[…]

B.

134 Die zulässigen Verfassungsbeschwerden sind begründet. Die mittelbar angegriffenen Regelungen in Art. 46 Abs. 2 S. 2, Abs. 3 und Abs. 6 S. 1 BayStVollzG sowie § 32 Abs. 1 S. 2, § 34 Abs. 1 StVollzG NRW sind formell verfassungsgemäß (I.). Sie sind aber mit dem Resozialisierungsgebot aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG unvereinbar (II.).

I.

135 Soweit Art. 46 Abs. 6 S. 1, Abs. 9 BayStVollzG und § 34 Abs. 1 StVollzG NRW als nicht monetäre Vergütungskomponente für Gefangenenarbeit bis zu maximal sechs beziehungsweise acht Freistellungstage im Jahr vorsehen, die unter bestimmten Voraussetzungen auf den Entlassungszeitpunkt angerechnet werden und die zu vollstreckende Freiheitsstrafe entsprechend verkürzen können, ist die Gesetzgebungszuständigkeit der Länder gegeben. Die Gesetzgebungskompetenz für den Bereich der Strafvollstreckung steht zwar dem Bund zu (1.). Die angegriffenen Regelungen greifen in ihrer derzeitigen Ausgestaltung aber nicht in diese Zuständigkeit ein (2.).

136  1. Dem Bund stand vor der Föderalismusreform I im Jahr 2006 gemäß Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG i.d.F. vom 27.10.1994 unter anderem die konkurrierende Gesetzgebungskompetenz für das Strafrecht „und den Strafvollzug“ sowie das gerichtliche Verfahren zu, die er – insbesondere durch entsprechende Regelungen im Strafgesetzbuch, in der Strafprozessordnung und im Strafvollzugsgesetz – wahrgenommen hatte. Im Zuge der Föderalismusreform I wurde die Zuständigkeit für den Strafvollzug aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG i.d.F. vom 28.8.2006 gestrichen. Diese fällt nunmehr gemäß Art. 70 Abs. 1 GG den Ländern zu.

137 a) Von der nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz für das gerichtliche Verfahren (ohne das Recht des Untersuchungshaftvollzugs), die auch die Regelungen zur Strafvollstreckung als Teil des gerichtlichen (Straf-)Verfahrens umfasst (vgl. Oeter, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 2, 7. Aufl. [2018], Art. 74 Rn. 21; Degenhart, in: Sachs, GG, 9. Aufl. [2021], Art. 74 Rn. 20; Kment, in: Jarass/Pieroth, GG, 17. Aufl. [2022], Art. 74 Rn. 9), hat der Bundesgesetzgeber hinsichtlich der Strafvollstreckung vornehmlich im Dritten Abschnitt des Allgemeinen Teils (Rechtsfolgen der Tat) des Strafgesetzbuches umfassend Gebrauch gemacht. Dies bezieht sich insbesondere auf die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe ausgesetzt und die Strafe (nach Ablauf der Bewährungszeit) erlassen werden kann oder eine solche in anderen Fällen nicht vollständig vollstreckt werden muss.

138 Macht der Bund von einer konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz Gebrauch, verlieren die Länder aufgrund der alternativen Verteilung der Gesetzgebungszuständigkeiten entweder auf den Bund oder die Länder (vgl. BVerfGE 36, 193 [202 f.]; 61, 149 [204]; 106, 62 [114]; 109, 190 [218]; 135, 155 [196 f. Rn. 101 ff.]; 157, 223 [254 Rn. 81] – Berliner Mietendeckel; 160, 1 [18 Rn. 50 f.] – Umschlagsverbot für Kernbrennstoffe in Bremer Häfen) gemäß Art. 72 Abs. 1 GG das Recht zur Gesetzgebung in dem Zeitpunkt („solange“) und im Umfang („soweit“), in dem der Bund Gesetzgebungskompetenz zulässigerweise in Anspruch nimmt (sog. Sperrwirkung).

139 Soweit die Sperrwirkung reicht, entfällt die Gesetzgebungskompetenz der Länder (vgl. BVerfGE 157, 223 [255 f. Rn. 87 m.w.N.]). Sie verhindert für die Zukunft den Erlass neuer Landesgesetze und entzieht in der Vergangenheit erlassenen Landesgesetzen die Kompetenzgrundlage, so dass diese nichtig sind beziehungsweise werden (BVerfGE 157, 223 [256 Rn. 87 ff. m.w.N.]). Auf dem Gebiet der Strafvollstreckung kommt den Ländern demnach allein eine Gesetzgebungskompetenz zu, wenn der Bund von der konkurrierenden Gesetzgebungsbefugnis keinen abschließenden Gebrauch gemacht hat (Art. 72 Abs. 1 GG; vgl. BVerfGE 157, 223 [255 ff. Rn. 87 ff. m.w.N.]; 160, 1 [20 Rn. 58]).

140 b) Demgegenüber umfasst der Bereich des Strafvollzugs, der seit der Föderalismusreform I in der Gesetzgebungskompetenz der Länder liegt, die konkrete Ausführung der Freiheitsstrafen in den Justizvollzugsanstalten sowie der Anordnungen der Strafvollstreckungsbehörden, deren Tätigkeit zum gerichtlichen Verfahren gerechnet wird, durch die Strafvollzugsbehörden (vgl. Degenhart, in: Sachs, GG, 9. Aufl. [2021], Art. 74 Rn. 20; Wittreck, in: Dreier, GG, Bd. 2, 3. Aufl. [2015], Art. 74 Rn. 21; Kment, in: Jarass/Pieroth, GG, 17. Aufl. [2022], Art. 74 Rn. 11). Im Zuge dessen haben auch Bayern und Nordrhein-Westfalen entsprechende eigene Strafvollzugsgesetze erlassen, in denen sich unter anderem die verfahrensgegenständlichen Vorschriften zu Höhe und Umfang der Gefangenenvergütung finden.

141 c) Nach Art. 70 Abs. 1 GG haben die Länder das Recht zur Gesetzgebung, soweit das Grundgesetz nicht dem Bund Gesetzgebungsbefugnisse zuweist. Eine solche Zuweisung von Gesetzgebungskompetenzen an den Bund findet sich ausweislich Art. 70 Abs. 2 GG vor allem in den Vorschriften über die ausschließliche (Art. 73 und Art. 105 Abs. 1 GG) und die konkurrierende Gesetzgebung (Art. 74 und Art. 105 Abs. 2 GG; vgl. BVerfG, Beschl. d. Zweiten Senats v. 28.6.2022 – 2 BvL 9/14 u.a., Rn. 51 – Kindergeld für Drittstaatsangehörige).

142 aa) Ob eine einfachgesetzliche Regelung einem Kompetenztitel in Art. 73, Art. 74 oder Art. 105 GG zugeordnet werden kann, richtet sich nach ihrem (unmittelbaren) Regelungsgegenstand (vgl. BVerfGE 48, 367 [373]; 157, 223 [262 Rn. 104]; 160, 1 [23 Rn. 65]), ihren Wirkungen und Adressaten sowie dem Normzweck (vgl. BVerfGE 7, 29 [44]; 157, 223 [262 Rn. 104]; 160, 1 [23 Rn. 65]; BVerfG, Beschl. d. Zweiten Senats v. 28.6.2022 – 2 BvL 9/14 u.a., Rn. 52).

143 Die Subsumtion einer Regelung unter einen bestimmten Kompetenztitel hängt davon ab, ob der dort genannte Sachbereich unmittelbar oder lediglich mittelbar Gegenstand dieser Regelung ist (vgl. BVerfGE 8, 104 [116 f.]; 157, 223 [262 Rn. 105]; st. Rspr). Dafür ist der sachliche Gehalt der Regelung maßgebend, nicht die vom Gesetzgeber gewählte Bezeichnung (vgl. BVerfGE 8, 260 [269 f.]; 157, 223 [262 Rn. 105]; 160, 1 [23 f. Rn. 66]). Eine gesetzliche Regelung ist – ihrem Hauptzweck entsprechend – dem Kompetenztitel zuzuordnen, dessen Materie sie speziell und nicht (lediglich) allgemein behandelt, wobei die Regelung in ihrem kompetenzbegründenden (Gesamt-)Sachzusammenhang zu erfassen ist (vgl.     BVerfGE 157, 223 [262 f. Rn. 105 m.w.N.]; 160, 1 [23 f. Rn. 66]). Dass der Gegenstand eines Kompetenztitels lediglich reflexartig berührt oder als Annex behandelt wird, genügt insoweit nicht (vgl. BVerfGE 28, 119 [146 f.]; 157, 223 [263 Rn. 105]; 160, 1 [23 f. Rn. 66]; BVerfG, Beschl. d. Zweiten Senats v. 28.6.2022 – 2 BvL 9/14 u.a., Rn. 53).

144 bb) Kann ein Gesetz in mehrere Teile zerlegt werden, können diese verschiedenen Kompetenzmaterien unterfallen (vgl. Degenhart, in: Sachs, GG, 9. Aufl. [2021], Art. 72 Rn. 8 f.). Die Gesetzgebungszuständigkeit für ein Regelungswerk kann sich in diesem Fall auch aus einer Kombination mehrerer Kompetenztitel ergeben (vgl. BVerfGE 136, 194 [241 Rn. 111]; 160, 1 [24 Rn. 68]; BVerfG, Beschl. d. Zweiten Senats v. 28.6.2022 – 2 BvL 9/14 u.a., Rn. 54).

145 Solche additiven Kompetenzbegründungen sind verfassungsrechtlich unproblematisch, wenn sie denselben Kompetenzträger berechtigen (vgl. BVerfGE 103, 197 [215 f.]; 136, 194 [241 Rn. 111]; 138, 261 [275 f. Rn. 33]). Der Bund kann eine Gesetzgebungszuständigkeit deshalb aus mehreren Gegenständen eines Kompetenzkatalogs herleiten und unterschiedliche Gesetzgebungstypen und     -titel kombinieren (vgl. BVerfGE 103, 197 [216]; 138, 261 [275 f. Rn. 33]; BVerfG, Beschl. d. Zweiten Senats v. 28.6.2022 – 2 BvL 9/14 u.a., Rn. 55).

146 Berührt eine Regelung dagegen den Kompetenzbereich von Bund und Ländern, bedarf es einer Zuordnung des Regelwerks nach seinem Schwerpunkt (vgl. BVerfGE 98, 265 [299]; 135, 155 [196 Rn. 102]; 137, 108 [161 Rn. 123]; 160, 1 [24 Rn. 69]). Dabei fällt insbesondere ins Gewicht, wie eng die fragliche Teilregelung mit dem Gegenstand der Gesamtregelung verbunden ist. Eine enge Verzahnung und ein geringer eigenständiger Regelungsgehalt der Teilregelung sprechen regelmäßig für ihre Zugehörigkeit zum Kompetenzbereich der Gesamtregelung (vgl. BVerfGE 97, 228 [251 f.]; 97, 332 [342 f.]). Eine Teilregelung, die bei isolierter Betrachtung einer Materie zuzurechnen wäre, für die der Kompetenzträger nicht zuständig ist, kann daher gleichwohl in seine Kompetenz fallen, wenn sie mit dem kompetenzbegründenden Schwerpunkt der Gesamtregelung derart eng verzahnt ist, dass sie als Teil dieser Gesamtregelung erscheint (vgl. BVerfGE 97, 228 [251 f.]; 97, 332 [342 f.]; 98, 265 [299]; 138, 261 [274 Rn. 30]; BVerfG, Beschl. d. Zweiten Senats v. 28.6.2022 – 2 BvL 9/14 u.a., Rn. 56).

147 cc) Daneben kann eine ungeschriebene Gesetzgebungskompetenz als Kompetenz kraft Sachzusammenhangs bestehen. Sie stützt und ergänzt eine zugewiesene Zuständigkeit, wenn die entsprechende Materie verständigerweise nicht geregelt werden kann, ohne dass zugleich eine nicht ausdrücklich zugewiesene andere Materie mitgeregelt wird, wenn also das Übergreifen unerlässliche Voraussetzung für die Regelung der zugewiesenen Materie ist (vgl. BVerfGE 3, 407 [421]; 98, 265 [299]; 138, 261 [274 Rn. 30]; 140, 65 [93 Rn. 60]). Dabei reicht die bloße Erwägung, es sei zweckmäßig, mit einer dem Kompetenzträger ausdrücklich zugewiesenen Materie gleichzeitig auch eine verwandte Materie zu regeln, jedoch nicht zur Begründung einer Gesetzgebungszuständigkeit aus (vgl. BVerfGE 140, 65 [92 f. Rn. 60]).

148 2. Nach diesen Maßstäben besteht eine Gesetzgebungskompetenz des Freistaats Bayern für die Regelung des Art. 46 Abs. 6 S. 1, Abs. 9 BayStVollzG zur Gewährung von Freistellungstagen im Umfang von einem Werktag für zwei Monate zusammenhängend ausgeübter Beschäftigung oder Hilfstätigkeit als nicht monetärer Teil der Vergütung von Gefangenenarbeit. Gleiches gilt für das Land Nordrhein-Westfalen bezüglich der Regelung des § 34 Abs. 1 S. 1 und 2 StVollzG NRW zur Gewährung von zwei Freistellungstagen für drei Monate zusammenhängender Ausübung einer Arbeit oder Hilfstätigkeit.

149 a) Die potentiell die Haftzeit verkürzenden Regelungen des Art. 46 Abs. 6 S. 1, Abs. 9 BayStVollzG und des § 34 Abs. 1 StVollzG NRW, die zu maximal sechs beziehungsweise acht Freistellungstagen pro Kalenderjahr führen können, wurden im Rahmen der jeweiligen Landesstrafvollzugsgesetze erlassen. Die betroffenen Gesetze orientieren sich ausweislich der jeweiligen Gesetzesbegründung (vgl. LT-Drs. BAY 15/8101, S. 1, 60; LT-Drs. NRW 16/5413, S. 1, 116 f.) an der Vorgängervorschrift im Strafvollzugsgesetz des Bundes. Sie wurden im Kontext der Wahrnehmung der nach der Föderalismusreform I den Ländern zukommenden Gesetzgebungskompetenz für den Strafvollzug als Regelungen zur Durchführung, also zum Vollzug der Freiheitsstrafe in Justizvollzugsanstalten (vgl. zu dieser Definition Oeter, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 2, 7. Aufl. [2018], Art. 74 Rn. 21 m.w.N.), erlassen und in einen unmittelbaren Regelungszusammenhang mit weiteren Vorschriften zu Art und Höhe der Vergütung von Gefangenenarbeit gestellt. Anhaltspunkte dafür, dass Aufgaben und Befugnisse hinsichtlich der Art, des Umfangs oder insbesondere der Dauer der Strafe im strafvollstreckungsrechtlichen Sinne (als ergänzender Teil des gerichtlichen Verfahrens) geregelt werden sollten, sind nicht ersichtlich.

150 Die Bestimmungen verfolgen nach ihrem Regelungsinhalt und -zusammenhang sowie der Gesetzesbegründung allein das Ziel, geleistete Arbeit von Strafgefangenen anzuerkennen und die monetäre Vergütungskomponente in Reaktion auf das Urteil des BVerfG vom 1.7.1998 zur Gefangenenvergütung zu ergänzen, wonach eine angemessene Anerkennung auch dadurch vorgesehen werden kann, dass Gefangene – sofern general- oder spezialpräventive Gründe nicht entgegenstehen – durch Arbeit ihre Haftzeit verkürzen („good time“) oder sonst erleichtern können (vgl. BVerfGE 98, 169 [202]; BVerfG, Beschl. d. 3. Kammer des Zweiten Senats v. 24.3.2002 – 2 BvR 2175/01, Rn. 34; LT-Drs. BAY 15/8101, S. 60; LT-Drs. NRW 16/5413, S. 116).

151 Der Gesamtzusammenhang der Vorschriften in ihrer derzeitigen Ausgestaltung betrifft daher im Schwerpunkt (vgl. hierzu BVerfGE 97, 228 [251 f.]; 116, 202 [216]; 121, 30 [47]; 135, 155 [196 Rn. 102]) die Gesetzgebungskompetenz der Länder für den Strafvollzug. Soweit die Regelungen für haftverkürzende Freistellungstage – wie hier – nicht über die Gewährung weniger Freistellungstage pro Kalenderjahr hinausgehen, liegt ein Übergriff in die Regelungszuständigkeit des Bundes insbesondere für die Dauer der Freiheitsstrafe im strafvollstreckungsrechtlichen Sinne nicht vor.

152 b) Unter dieser Voraussetzung ist auch von einem faktischen Übergriff in die Gesetzgebungskompetenz des Bundes für die Strafvollstreckung, etwa durch eine Aushöhlung der bundesgesetzlich insoweit abschließend getroffenen Vollstreckungsregelungen, nicht auszugehen. Zudem ist eine Verletzung der Pflicht zu bundestreuem Verhalten durch einen entsprechenden Missbrauch der Rechtssetzungskompetenz der Länder nicht ersichtlich (vgl. insoweit BVerfGE 160, 1 [26 Rn. 73 m.w.N.]).

II.

153 Art. 46 Abs. 2, Abs. 3 und Abs. 6 BayStVollzG sowie § 32 Abs. 1, Abs. 4 und § 34 Abs. 1 StVollzG NRW sind mit dem Resozialisierungsgebot aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG (1.) nicht vereinbar (2.).

154 1. a) Die Verfassung gebietet, den Strafvollzug auf das Ziel der Resozialisierung der Gefangenen auszurichten. Der einzelne Gefangene hat aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG einen grundrechtlichen Anspruch darauf, dass dieser Zielsetzung bei ihn belastenden Maßnahmen genügt wird (vgl. BVerfGE 98, 169 [200]; 116, 69 [85]).

155 Für die Freiheitsstrafe, bei der die staatliche Gewalt die Bedingungen der individuellen Lebensführung weitgehend bestimmt, erlangt das Gebot der Resozialisierung besonderes Gewicht. Das BVerfG hat dieses Gebot aus dem Selbstverständnis einer Rechtsgemeinschaft entwickelt, die die Menschenwürde in den Mittelpunkt ihrer Wertordnung stellt und dem Sozialstaatsprinzip verpflichtet ist. Den Gefangenen sollen die Fähigkeit und der Wille zu eigenverantwortlicher Lebensführung vermittelt werden. Sie sollen sich in Zukunft unter den Bedingungen einer freien Gesellschaft ohne Rechtsbruch behaupten, die Chancen einer solchen Gesellschaft wahrnehmen und ihre Risiken bewältigen können. Die Notwendigkeit, den Strafvollzug auf das Ziel der Resozialisierung auszurichten, dient zugleich dem Schutz und der Sicherheit der Gemeinschaft selbst: Diese hat ein unmittelbares eigenes Interesse daran, dass Straftäter nicht wieder rückfällig werden und erneut ihre Mitmenschen und die Gemeinschaft schädigen (vgl. BVerfGE 35, 202 [235 f.]; 98, 169 [200]; vgl. auch BVerfGE 116, 69 [85 f.]).

156 Das verfassungsrechtliche Resozialisierungsgebot bestimmt den gesamten Strafvollzug; es gilt auch bei der Vollstreckung einer lebenslangen Freiheitsstrafe. Die Vollzugsanstalten sind auch bei diesen Gefangenen verpflichtet, auf deren Resozialisierung hinzuwirken, ihre Lebenstüchtigkeit zu erhalten und schädlichen Auswirkungen des Freiheitsentzugs und damit vor allem deformierenden Persönlichkeitsveränderungen entgegenzuwirken (vgl. BVerfGE 45, 187 [238 f.]). Entsprechendes muss für die Sicherungsverwahrung gelten. Auch die dort Untergebrachten können der Freiheit wieder teilhaftig werden, wenn sie nicht mehr gefährlich sind (vgl. BVerfGE 98, 169 [200 f.]).

157 b) Das verfassungsrechtliche Resozialisierungsgebot ist für alle staatliche Gewalt verbindlich. Es richtet sich zunächst an den Gesetzgeber, dem die Aufgabe zukommt, den Strafvollzug normativ zu gestalten (vgl. BVerfGE 33, 1 [10 f.]; 98, 169 [201]) und ihn auf das Ziel der sozialen Integration auszurichten (vgl. BVerfGE 116, 69 [89]). Dabei ist der Gesetzgeber selbst verpflichtet, ein wirksames Resozialisierungskonzept zu entwickeln und den Strafvollzug darauf aufzubauen (vgl. BVerfGE 98,169 [201]; 116, 69 [89]).

158 aa) Das BVerfG hat aus grundrechtlichen Gesetzesvorbehalten und dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) einerseits sowie demDemokratieprinzip (Art. 20 Abs. 1 und 2 GG) andererseits die Verpflichtung des Gesetzgebers abgeleitet, in allen grundlegenden normativen Bereichen diewesentlichen Entscheidungen selbst zu treffen (vgl. BVerfGE 49, 89 [126]; 77, 170 [230 f.]; 98, 218 [251]; 136, 69 [114 Rn.102]; 150, 1 [96 Rn. 191];BVerfG, Urt. d. Zweiten Senats v. 22.2.2023 – 2 BvE 3/19, Rn. 182 – Finanzierung Desiderius-Erasmus-Stiftung; st.Rspr). Damit soll gewährleistet werden, dassEntscheidungen von besonderer Tragweite aus einem Verfahren hervorgehen, das der Öffentlichkeit Gelegenheit bietet, ihre Auffassungen auszubilden und zuvertreten, und das Parlament dazu anhält, Notwendigkeit und Ausmaß von Grundrechtseingriffen in öffentlicher Debatte zu klären. Geboten ist einVerfahren, das sich durch Transparenz auszeichnet und die Beteiligung der parlamentarischen Opposition gewährleistet (vgl. BVerfGE 139, 19 [46 Rn. 53];BVerfGE 150, 1 [96 f. Rn. 192]; BVerfG, Urt. d. Zweiten Senats v. 22.2.2023 – 2 BvE 3/19, Rn. 182).

159  Wann und inwieweit es einer Regelung durch den Gesetzgeber bedarf, ist mit Blick auf den jeweiligen Sachbereich und auf die Eigenart des betroffenen Regelungsgegenstands zu bestimmen (vgl. BVerfG, Urt. d. Zweiten Senats v. 22.2.2023 – 2 BvE 3/19, Rn. 183). Verfassungsrechtliche Anhaltspunkte sind dabei die tragenden Prinzipien des Grundgesetzes, insbesondere Art. 20 Abs. 1 bis 3 GG und die Grundrechte (vgl. BVerfGE 40, 237 [248 ff.]; 49, 89 [127]; 95, 267 [307 f.]; 98, 218 [251]; 136, 69 [114 Rn. 102]; 139, 19 [45 Rn. 52]; 150, 1 [97 Rn. 193]). „Wesentlich“ bedeutetdanach zum einen „wesentlich für die Verwirklichung der Grundrechte“ (vgl. BVerfGE 47, 46 [79]; 98, 218 [251]; 139, 19 [45 Rn. 52]). Zum anderen ist der Gesetzgeber selbst zur Regelung der Fragen verpflichtet, die für Staat und Gesellschaft von erheblicher Bedeutung sind, ohne dass die Tatsache, dass einzelne Fragen politisch umstritten sind, für sich genommen bereits dazu führt, dass die entsprechende Regelung auch als „wesentlich“ verstanden werden müsste (vgl. BVerfGE 49, 89 [126]; 98, 218 [251]; 139, 19 [45 f. Rn. 52]; 150, 1 [97 Rn. 194]).

160 bb) Die Qualifikation einer Regelung als „wesentlich“ hat typischerweise ein Verbot der Normdelegation und ein Gebot größerer Regelungsdichte durch den parlamentarischen Gesetzgeber zur Folge (vgl. Brenner, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 2, 7. Aufl. [2018], Art. 80 Rn. 37). Damit werden ergänzende Regelungen durch Rechtsverordnung nicht ausgeschlossen; die wesentlichen Entscheidungen müssen jedoch in einem formellen Gesetz enthalten sein (vgl. BVerfGE 150, 1 [97 f. Rn. 195 m.w.N.]).

161  Die Wesentlichkeitsdoktrin enthält insoweit auch Vorgaben für die Frage, in welchem Umfang (vgl. BVerfGE 34, 165 [192 f.]; 49, 89 [127, 129]; 83,130 [142]; 101, 1 [34]; 139, 19 [47 Rn. 54]; BVerfG, Urt. d. Zweiten Senats v. 22.2.2023 – 2 BvE 3/19, Rn. 185) und in welcher Bestimmtheit derGesetzgeber selbst tätig werden muss (vgl.        BVerfGE 83, 130 [152]; 101, 1 [34]; 123, 39 [78]). Das Bestimmtheitsgebot stellt sicher, dass Regierungund Verwaltung im Gesetz steuernde und begrenzende Handlungsmaßstäbe vorfinden und dass die Gerichte eine wirksame Rechtskontrolle durchführenkönnen (vgl. BVerfGE 110, 33 [54 f.]; 113, 348 [375 ff.]; 120, 378 [407 f.]; 133, 277 [336 Rn. 140]; 145, 20 [69 Rn. 125]). Der Grad der verfassungsrechtlichgebotenen Bestimmtheit hängt dabei von den Besonderheiten des in Rede stehenden Sachbereichs und von den Umständen ab, die zu der gesetzlichen Regelunggeführt haben (vgl. BVerfGE 28, 175 [183]; 131, 268 [307]; 134, 33 [81 f. Rn. 112]; 143, 38 [55 Rn. 41]). Dabei sind die Bedeutung desRegelungsgegenstands und die Intensität der durch die Regelung oder aufgrund der Regelung erfolgenden Grundrechtseingriffe ebenso zu berücksichtigen(vgl. BVerfGE 86, 288 [311]; 93, 213 [238]; 102, 254 [337]; 131, 88 [123]; 133, 277 [336 f. Rn. 140]; 145, 20 [69 Rn. 125]) wie der Kreis der Anwender und Betroffenen der Norm (vgl. BVerfGE 128, 282 [317 f.]) sowie deren konkretes Bedürfnis, sich auf die Normanwendung einstellen zu können.

162 cc) Das verfassungsrechtliche Resozialisierungsgebot verpflichtet den Gesetzgeber dazu, ein wirksames und in sich schlüssiges, am Stand der Wissenschaft ausgerichtetes Resozialisierungskonzept zu entwickeln und dieses mit hinreichend konkretisierten Regelungen des Strafvollzugs umzusetzen (vgl. BVerfGE 98, 169 [201]; 116, 69 [89]). Zudem hat er dafür Sorge zu tragen, dass für als erfolgsnotwendig anerkannte Vollzugsbedingungen und Maßnahmen die Ausstattung mit den erforderlichen personellen und finanziellen Mitteln kontinuierlich gesichert ist. Der Staat muss den Strafvollzug so ausstatten, wie es zur Realisierung des Vollzugsziels, das heißt der Resozialisierung der Gefangenen, erforderlich ist (vgl. BVerfGE 116, 69 [89 f.]).

163 Die Entwicklung eines Resozialisierungskonzepts, das dem verfassungsrechtlichen Resozialisierungsgebot gerecht werden soll, ist wesentlich für die Verwirklichung des Grundrechts der Gefangenen auf Resozialisierung nach Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG. Sie ist zudem für Staat und Gesellschaft von erheblicher Bedeutung. Daraus folgt, dass das vom Gesetzgeber vorzusehende Gesamtkonzept zur Erreichung des von Verfassungs wegen vorgegebenen Resozialisierungsziels aus dem Gesetz selbst erkennbar sein muss. Die Bedeutung, die der Arbeit als Behandlungsmaßnahme und der hierfür vorgesehenen (Gesamt-)Vergütung – etwa im Vergleich zu anderen Behandlungsmaßnahmen – im Rahmen dieses Gesamtkonzepts beigemessen wird, muss in sich stimmig im Gesetz festgeschrieben werden. Insbesondere muss die jeweilige Gewichtung des monetären und nicht monetären Teils der Vergütung innerhalb des Gesamtkonzepts erkennbar sein. Hierzu gehören auch die gesetzliche Festlegung der zugrunde zu legenden Bemessungsgrundlage für den monetären Teil der Vergütung und eine gegebenenfalls vorzunehmende Kategorisierung verschiedener Schwierigkeitsgrade der Arbeit und der arbeitstherapeutischen Behandlungs- und Bildungsmaßnahmen sowie deren jeweilige Entlohnung nach verschiedenen Vergütungsstufen. Der Gesetzgeber muss zudem die Zwecke, die im Rahmen seines Resozialisierungskonzepts mit der (Gesamt-)Vergütung und insbesondere dem monetären Vergütungsteil erreicht werden sollen, im Gesetz benennen und widerspruchsfrei aufeinander abstimmen. Auch Auswahl und Umfang der nicht monetären Vergütungsteile müssen in ihrer wesentlichen Gewichtung und Bedeutung gesetzlich festgelegt werden.

164 c) Der Gesetzgeber ist nicht auf ein bestimmtes Regelungskonzept festgelegt. Vielmehr ist ihm im Rahmen der Verpflichtung zur Entwicklung eines wirksamen Konzepts ein weiter Gestaltungsraum eröffnet – nicht zuletzt im Hinblick darauf, dass gesichertes Wissen über die Wirksamkeit und das Verhältnis von Aufwand und Erfolg unterschiedlicher Vollzugsgestaltungen und Behandlungsmaßnahmen nur begrenzt verfügbar ist (vgl.       BVerfGE 116, 69 [89]). Er kann unter Verwertung aller ihm zu Gebote stehenden Erkenntnisse, insbesondere auf den Gebieten der Anthropologie, Kriminologie, Sozialtherapie und Ökonomie, zu Regelungen gelangen, die – auch unter Berücksichtigung von Kostenfolgen – mit dem Rang und der Dringlichkeit anderer Staatsaufgaben in Einklang stehen (vgl. BVerfGE 82, 60 [80]; 90, 107 [116]; 96, 288 [305 f.]; 98, 169 [201]; 116, 69 [89]; BVerfG, Beschl. d. 3. Kammer des Zweiten Senats v. 24.3.2002 – 2 BvR 2175/01, Rn. 37).

165  Die gesetzlichen Vorgaben für die Ausgestaltung des Vollzugs müssen auf sorgfältig ermittelten Annahmen und Prognosen über die Wirksamkeit unterschiedlicher Vollzugsgestaltungen und Behandlungsmaßnahmen beruhen (vgl. BVerfGE 106, 62 [152]; 116, 69 [90]). Der Gesetzgeber ist verpflichtet, vorhandene Erkenntnisquellen, zu denen auch das in der Vollzugspraxis verfügbare Erfahrungswissen gehört, auszuschöpfen (vgl. BVerfGE 50, 290 [334]) und sich am aktuellen Stand wissenschaftlicher Erkenntnisse zu orientieren (vgl. BVerfGE 98, 169 [201]; 116, 69 [90]). Er hat die Wirksamkeit etablierter und traditioneller Vollzugsgestaltungen und Behandlungsmaßnahmen regelmäßig vor dem Hintergrund veränderter Lebens- und Vollzugsverhältnisse zu überprüfen.

166  d) Auf eine den grundrechtlichen Anforderungen nicht genügende Berücksichtigung vorhandener Erkenntnisse oder auf eine diesen Anforderungen nicht entsprechende Gewichtung der Belange der Gefangenen kann es hindeuten, wenn völkerrechtliche Vorgaben oder internationale Standards mit Menschenrechtsbezug, wie sie in den im Rahmen der Vereinten Nationen oder von Organen des Europarates beschlossenen einschlägigen Richtlinien und Empfehlungen enthalten sind, nicht beachtet beziehungsweise unterschritten werden (vgl. BVerfGE 116, 69 [90 m.w.N.]; BVerfGK 12, 422 [424]; 20, 93 [101]). Diese müssen daher bei der Ausgestaltung und Durchführung des Strafvollzugs gebührend berücksichtigt werden.

167 e) Sieht der Gesetzgeber im Rahmen des von ihm festgelegten Resozialisierungskonzepts Arbeit als Behandlungsmaßnahme zur Erreichung des verfassungsrechtlichen Resozialisierungsgebots vor, wie dies in Art. 3 S. 3, Art. 39 BayStVollzG und § 10 Abs. 1 Nr. 7, § 29 StVollzG NRW geschehen ist, muss aus den gesetzlichen Regelungen klar erkennbar sein, welcher Stellenwert dem Faktor Arbeit im Gesamtkontext des Resozialisierungskonzepts beigemessen wird. Hierbei ist insbesondere gesetzlich festzuschreiben, in welchem Verhältnis (Pflicht-)Arbeit zu anderen Behandlungsmaßnahmen, etwa zur schulischen und beruflichen Aus- und Weiterbildung, zur Arbeitstherapie und zu therapeutischen Behandlungs- oder anderen Hilfs- oder Fördermaßnahmen, steht. Selbst wenn Arbeit – sei sie nun freiwillig oder als Pflichtarbeit zugewiesen – nicht (mehr) als vorrangige Behandlungsmaßnahme angesehen werden sollte, kommt ihr auch mit Blick auf andere bedeutsame Behandlungsmaßnahmen nach wie vor ein erhebliches Gewicht zu. Die sachverständigen Dritten aus dem Bereich des Justizvollzugs haben in der mündlichen Verhandlung bestätigt, dass sie unter den gegebenen Umständen unverzichtbar ist, um ein geordnetes und strukturiertes Zusammenleben in den Justizvollzugsanstalten sicherzustellen.

168 f) Die Frage nach den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Höhe des für Gefangenenarbeit im Strafvollzug gewährten Entgelts kann nur aus dem Zusammenhang mit dem vom Gesetzgeber entwickelten Resozialisierungskonzept beantwortet werden (vgl. BVerfGE 98, 169 [199]). Deshalb muss ein solches Konzept ebenfalls klar erkennen lassen, welchen Zwecken die vom Gesetzgeber festgelegte Vergütung für Gefangenenarbeit dienen soll.

169 aa) Aus dem verfassungsrechtlichen Resozialisierungsgebot folgt, dass Arbeit im Strafvollzug nur dann ein wirksames Resozialisierungsmittel ist, wenn die geleistete Arbeit angemessene Anerkennung findet (vgl. BVerfGE 98, 169 [201 f.]; BVerfG, Beschl. d. 2. Kammer des Zweiten Senats v. 16.12.2015 – 2 BvR 1017/14, Rn. 16).

170 Dieser Grundsatz gilt nicht nur für die Arbeit, die dem Gefangenen als Pflichtarbeit zugewiesen ist, sondern auch für eine freiwillig übernommene Tätigkeit. Die Entscheidung des BVerfG aus dem Jahr 1998 erging zwar im Hinblick auf die angemessene Anerkennung von Pflichtarbeit, dies aber nur deshalb, weil Gegenstand der Entscheidung eine gesetzgeberische Konzeption war, die ausschließlich Pflichtarbeit vorsah (vgl. BVerfGE 98, 169 [199]; BVerfG, Beschl. d. 2. Kammer des Zweiten Senats v. 16.12.2015 – 2 BvR 1017/14, Rn. 16). Sowohl die Pflicht- als auch die freiwillige Arbeit im Vollzug dienen denselben Zielen. In beiden Fällen wird den Gefangenen Selbstbestätigung vermittelt und sie werden mit Arbeitsabläufen vertraut gemacht. Ferner dient die Arbeit der Strukturierung des Haftalltags. Durch die Vergütung ihrer Arbeit wird den Gefangenen zudem sowohl im Falle der freiwilligen als auch der Pflichtarbeit ermöglicht, Geld für die Erfüllung von Unterhaltsverpflichtungen, den Schuldenabbau, den Ausgleich von Tatfolgen oder den Einkauf zu verdienen. Wegen der gleichgerichteten Zielsetzung muss die Anerkennung daher in beiden Fällen in gleicher Weise geeignet sein, den Gefangenen den Wert regelmäßiger Arbeit für ein künftiges eigenverantwortetes und straffreies Leben in Gestalt eines greifbaren Vorteils vor Augen zu führen (vgl. BVerfGE 98, 169 [201]; BVerfG, Beschl. d. 3. Kammer des Zweiten Senats v. 24.3.2002 –  2 BvR 2175/01, Rn. 32 und Beschl. d. 2. Kammer des Zweiten Senats v. 16.12.2015 – 2 BvR 1017/14, Rn. 16 m.w.N.).

171 bb) Die Arbeit im Strafvollzug bereitet vor allem dann auf das Erwerbsleben in Freiheit vor, wenn sie durch ein Entgelt vergütet wird (vgl. BVerfGE 98, 169 [202 ff.]). Allerdings kann der Vorteil für die erbrachte Leistung in dem vom Gesetzgeber festzulegenden Resozialisierungskonzept in unterschiedlicher Weise zum Ausdruck kommen. Anerkennung ist nicht nur ein monetäres Konzept. Im Strafvollzug kommen neben oder anstelle eines Entgelts etwa auch der Aufbau einer sozialversicherungsrechtlichen Anwartschaft beziehungsweise die Einbindung in den Schutz sozialer Sicherungssysteme (vgl. hierzu      BVerfGE 98, 169 [204]; Nr. 26.17 der Europäischen Strafvollzugsgrundsätze 2020; Report of the Committee of Experts on the Application of Conventions and Recommendations, Application of International Labour Standards, 2019, Report III [Part A], S. 211) oder Hilfen zur Schuldentilgung in Betracht (vgl. BVerfGE 98, 169 [202]; BVerfG, Beschl. d. 3. Kammer des Zweiten Senats v. 24.3.2002 –  2 BvR 2175/01, Rn. 33 f.).

172 Der Gesetzgeber kann eine angemessene Anerkennung von Arbeit, wie in Art. 46 Abs. 6 BayStVollzG und § 34 Abs. 1 StVollzG NRW sowie den Strafvollzugsgesetzen der meisten anderen Länder (§ 48 Abs. 1, § 49 Abs. 1, Abs. 6-9 JVollzGB III; § 63 Abs.1, Abs. 3 StVollzG Bln; § 32 Abs. 1 BbgJVollzG; § 24 Abs. 1, § 55 Abs. 7 BremStVollzG; § 40 Abs. 1 S. 1, Abs. 3-5 HmbStVollzG; § 27 Abs. 9, § 39 Abs. 1 S.1, Abs. 2 HStVollzG; § 24 Abs. 1, § 55 Abs. 7 StVollzG MV; § 40 Abs. 5-8 NJVollzG; § 31 Abs. 1 JVollzG; § 24 Abs. 1, Abs. 2 SLStVollzG; § 24 Abs. 1 SächsStVollzG; § 31 Abs. 1 JVollzGB I LSA; § 39, § 40 Abs. 1 LStVollzG SH; § 31 Abs. 1, § 32 Abs.1, Abs. 2, Abs. 5 ThürJVollzGB) festgelegt, auch dadurch vorsehen, dass Gefangene – sofern general- oder spezialpräventive Gründe nicht entgegenstehen – durch Arbeit ihre Haftzeit verkürzen („good time“) oder in sonstiger Weise erleichtern können (vgl. BVerfGE 98, 169 [202]; Beschl. d. 3. Kammer des Zweiten Senats v. 24.3.2002 –  2 BvR 2175/01, Rn. 34). Bei der Gestaltung des Vollzugs und der Entlassungsvorbereitung können auch neuartige Formen der Anerkennung – zum Beispiel unter Einbeziehung privater Initiativen – entwickelt werden (vgl.      BVerfGE 98, 169 [202]).

173 cc) Auch Art. 1 Abs. 1 GG gebietet es weder unmittelbar noch in Verbindung mit Art. 12 Abs. 3 GG, Arbeit allein durch ein Arbeitsentgelt anzuerkennen. Denn Arbeit dient – neben der Schaffung und Erhaltung einer Lebensgrundlage – der Entfaltung der Persönlichkeit. Durch Arbeit erfährt der Einzelne Achtung und Selbstachtung, die wiederum einen Teil seiner Menschenwürde ausmachen (vgl. BVerfGE 100, 271 [284]; BVerfGK 13, 137 [140]; Beschl. d. 3. Kammer des Zweiten Senats v. 24.3.2002 – 2 BvR 2175/01, Rn. 35). Gesetzliche Entgeltvorgaben können zwar unter bestimmten Umständen dem Ziel von Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG Rechnung tragen (vgl. BVerfGE 100, 271 [284]). Daraus folgt allerdings nicht, dass allein ein Entgelt als Arbeitsentlohnung von Verfasungs wegen vorgegeben ist. Auch auf dem freien Arbeitsmarkt werden neben dem Entgelt nicht monetäre Gegenleistungen für die geleistete Arbeit vereinbart (vgl. BVerfGE 98, 169 [201]; Beschl. d. 3. Kammer des Zweiten Senats v. 24.3.2002 – 2 BvR 2175/01, Rn. 35; BVerfG, Beschl. d. 2. Kammer des Zweiten Senats v. 16.12.2015 – 2 BvR 1017/14, Rn. 16).

174 dd) Die Anerkennung muss jedoch auch dann, wenn sie nicht allein in Geld, sondern zusätzlich durch nicht monetäre Vorteile erfolgt, einen Gegenwertcharakter für die geleistete Arbeit haben, der auch für die Gefangenen unmittelbar erkennbar ist (vgl. Sondervotum Kruis, BVerfGE 98, 169 [218]). Dies folgt aus der engen Beziehung zwischen der Arbeitspflicht nach Art. 12 Abs. 2 und Abs. 3 GG und der verfassungsrechtlichen Gewährleistung der Achtung der Menschenwürde (vgl. Sondervotum Kruis, BVerfGE 98, 169 [217 f.] unter Verweis auf BVerfGE 74, 102 [120 f.]). Andernfalls bestünde die Gefahr, dass Gefangene, die sich einer Ordnung ausgesetzt sehen, in der für sie der Zusammenhang zwischen abverlangter Arbeit und angemessenem (gerechtem) Lohn prinzipiell aufgehoben ist, zu Objekten staatlicher Gewalt degradiert würden (vgl. Sondervotum Kruis, BVerfGE 98, 169 [217]). Die Art der Anerkennung muss jedenfalls geeignet sein, dem Gefangenen den Wert regelmäßiger Arbeit für ein künftiges eigenverantwortetes und straffreies Leben in Gestalt eines für ihn greifbaren Vorteils vor Augen zu führen. Nur wenn die Gefangenen eine als sinnvoll erlebbare Arbeitsleistung erbringen können, darf der Gesetzgeber davon ausgehen, dass sie sich bei der Entwicklung beruflicher Fähigkeiten sowie bei der Entfaltung ihrer Persönlichkeit auf ein positives Verhältnis zur Arbeit zu stützen vermögen (vgl. BVerfGE 98, 169 [201 f.]; BVerfG, Beschl. d. 2. Kammer des Zweiten Senats v. 16.12.2015 – 2 BvR 1017/14, Rn. 16). Ob der Gesetzgeber zur Erreichung dieses Ziels – wie bisher – ein Nettolohnprinzip, in dem arbeitenden Gefangenen ein feststehender, niedriger Nettobetrag gezahlt wird, oder ein Bruttolohnprinzip verfolgt, wie es beispielsweise mittlerweile für Gefangenenarbeit in Österreich, Frankreich und Italien eingeführt ist (s.o. Rn. 16 ff.), obliegt seiner Entscheidung (vgl. hierzu den Report of the Committee of Experts on the Application of Conventions and Recommendations, Application of International Labour Standards, 2019, Report III [Part A], S. 211). In jedem Fall muss er die aufgezeigten verfassungsrechtlichen Grenzen beachten und ein in sich schlüssiges und widerspruchsfreies Konzept verfolgen.

175 g) Da die Angemessenheit der Vergütung von Gefangenenarbeit auch davon abhängt, welchen Zwecken das Arbeitsentgelt im Rahmen des Resozialisierungskonzepts dienen soll (s.o. Rn. 168), ist der Gesetzgeber gehalten, diese gesetzlich festzuschreiben. Dabei kann er vorsehen, einen gewissen Anteil des Arbeitsentgelts für bestimmte Zwecke einzubehalten oder die Gefangenen an den Kosten im Vollzug angemessen zu beteiligen.

176 aa) So ist der Landesgesetzgeber aus dem verfassungsrechtlichen Resozialisierungsgebot des Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG grundsätzlich nicht gehindert, im Zusammenhang mit der Regelung der Gefangenenvergütung einen bestimmten Anteil zu dem Zweck einzubehalten, dass die Gefangenen einen eigenen Beitrag zu der nach § 345 Nr. 3, § 347 Nr. 3 SGB III von den jeweiligen Ländern zu zahlenden Arbeitslosenversicherung leisten (Art. 206 BayStVollzG; § 32 Abs. 5 StVollzG NRW). Der Beitrag darf allerdings nicht willkürlich erhoben werden und muss der Höhe nach dem geringen Einkommen der Gefangenen Rechnung tragen (vgl. BVerfG, Beschl. d. 2. Kammer des Zweiten Senats v. 30.4.1993 – 2 BvR 969/92, juris, Rn. 4, und v. 1.5.1995 – 2 BvR 646/93, 2 BvR 316/94, juris, Rn. 13, jeweils zur Vorgängervorschrift des § 195 StVollzG).

177 bb) Die Gefangenen können auch dazu angehalten beziehungsweise darin unterstützt werden, im Rahmen der Zielsetzung einer opferbezogenen Vollzugsgestaltung den durch die Straftat verursachten Schaden – immaterieller wie materieller Natur – wiedergutzumachen (Art. 5a Abs. 2 S. 2 BayStVollzG; § 7 Abs. 2 S. 2, § 10 Abs. 1 Nr. 12 StVollzG NRW) sowie während des Vollzugs für Unterhaltsberechtigte zu sorgen (Art. 78 BayStVollzG; § 4 Abs. 3 StVollzG NRW). Das trifft ebenso für Vorgaben zur Regulierung von Schulden zu (die VV zu Art. 9 BayStVollzG spricht insoweit von der „Vorbereitung einer Schuldenregulierung“; vgl. auch § 10 Abs. 1 Nr. 14 StVollzG NRW). Diesen Zwecken mit einem durch eigene Arbeit erlangten Entgelt nachkommen zu können, wird besonders geeignet sein, die Gefangenen in die Lage zu versetzen, den Sinn und Nutzen von Arbeit zu erfahren (vgl. Beschl. d. 3. Kammer des Zweiten Senats v. 24.3.2002 – 2 BvR 2175/01, Rn. 43). Dies wird nicht dadurch in Frage gestellt, dass das Land Nordrhein-Westfalen sowie mehrere sachkundige Dritte im Rahmen der mündlichen Verhandlung die Einschätzung abgegeben haben, das Erwirtschaften und Zahlen von Raten zur Schuldentilgung während des Vollzugs von Strafhaft könne – wenn überhaupt – nur in geringem Umfang ermöglicht werden. Ziel sei vor allem die Kompetenzvermittlung (auch) im Sinne der Vorbereitung auf einen geregelten Schuldenabbau, vornehmlich für die Zeit nach der Haftentlassung. Auch eine solche Vorbereitung und die kontinuierliche Tilgung kleinerer Beträge können dazu beitragen, dass Gefangene Arbeit zur Erlangung der benötigten Geldmittel als sinnvoll und mit einem greifbaren Vorteil verbunden erleben.

178 cc) Soweit die den Gefangenen gezahlte Vergütung dazu dienen soll, den eigenverantwortlichen Umgang mit Geld zu erlernen, was die Vertreter und Vertreterinnen der Vollzugspraxis in der mündlichen Verhandlung als wichtige Funktion benannt haben, kann auch eine Beteiligung der Strafgefangenen an den Kosten im Vollzug in angemessenem Umfang vorgesehen werden. Das gilt allerdings nur unter der Voraussetzung, dass hierbei ihre wirtschaftlichen und finanziellen Interessen gewahrt werden. Ist dies der Fall, sind solche Kostenbeiträge mit dem verfassungsrechtlichen Resozialisierungsgebot vereinbar (vgl. BVerfGE 98, 169 [203]; BVerfGK 17, 415 [417]; BVerfG, Beschl. d. 2. Kammer des Zweiten Senats v. 8.11.2017 – 2 BvR 2221/16, Rn. 19 f. m.w.N.). Sie können damit begründet werden, dass die Verhältnisse im Strafvollzug so weit wie möglich den allgemeinen Lebensverhältnissen angeglichen werden sollen (vgl. BVerfGK 17, 415 [417 f.]; BVerfG, Beschl. d. 2. Kammer des Zweiten Senats v. 8.11.2017 – 2 BvR 2221/16, Rn. 20 m.w.N.).

179 Vor diesem Hintergrund können die Gefangenen grundsätzlich auch an den Kosten für die Krankenbehandlung (Art. 63 Abs. 2 BayStVollzG i.V.m. VV Nr. 1 und 2 zu Art. 63 BayStVollzG, Art. 65 BayStVollzG; § 45 Abs. 3, § 48 StVollzG NRW) beziehungsweise für medizinische Leistungen (§ 45 Abs. 3, § 48 StVollzG NRW, vgl. auch LT-Drs. NRW 16/5413, S. 123 f.), für Suchtmitteltests im Falle eines festgestellten Suchtmittelmissbrauchs (Art. 94 Abs. 2 BayStVollzG; § 65 Abs. 3 StVollzG NRW) sowie für Ausführungen aus wichtigem Anlass (Art. 37 Abs. 3 BayStVollzG) oder zur Erreichung des Vollzugsziels beteiligt werden (§ 53 Abs. 7 StVollzG NRW, vgl. auch     LT-Drs. NRW 16/5413, S. 130, wonach diese Kostentragung Bestandteil der Behandlungskonzeption sei, welche vorsehe, die Gefangenen anzuhalten, ihre verfügbaren finanziellen Mittel sinnvoll planend einzusetzen).

180 Ebenso können gesetzliche Bestimmungen über Beteiligungen der Gefangenen an Telefonkosten (Art. 35 Abs. 2 BayStVollzG, vgl. BVerfGK 17, 415 [417]; BVerfG, Beschl. d. 2. Kammer des Zweiten Senats v. 8.11.2017 – 2 BvR 2221/16, Rn. 19 ff. m.w.N.), an den Kosten für Schriftverkehr und Paketversand (Art. 31 Abs. 3 und Art. 36 Abs. 4 BayStVollzG; § 18 Abs. 3 StVollzG NRW), an Kosten der Verwertung oder Vernichtung eingebrachter Gegenstände (Art. 90 Abs. 3 BayStVollzG; § 15 Abs. 3 StVollzG NRW) und an den Miet-, Verplombungs- sowie Betriebs- und Stromkosten für von ihnen betriebene Geräte inklusive Rundfunkempfangsgeräten (Art. 71 Abs. 1 S. 2, Art. 73 BayStVollzG; § 52 Abs. 4, § 51 Abs. 2, Abs. 3 StVollzG NRW), auch über die Erhebung einer Pauschale (vgl. BVerfG, Beschl. d. 2. Kammer des Zweiten Senats v. 16.5.2018 – 2 BvR 635/17, Rn. 38 ff.), vorgesehen werden. Gleiches gilt für die Reinigung und Instandsetzung von Privatkleidung, sofern diese gestattet worden ist (Art. 22 Abs. 2 Satz 2 BayStVollzG).

181 Die Justizvollzugsbehörden sind allerdings aufgrund ihrer Fürsorgepflicht für die Gefangenen verpflichtet, deren wirtschaftliche Interessen zu berücksichtigen und ihre Kalkulation transparent und nachvollziehbar zu gestalten. Lässt die Anstalt Leistungen durch einen privaten Betreiber erbringen, auf den die Gefangenen ohne eine am Markt frei wählbare Alternative angewiesen sind, ist anerkannt, dass die Anstalt dementsprechend sicherstellen muss, dass der ausgewählte private Anbieter die Leistung zu marktgerechten Preisen anbietet (vgl. BVerfGK 17, 415 [418 f.]; BVerfG, Beschl. d. 2. Kammer des Zweiten Senats v. 8.11.2017 – 2 BvR 2221/16, Rn. 21).

182 dd) Der Gesetzgeber wäre auch nicht gehindert, die Gefangenenvergütung – wie etwa in Frankreich und Italien geschehen (s.o. Rn. 18 f., 20 ff.) – mit der Einbeziehung der Gefangenen in die gesetzliche Rentenversicherung zu verbinden (vgl. BVerfGE 98, 169 [208, 212]; BT-Drs. 19/8234). Die Verfassung weist die Ausgestaltung der Sozialordnung (vgl. Art. 20 Abs. 1 GG) und die Entscheidung über die Gewährung bestimmter Vergünstigungen dem Gesetzgeber als sozialstaatliche Aufgabe zu. Es steht grundsätzlich in seiner Gestaltungsmacht, Art und Umfang der sozialen Sicherungssysteme und den Kreis der hierdurch berechtigten Personen nach sachgerechten Kriterien zu bestimmen. Eine verfassungsrechtliche Verpflichtung, Gefangene in die Rentenversicherung oder andere soziale Sicherungssysteme einzubeziehen, besteht allerdings nicht (vgl. BVerfGE 98, 169 [204]; vgl. auch EGMR [GK], Stummer v. Austria, Urt. v. 7.7.2011, Nr. 37452/02, §§ 130 ff. unter Bezugnahme auf EKMR, Twenty-One Detained Persons v. Germany, Entsch. v. 6.4.1968, Nr. 3134/67 u.a.; EGMR, Meier v. Switzerland, Urt. v. 9.2.2016, Nr. 10109/14, § 67).

183 h) Hat der Gesetzgeber ein Resozialisierungskonzept festgeschrieben und entschieden, welchen Zwecken die Gefangenenarbeit und deren Vergütung dienen sollen, müssen Ausgestaltung und Höhe der Vergütung – und insbesondere der monetären Vergütungskomponente – so bemessen sein, dass die in dem Konzept festgeschriebenen Zwecke unter den gegebenen Umständen auch tatsächlich erreicht werden können, dies mithin angesichts der geringen Entlohnung von Gefangenenarbeit nicht unrealistisch ist. Die Angemessenheit der Vergütungshöhe ist an den mit dem Resozialisierungskonzept insgesamt verfolgten Zwecken zu messen.

184 aa) Ein gesetzliches Konzept der Resozialisierung (auch) durch Gefangenenarbeit, die ausschließlich oder hauptsächlich finanziell entgolten wird, kann zur verfassungsrechtlich gebotenen Resozialisierung nur beitragen, wenn den Gefangenen durch die Höhe des ihnen zukommenden Entgelts in einem Mindestmaß bewusstgemacht werden kann, dass Erwerbsarbeit zur Herstellung der Lebensgrundlage sinnvoll ist (vgl. BVerfGE 98, 169 [202 f.]; vgl. BVerfG, Beschl. d. 3. Kammer des Zweiten Senats v. 24.3.2002 – 2 BvR 2175/01, Rn. 36). Ausgangspunkt hierfür ist die – unter Umständen gesamtgesellschaftlichen Veränderungsprozessen unterliegende – Bedeutung von Erwerbsarbeit in der Gesellschaft. Bei der Regelung dessen, was angemessen ist, kann und muss der Gesetzgeber zahlreiche objektive wie subjektive Kriterien heranziehen (vgl. BVerfGE 98, 169 [202 f.]; BVerfG, Beschl. d. 3. Kammer des Zweiten Senats v. 24.3.2002 – 2 BvR 2175/01, Rn. 36, 38).

185 (1) So kann der Zweck der konkret ausgeübten Beschäftigung als therapeutische Behandlung, als Erwerbsarbeit (insbesondere in den Eigen- und Unternehmerbetrieben) oder als in der Justizvollzugsanstalt notwendige, selbst ausgeführte Hausarbeit bei der Bestimmung der Entlohnung ebenso Berücksichtigung finden wie das Qualifikationsniveau der Arbeit (vgl. BVerfGE 98, 169 [203]). Mit der Höhe der Vergütung kann der Gesetzgeber auch Anreize für geeignete Gefangene schaffen, sich therapeutischen Maßnahmen zu unterziehen oder eine schulische oder berufliche Aus- oder Weiterbildung zu absolvieren.

186 (2) Zur Aufrechterhaltung der Sicherheit und Ordnung in den Justizvollzugsanstalten ist es ein legitimes Ziel, zu große Einkommensunterschiede der Gefangenen untereinander und deren negative Auswirkungen auf das Anstaltsleben – wie etwa das Entstehen von Subkulturen, Abhängigkeiten oder der Leih- und Tauschhandel von Gefangenen untereinander – zu vermeiden (vgl. auch       BVerfGE 98, 169 [212]).

187 (3) Die Bezahlung vergleichbarer Tätigkeiten auf dem freien Arbeitsmarkt, zum Beispiel nach dem Gesetz zur Regelung eines allgemeinen Mindestlohns v. 11.8.2014, zuletzt geändert durch Art. 1 des Gesetzes zur Erhöhung des Schutzes durch den gesetzlichen Mindestlohn und zu Änderungen im Bereich der geringfügigen Beschäftigung v. 28.6.2022 (BGBl. I, S. 969), und der jeweils gültigen Verordnung zur Anpassung der Höhe des Mindestlohns, zuletzt v. 9.11.2020 (BGBl. I, S. 2356), kann ebenso in den Blick genommen und einbezogen werden wie die typischen Bedingungen des Strafvollzugs, insbesondere die in der Regel geringere Produktivität von Gefangenenarbeit (vgl. BVerfGE 98, 169 [202 f.]; BVerfG, Beschl. d. 3. Kammer des Zweiten Senats v. 24.3.2002 – 2 BvR 2175/01, Rn. 36).

188 (4) Auch die Kosten der Gefangenenarbeit für die Unternehmerbetriebe, die Konkurrenz durch andere Produktionsmöglichkeiten, etwa im Ausland, und die allgemeine Lage auf dem Arbeitsmarkt können berücksichtigt werden (vgl. BVerfGE 98, 169 [202 f.]; BVerfG, Beschl. d. 3. Kammer des Zweiten Senats v. 24.3.2002 – 2 BvR 2175/01, Rn. 36). Der Gesetzgeber darf zudem die Erhaltung und den Ausbau des Angebots an Arbeitsplätzen für die Gefangenenarbeit beziehungsweise die Verhinderung der Schließung von Anstaltsbetrieben anstreben (vgl. BVerfG, Beschl. d. 3. Kammer des Zweiten Senats v. 24.3.2002 – 2 BvR 2175/01, Rn. 42, 44 f.). Er kann ferner die nicht monetäre Vergütungskomponente, wie etwa die Gewährung von Freistellungstagen als Teil der verfassungsrechtlich gebotenen Anerkennung unter Berücksichtigung ihrer Art und Höhe einbeziehen.

189 (5) Sieht der Gesetzgeber ein System (hauptsächlich) finanzieller Vergütung für Gefangenenarbeit vor, so ist es ihm nicht verwehrt, auch einen Haftkostenbeitrag vorzusehen. Der Erhebung eines Haftkostenbeitrags (durch Abzüge für Unterbringung und Verpflegung) steht das Gebot, Arbeit angemessen zu vergüten, nicht grundsätzlich entgegen. Das Resozialisierungsgebot fordert aber in der für Strafgefangene typischen Situation einen Ausgleich zwischen dem staatlichen Interesse an einer Kostendeckung und den wirtschaftlichen Interessen und finanziellen Möglichkeiten der Gefangenen. Dies erfordert eine gesetzliche Regelung, nach der der Haftkostenbeitrag so bemessen wird, dass dem Gefangenen von der Vergütung jedenfalls ein angemessener Betrag verbleibt (vgl. BVerfGE 98, 169 [203]), der ihm einen greifbaren Vorteil im Vergleich zu nicht arbeitenden Gefangenen bringt. Entscheidet sich der Gesetzgeber, wie etwa in Art. 49 Abs. 1 S. 2 BayStVollzG und § 39 Abs. 2 StVollzG NRW, dafür, auf einen Haftkostenbeitrag im Fall der Entlohnung nach dem jeweiligen Strafvollzugsgesetz zu verzichten, kann dies ebenfalls in die Gesamtbetrachtung für die Ermittlung der angemessenen Vergütungshöhe einbezogen werden (vgl. BayVerfGHE 63, 133 [142], der die Nichterhebung des Haftkostenbeitrags als unmittelbaren Teil der Vergütung ansieht).

190 (6) Ebenso kann der (Teil-)Erlass von Verfahrenskosten, wie er in § 39 Abs. 5 Nr. 1 des Hessischen Strafvollzugsgesetzes (HStVollzG) v. 28.6.2010, zuletzt geändert durch Art. 2 des Gesetzes v. 12.11.2020 (GVBl S. 778), und in § 40 Abs. 8 Nr. 1 des Hamburgischen Gesetzes über den Vollzug der Freiheitsstrafe (HmbStVollzG) v. 14.7.2009, zuletzt geändert durch Art. 1 des Gesetzes v. 7.3.2023 (HmbGVBl S. 94), geregelt ist, bei der Festlegung der Höhe der Vergütung in Rechnung gestellt werden.

191 (7) Die Ermöglichung von Unterhalts- und Wiedergutmachungszahlungen muss, wenn dies in dem jeweiligen Resozialisierungskonzept vorgesehen ist, bei der Festsetzung der Vergütungshöhe ebenfalls berücksichtigt werden. Gleiches gilt für die Tilgung von Schulden, sei es auch nur in geringem Umfang, wobei bereits bestehende Angebote zur Schuldnerberatung und Schuldentilgung, nicht zuletzt mit der Hilfe freier Träger, genutzt oder erweitert werden können.

192 (8) Auch die Wahrnehmung der Gesamtvergütung von Gefangenenarbeit und insbesondere der Bemessung der monetären Vergütungskomponente durch die Gefangenen selbst darf nicht unberücksichtigt bleiben. Der Gesetzgeber hat gesetzliche Rahmenbedingungen anzustreben, die dazu beitragen, dass das (geringe) Entgelt nicht als Teil der zu verbüßenden Strafe erlebt wird. So hat der Sprecher der Gefangenengewerkschaft/Bundesweite Organisation in der mündlichen Verhandlung darauf hingewiesen, dass bei vielen Gefangenen der Eindruck entstehe, ihre Arbeit werde weder gesamtgesellschaftlich gesehen noch in Bezug auf konkrete Arbeitsleistungen, insbesondere solche in Unternehmerbetrieben, genügend wertgeschätzt und lohne sich aufgrund der niedrigen Stundenlöhne und angesichts der oft hohen Schulden nicht. Ein solcher Eindruck birgt die Gefahr, dass Gefangene Erwerbstätigkeit zur Herstellung einer Lebensgrundlage nicht als sinnvoll erleben, was ihrer Bereitschaft, einer regelmäßigen Arbeit nachzugehen, und damit ihrer Resozialisierung entgegenstehen kann.

193 bb) Die Aufgabe, die erforderliche Abwägung der vielfältigen aufgeführten Belange vorzunehmen (vgl. BVerfGE 95, 1 [22]) und Zielkonflikte zu lösen (vgl. BVerfGE 150, 1 [88 Rn. 171]), fällt dem Gesetzgeber zu, wobei ihm ein weiter Gestaltungs- und Entscheidungsspielraum (vgl. Rn. 164) eingeräumt ist. Das BVerfG kann dabei seine eigene Abwägung nicht an die Stelle derjenigen des Gesetzgebers setzen. Es ist nicht seine Aufgabe, darüber zu entscheiden, ob aus vollzugspolitischer Sicht eine Erhöhung des monetären Teils der Vergütung geboten oder wünschenswert ist (vgl. BVerfG, Beschl. d. 3. Kammer des Zweiten Senats v. 24.3.2002 – 2 BvR 2175/01, Rn. 38), und die Höhe des Entgelts entsprechend festzusetzen.

194 Die (Gesamt-)Vergütung ist – ohne dass es darauf ankommt, ob es sich um Pflichtarbeit oder um freiwillige Arbeit handelt (s.o. Rn. 170) – auch im Fall des Unterschreitens ihrer bisherigen Komponenten an den aufgezeigten Maßstäben des verfassungsrechtlichen Resozialisierungsgebots zu messen. So bedarf etwa die ersatzlose Streichung der Freistellungstage besonders gewichtiger Rechtfertigungsgründe. Die angemessene Anerkennung von Arbeit bleibt nach diesen Maßstäben unverzichtbar, weil der Einzelne dadurch Achtung und Selbstachtung erfährt (vgl. BVerfGE 100, 271 [284]; 103, 293 [307]; vgl. BVerfG, Beschl. d. 3. Kammer des Zweiten Senats v. 24.3.2002 – 2 BvR 2175/01, Rn. 35). Sie steht in engem Zusammenhang mit dem Menschenwürdekern des Resozialisierungsgebots.

195 i) Da der Gesetzgeber bei der Regelung des Resozialisierungskonzepts über einen weiten Gestaltungs- und Entscheidungsspielraum verfügt (vgl. Rn. 164), nimmt das BVerfG die verfassungsrechtliche Überprüfung des Konzepts (lediglich) im Rahmen einer Vertretbarkeitskontrolle vor (aa). Der Gesetzgeber muss den an eine gültige Prognose zu stellenden Anforderungen genügen und das Gesetz, wenn sich seine Prognose wegen veränderter Umstände als nicht mehr zutreffend erweist, gegebenenfalls nachbessern (bb). Weitergehende prozedurale Anforderungen an das Gesetzgebungsverfahren bestehen nicht (cc).

196 aa) Die verfassungsgerichtliche Kontrolle kann von einer bloßen Evidenzkontrolle über eine Vertretbarkeitskontrolle bis hin zu einer intensivierten inhaltlichen Kontrolle reichen (vgl. BVerfGE 50, 290 [332 f. m.w.N.]; 123, 186 [241]). Je höher sich die Komplexität einer Materie dabei ausnimmt, desto größer ist einerseits der gesetzgeberische Einschätzungs- und Gestaltungsspielraum (vgl. BVerfGE 122, 1 [34]; BVerfGE 150, 1 [89 Rn. 173]). Andererseits bedarf es einer umso intensiveren inhaltlichen Kontrolle, je schwerer der in Frage stehende Grundrechtseingriff ist (vgl. für die lebenslange Freiheitsstrafe BVerfGE 45, 187 [238]; für ein Verbot äußerer religiöser Bekundungen BVerfGE 153, 1 [46 Rn. 101] – Kopftuch III).

197 Die Regelung eines Resozialisierungskonzepts erfordert komplexe Abwägungsentscheidungen, die mit einem weiten Gestaltungsspielraum für den Gesetzgeber verbunden sind. Bei der Ausgestaltung des Konzepts hat dieser – wie bereits ausgeführt (s.o. Rn. 193) – vielfältige Zielkonflikte zu lösen (vgl. auch BVerfGE 116, 69 [89]; 150, 1 [88 Rn. 171]). Es gibt, wie insbesondere durch die Ausführungen von (…), (…) und (…) in der mündlichen Verhandlung deutlich geworden ist, unterschiedliche methodische und programmatische Herangehensweisen zur Umsetzung eines den neuesten Stand der Wissenschaft und Forschung berücksichtigenden Resozialisierungskonzepts und zur Erreichung der darin vorgesehenen Ziele. Dies spricht dafür, dass die Ausfüllung des Einschätzungs- und Gestaltungsspielraums des Gesetzgebers vom BVerfG nur in begrenztem Umfang überprüft werden kann (vgl. BVerfGE 77, 170 [215]; 88, 203 [262]; 90, 145 [173]; 150, 1 [89 Rn. 173]).

198 Auf der anderen Seite ist die große Bedeutung, die dem gesetzgeberischen Resozialisierungskonzept für die Verwirklichung der Grundrechte der Gefangenen zukommt, zu berücksichtigen. Ein solches Konzept, das die Durchführung des Strafvollzugs bestimmt, hat starken Einfluss auf die Chance der einzelnen Gefangenen, sich wieder in die Gesellschaft zu integrieren und künftig ein straffreies Leben zu führen. Um beiden genannten Gesichtspunkten Rechnung zu tragen, ist das Bundesverfassungsgericht bei der Überprüfung des vom Gesetzgeber festgeschriebenen Resozialisierungskonzepts auf eine Vertretbarkeitskontrolle beschränkt.

199 bb) Der Gesetzgeber darf Konzepte erproben, muss ein Gesetz aber bei Fehlprognosen (vgl. BVerfGE 57, 139 [162]; 89, 365 [378 ff.]; 113, 167 [234]; 150, 1 [90 Rn. 176]) oder dann nachbessern, wenn die Änderung einer zunächst verfassungskonform getroffenen Regelung erforderlich ist, um diese unter veränderten tatsächlichen Bedingungen oder angesichts einer veränderten Erkenntnislage mit der Verfassung im Einklang zu halten. Eine zunächst verfassungskonforme Regelung kann unter veränderten Umständen verfassungswidrig werden, sofern der Gesetzgeber dem nicht durch Nachbesserung entgegenwirkt (vgl. BVerfGE 116, 69 [91]; 132, 334 [358 Rn. 67 m.w.N.]; 143, 216 [245 Rn. 71]; 150, 1 [90 Rn. 176]).

200 Die Verpflichtung, der gesetzlichen Ausgestaltung des Vollzugs möglichst realitätsgerechte Annahmen und Prognosen zugrunde zu legen, wirkt auch in die Zukunft. Der Gesetzgeber muss daher sich selbst und den mit der Anwendung der gesetzlichen Bestimmungen befassten Behörden die Möglichkeit sichern, aus Erfahrungen mit der jeweiligen gesetzlichen Ausgestaltung des Vollzugs und der Art und Weise, in der die gesetzlichen Vorgaben angewendet beziehungsweise umgesetzt werden, und dem Vergleich mit entsprechenden Erfahrungen außerhalb des eigenen Kompetenzbereichs, etwa in anderen Ländern oder im Ausland (s.o. Rn 15 bis 22), zu lernen. In diesem Zusammenhang ist vor allem die Erhebung aussagefähiger, auf Vergleichbarkeit angelegter Daten geboten, die bis auf die Ebene der einzelnen Anstalten eine Feststellung und Bewertung der Erfolge und Misserfolge des Vollzugs – insbesondere der Rückfallhäufigkeit – sowie die gezielte Erforschung der hierfür verantwortlichen Faktoren einschließlich des Einflusses der Gefangenenarbeit und ihrer Entlohnung ermöglichen. Solche Daten dienen wissenschaftlicher und politischer Erkenntnisgewinnung sowie einer öffentlichen Diskussion, die die Suche nach den besten Lösungen anspornt und demokratische Verantwortung geltend zu machen erlaubt (vgl. BVerfGE 116, 69 [91]).

201 Der Gesetzgeber war bereits in der Vergangenheit und bleibt auch weiterhin aufgefordert, die Bezugsgröße des monetären Teils der Vergütung sowie den Umfang des nicht monetären Vergütungsteils, etwa in Form von durch regelmäßige Arbeit zu erzielenden Freistellungstagen, einer ständigen Prüfung zu unterziehen (vgl. BVerfG, Beschl. d. 3. Kammer des Zweiten Senats v. 24.3.2002 – 2 BvR 2175/01, Rn. 42, 49). Auch nachdem der Gesetzgeber Regelungen getroffen hat, denen sich nachvollziehbar ein in sich stimmiges Resozialisierungskonzept entnehmen lässt, welches den genannten Anforderungen entspricht, muss er vor dem Hintergrund des verfassungsrechtlichen Resozialisierungsgebots einerseits und des sich ständig verändernden gesamtwirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umfelds sowie des Fortschritts in der Strafvollzugsforschung andererseits sicherstellen, dass die von ihm mit dem gewählten Konzept verfolgten Zie- le auch weiterhin erreichbar sind.

202  Angesichts des hohen Gewichts der grundrechtlichen Belange, die im Strafvollzug berührt werden, ist der Gesetzgeber zur Beobachtung der Auswirkungen seiner Maßnahmen und gegebenenfalls zur Nachbesserung verpflichtet (vgl. zum Jugendstrafvollzug BVerfGE 116, 69 [91]). Im Zuge der Umsetzung nachträglich erkennbar gewordene Zweifel an der Eignung des Resozialisierungskonzepts können für die Zukunft etwa Vorkehrungen in Gestalt einer wissenschaftlichen Begleitung oder von Evaluationen des Gesetzesvollzugs erforderlich machen (vgl. BVerfGE 116, 69 [91]; 150, 1 [90 Rn. 176]). Der Gesetzgeber muss sein Gesamtkonzept auf dessen Tragfähigkeit und die Zielerreichung in regelmäßigen Abständen überprüfen und das Ergebnis dieser Prüfung nachvollziehbar darlegen. Hierzu gehören auch Ausführungen zu Ziel und Bemessung der Vergütung für Gefangenenarbeit.

203 cc) Besondere prozedurale Anforderungen an das Gesetzgebungsverfahren mit entsprechenden Begründungslasten des Gesetzgebers bestehen im vorliegenden Zusammenhang dagegen nicht. Soweit die Rechtsprechung des BVerfG zum Beispiel bei Besoldungsfragen (vgl. BVerfGE 130, 263 [300 ff.]; 139, 64 [126 f. Rn. 129 f.]; 140, 240 [296 Rn. 112 f.]; 145, 1 [13 Rn. 28 f.]; 145, 304 [326 Rn. 68]; 149, 382 [395 f. Rn. 21]; 155, 1 [48 Rn. 97]) oder bei der Parteienfinanzierung (vgl. BVerfG, Urt. d. Zweiten Senats v. 24.1.2023 – 2 BvF 2/18, Rn. 129 f. – Parteienfinanzierung – Absolute Obergrenze) besondere Anforderungen an die Begründungslast im Gesetzgebungsverfahren gestellt hat, betraf dies typischerweise die gesetzliche Ausgestaltung in der Verfassung selbst angelegter (Leistungs-)Rechte, die ohne entsprechende Anforderungen an die Ermittlung und Begründung der Regelungsgrundlagen leerzulaufen drohen (vgl. BVerfGE 150, 1 [90 f. Rn. 178 m.w.N.]; BVerfG, Urt. d. Zweiten Senats v. 24.1.2023 – 2 BvF 2/18, Rn. 131). Das ist bei der Bestimmung der Vergütung von Gefangenenarbeit nicht der Fall.

204 2. Die gesetzlich festgeschriebenen Resozialisierungskonzepte des Freistaats Bayern (a) und des Landes Nordrhein-Westfalen (b) werden diesen Maßstäben nicht gerecht. Sie verstoßen gegen das Resozialisierungsgebot und verletzen die Beschwerdeführer zu I. und zu II. in ihrem Recht auf Resozialisierung (c).

205  a) Bayern:

206 Das Konzept zur Umsetzung des verfassungsrechtlichen Resozialisierungsgebots, wie es derzeit im Bayerischen Strafvollzugsgesetz und in Bezug auf Arbeit und deren Vergütung insbesondere in Art. 46 Abs. 2 S. 2 und Abs. 6 S. 1 BayStVollzG Ausdruck gefunden hat, ist in sich nicht schlüssig und widerspruchsfrei. Aus dem gesetzgeberischen Konzept kann nicht nachvollziehbar entnommen werden, welche Bedeutung dem Faktor Arbeit zukommen soll, welche Ziele mit dieser Behandlungsmaßnahme erreicht werden sollen und welchen Zwecken die vorgesehene Vergütung für die geleistete Arbeit dienen soll (aa). Wesentliches ist nicht gesetzlich geregelt (bb) und eine kontinuierliche, wissenschaftlich begleitete Evaluation der Resozialisierungswirkung von Arbeit und deren Vergütung findet nicht statt (cc).

207 aa) Der Freistaat Bayern verfügt nicht über ein den verfassungsrechtlichen Anforderungen genügendes, in sich schlüssiges Resozialisierungskonzept. In Art. 2 bis 6 BayStVollzG sind mehrere Vollzugsziele und in Art. 3 Satz 3 BayStVollzG eine Reihe von Behandlungsmaßnahmen aufgeführt, die nebeneinanderstehen, ohne erkennbar aufeinander abgestimmt zu sein. Arbeit, arbeitstherapeutische Beschäftigung, Ausbildung und Weiterbildung sind in einem eigenen Abschnitt (Fünfter Abschnitt des zweiten Teils des BayStVollzG) geregelt und stellen im Rahmen des Regelungsgeflechts der Art. 3 Abs. 3, Art. 39, 43 BayStVollzG offenbar wichtige, wenn nicht sogar die wichtigsten Behandlungsmaßnahmen dar. Die Regelungen zur Arbeitspflicht (Art. 43 BayStVollzG) und zu Art und Höhe der Vergütung (Art. 46 BayStVollzG) sind, soweit ersichtlich, im Wesentlichen ohne neue Erwägungen, Überprüfungen oder Anpassungen aus den vorher geltenden bundesgesetzlichen Regelungen übernommen worden (vgl. LT-Drs. BAY 15/8101, S. 59 f.). Allerdings hat die Justizvollzugsanstalt, wenn sie für den Gefangenen Beiträge zur Arbeitslosenversicherung abführt, von dessen Arbeitsentgelt nun einen Beitrag einzubehalten, der seinem Anteil entspräche, wenn er Arbeitnehmer wäre (vgl. Art. 206 BayStVollzG). Anders als bei § 195 StVollzG, der der Vollzugsbehörde Ermessen einräumt, handelt es sich hier um eine gebundene Entscheidung.

208 Ferner sind einige gesetzlich festgelegte Zwecke hinzugekommen, für die der – unverändert in der Höhe von 9 % der Bezugsgröße zu bemessende – Lohn verwendet werden soll. Schon der bei Inkrafttreten des Bayerischen Strafvollzugsgesetzes zum 1.1.2008 geltende Art. 78 Abs. 2 S. 2 BayStVollzG a.F. sah vor, dass die Gefangenen anzuhalten seien, den durch die Straftat verursachten Schaden zu regeln. Nach der Gesetzesbegründung hebt der Absatz 2 im Interesse des Opferschutzes besonders hervor, dass dadurch die Einsicht der Gefangenen in die Verantwortung für ihre Tat geweckt werden solle und sie dazu anzuhalten seien, den durch die Straftat verursachten Schaden zu regeln; in geeigneten Fällen sei die Durchführung eines Täter-Opfer-Ausgleichs anzustreben. Die Bestimmung konkretisiere den in Art. 75 BayStVollzG verankerten Grundsatz der Hilfe zur Selbsthilfe, wobei die Anstalt zur Schadenswiedergutmachung und in geeigneten Fällen zum Täter-Opfer-Ausgleich im weiteren Sinn aktiv an die Gefangenen herantreten und sie zur Mitarbeit motivieren solle. Ein Täter-Opfer-Ausgleich könne in einer materiellen Schadensregulierung liegen oder sich auf eine immaterielle Aussöhnung mit dem Opfer beziehen. Die Schadensregulierung gegenüber dem Opfer oder gegenüber anderen Gläubigern diene der Wiedereingliederung der Gefangenen. Die Behandlungsmaßnahmen während des Vollzugs verfehlten ihre Wirkung, wenn Gläubiger Strafentlassene bis zur Pfändungsgrenze in Anspruch nähmen (vgl. LT-Drs. BAY 15/ 8101, S. 66).

209 Mit der Einführung des Art. 5a BayStVollzG mit Änderungsgesetz vom 26.6.2018 (GVBl S. 446) sollte ausweislich der Gesetzesbegründung der Opferschutz noch deutlicher hervorgehoben und die bisherige Regelung des Art. 78 Abs. 2 BayStVollzG im Wesentlichen übernommen werden. Die Verankerung im Bereich der Vollzugsgrundsätze solle zum Ausdruck bringen, dass eine opferbezogene Vollzugsgestaltung „in allen Bereichen, von der Erstellung des Vollzugsplans über die Verbescheidung von Auskunftsersuchen oder die Entscheidung über Besuchsverbote beziehungsweise die Zulassung von Telefongesprächen bis hin zur Entlassungsvorbereitung (z.B. durch entsprechende Auflagen bei Lockerungsentscheidungen nach Art. 13 bis 15 BayStVollzG oder Vorschläge der Anstalten für bestimmte Weisungen im Rahmen der Bewährungs- oder Führungsaufsicht)“ erfolgen solle (vgl. LT-Drs. BAY 17/21101, S. 34). Ausführungen zur Auswirkung dieses Ziels des Opferschutzes auf die Gefangenenvergütung sind der Gesetzesbegründung dagegen nicht zu entnehmen. Außerdem sind die Gefangenen seit dem Inkrafttreten des Bayerischen Strafvollzugsgesetzes nach Art. 78 Abs. 1 BayStVollzG in dem Bemühen zu unterstützen, ihre Rechte und Pflichten wahrzunehmen und für Unterhaltsberechtigte zu sorgen.

210 Angesichts der geringen monetären Vergütung, die bereits im Rahmen des Kammerbeschlusses aus dem Jahr 2002 (vgl. BVerfG, Beschl. d. 3. Kammer des Zweiten Senats v. 24.3.2002 – 2 BvR 2175/01, Rn. 46, 49) nur aufgrund der gleichwertigen zusätzlichen Gewährung ausreichender nicht monetärer Leistungen für noch verfassungsgemäß erklärt wurde, erscheint es widersprüchlich und im Regelfall realitätsfern, dass Gefangene gleichwohl im Rahmen des immer weiter ins Zentrum des Resozialisierungskonzepts gerückten Opferschutzes dazu angehalten werden sollen, den durch die Straftat verursachten Schaden wiedergutzumachen. Ausweislich der Gesetzesbegründung soll dies jedenfalls auch die materielle Schadensregulierung umfassen. Darüber hinaus sollen die Gefangenen zugleich noch für Unterhaltsberechtigte sorgen. Zusätzlich ist gesetzlich geregelt, dass sie – in stärkerem Umfang, als dies noch vor der Föderalismusreform I im Strafvollzugsgesetz vorgesehen war – an den Kosten für den Betrieb elektronischer Geräte, für Gesundheitsleistungen oder für Suchtmitteltests beteiligt werden beziehungsweise beteiligt werden können (vgl. LT-Drs. BAY 15/8101, S. 50; in diesem Sinne auch bereits Hanseatisches OLG, Beschl. v. 4.2.2011 – 3 Vollz (Ws) 3/11, juris, Rn. 27). Insofern erschließt sich nicht, wie diese Anforderungen von den Gefangenen erfüllt werden sollen, ohne dass ihnen mehr Lohn für die von ihnen geleistete Arbeit zur Verfügung stünde. Die im Wesentlichen unverbunden nebeneinanderstehenden Regelungen des bayerischen Landesrechts zur Rolle der Gefangenenarbeit im Strafvollzug erfüllen die Voraussetzungen eines schlüssigen, realitätsgerechten Resozialisierungskonzepts nicht.

211 bb) Für die Verwirklichung des Grundrechts der Gefangenen auf Resozialisierung nach Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG Wesentliches hat der bayerische Gesetzgeber nicht selbst geregelt. Dies betrifft die Vorgaben an den Inhalt der Vollzugspläne (1) und die Regelung zur Kostenbeteiligung der Gefangenen an Gesundheitsleistungen (2).

212 (1) Regelungen darüber, welche Inhalte die Vollzugspläne der einzelnen Gefangenen aufzuweisen haben, wie dies etwa in § 7 StVollzG oder in § 10 StVollzG NRW vorgesehen ist, trifft das Bayerische Strafvollzugsgesetz nicht. Ausführungen dazu, was die Pläne beinhalten sollen, finden sich lediglich in den Verwaltungsvorschriften zu Art. 9 BayStVollzG. Da es sich bei den Angaben im Vollzugsplan, die sich insbesondere auf die für den jeweiligen Gefangenen erforderlichen Behandlungsmaßnahmen beziehen, um für die Resozialisierung bedeutsame Gesichtspunkte für die Durchführung des Strafvollzugs handelt, darf der Landesgesetzgeber deren Regelung nicht der Verwaltung überlassen. Gleiches gilt für das Verfahren zur Aufstellung und Fortschreibung der Vollzugspläne.

213 (2) Näheres zur Kostenbeteiligung der Gefangenen an Gesundheitsleistungen im Sinne des Art. 63 BayStVollzG, der nach dem Willen des Gesetzgebers als Ausdruck des Angleichungsgrundsatzes in das Gesetz aufgenommen wurde (vgl. LT-Drs. BAY 15/8101, S. 64), ist ebenfalls nur in den Verwaltungsvorschriften zu dieser Norm geregelt (Bekanntmachung des Bayerischen Staatsministeriums der Justiz über die Verwaltungsvorschriften zum Bayerischen Strafvollzugsgesetz [VVBayStVollzG] v. 1.7.2008 [JMBl S. 89], zuletzt geändert durch Bekanntmachung v. 9.11.2022 [BayMBl Nr. 691]).

214 Hiernach überlässt der bayerische Gesetzgeber der Verwaltung Regelungen, die für die Ausfüllung, Verwirklichung und Durchsetzung des verfassungsrechtlichen Resozialisierungsgebots und des entsprechenden Grundrechts der Gefangenen wesentlich sind. Solche Regelungen, die das Resozialisierungskonzept des Landesgesetzgebers ausgestalten sowie für die monetäre Vergütung der Gefangenenarbeit und deren Verwendung von erheblicher Bedeutung und damit grundrechtsrelevant sind, muss der Gesetzgeber im Rahmen eines Gesetzgebungsverfahrens, das auch der (Fach-)Öffentlichkeit Gelegenheit bieten soll, ihre Auffassungen auszubilden und zu vertreten (vgl. BVerfGE 116, 69 [91]; 139, 19 [46 Rn. 53]; 150, 1 [96 f. Rn. 192]; BVerfG, Urt. d. Zweiten Senats v. 22.2.2023 – 2 BvE 3/19, Rn. 182), selbst treffen. Die Einzelheiten können dann in einer Rechtsverordnung oder in Verwaltungsvorschriften ausformuliert werden.

215 cc) Obwohl der Gesetzgeber bereits aufgefordert war, insbesondere die Höhe der Bezugsgröße für den monetären Teil der Vergütung für Gefangenenarbeit nicht festzuschreiben, sondern einer steten Prüfung zu unterziehen (vgl. BVerfG, Beschl. d. 3. Kammer d. Zweiten Senats v. 24.3.2002 – 2 BvR 2175/01, Rn. 42) und auch den Umfang der nicht monetären Vergütungsteile ständig zu überprüfen (vgl. BVerfG, Beschl. d. 3. Kammer des Zweiten Senats v. 24.3.2002 – 2 BvR 2175/01, Rn. 49), fand – soweit ersichtlich – im Zuge des Erlasses des Bayerischen Strafvollzugsgesetzes keine Evaluation beziehungsweise wissenschaftliche Begleitung hinsichtlich der Wirkungen von Arbeit und Ausbildung als Behandlungsmaßnahmen und ihrer Vergütung statt. Die mündliche Verhandlung hat ergeben, dass auch weiterhin eine regelmäßige, wissenschaftlich begleitete Evaluation fehlt.

216 Zwar ist nach Art. 189 BayStVollzG ein kriminologischer Dienst eingerichtet worden, dessen Aufgabe darin besteht, in Zusammenarbeit mit den Einrichtungen der Forschung den Vollzug, insbesondere die Behandlungsmethoden, wissenschaftlich fortzuentwickeln und seine Ergebnisse für Zwecke der Strafrechtspflege nutzbar zu machen. Mit den hier relevanten Fragen hat er sich jedoch bislang im Schwerpunkt nicht beschäftigt. Dies wird unter anderem damit begründet, dass – nach den Angaben des Vertreters des Kriminologischen Dienstes des bayerischen Justizvollzugs – aufgrund der Vielzahl parallel angewandter Behandlungsmaßnahmen eine genaue Kausalitätsforschung in Bezug auf einzelne Maßnahmen nur schwer zu betreiben sei. Arbeit sei stets als selbstverständliche und wirksame Maßnahme angesehen worden; sie sei traditionsbedingt schon immer Teil des Strafvollzugs gewesen. Auch eine Vergabe entsprechender Forschungsaufträge an die freie Wissenschaft, wie sie die Gesetzesbegründung für die Arbeit des Kriminologischen Dienstes explizit vorsieht (vgl. LT-Drs. BAY 15/8101, S. 91), ist, soweit ersichtlich, zumindest in diesem Bereich nicht erfolgt.

217 Dies wird der Komplexität der Materie und der Gestaltungsbedürftigkeit des an den Gesetzgeber gerichteten Resozialisierungsgebots in Bezug auf die grundrechtsrelevante Frage der Bedeutung von Arbeit und ihrer Vergütung als Behandlungsmaßnahme nicht gerecht. Hat der Gesetzgeber ein Resozialisierungskonzept geregelt, verpflichtet ihn das Resozialisierungsgebot, die vielfältigen tatsächlichen Bedingungen und veränderte wissenschaftliche Erkenntnisse zur Kenntnis zu nehmen und die Vorschriften zur Umsetzung seines Konzepts gegebenenfalls nachzubessern, um sie mit der Verfassung im Einklang zu halten. Das erfordert eine realitätsgerechte Bewertung der beabsichtigten Resozialisierungsziele mit Blick auf die zur Verfügung stehenden Behandlungsmaßnahmen. Dies gilt insbesondere auch in Bezug auf die für Gefangenenarbeit festgesetzte Vergütung in ihren monetären und nicht monetären Teilen. Das verfassungsrechtliche Resozialisierungsgebot verlangt hinsichtlich der Gefangenenarbeit und ihrer Vergütung zumindest eine wissenschaftlich begleitete Evaluation der einzubeziehenden Faktoren – unabhängig und gegebenenfalls parallel zu einer Erforschung und Bewertung der tatsächlichen Wirksamkeit dieser Behandlungsmaßnahme.

218  b) Nordrhein-Westfalen:

219 Das Konzept zur Umsetzung und Erreichung des verfassungsrechtlichen Resozialisierungsgebots des Strafvollzugsgesetzes Nordrhein-Westfalen, so wie es insbesondere in Bezug auf Arbeit und deren Vergütung in § 32 Abs. 1 S. 1, § 34 Abs. 1 StVollzG NRW normiert wurde, ist ebenfalls nicht in sich schlüssig und widerspruchsfrei. Dem gesetzgeberischen Konzept kann auch hier nicht nachvollziehbar entnommen werden, welche Bedeutung dem Faktor Arbeit – im Vergleich zu anderen Behandlungsmaßnahmen – zukommen soll, welche Ziele mit dieser Behandlungsmaßnahme erreicht werden sollen und welchen Zwecken die vorgesehene Vergütung für die geleistete Arbeit dienen soll (aa). Wesentliches ist nicht gesetzlich geregelt (bb), und eine regelmäßige, wissenschaftlich begleitete Evaluation dieser Maßnahme findet ebenfalls nicht statt (cc).

220 aa) Auch Nordrhein-Westfalen verfügt nicht über ein den verfassungsrechtlichen Anforderungen, insbesondere dem Resozialisierungsgebot in Bezug auf Arbeit und ihre Vergütung genügendes, in sich schlüssiges Resozialisierungskonzept. In den §§ 1 bis 7 StVollzG NRW sind zahlreiche Vollzugsziele und in § 3 Abs. 2 und Abs. 3 StVollzG NRW eine Reihe von Behandlungsmaßnahmen aufgeführt, die nicht erkennbar aufeinander abgestimmt wurden. Das Land hält an der Beschäftigungspflicht gemäß § 29 Abs. 1 S. 2, Abs. 3 StVollzG NRW fest (vgl. LT-Drs. NRW 16/5413, S. 110; LT-Drs. NRW 17/ 15234, S. 130) und sieht Arbeit, arbeitstherapeutische Maßnahmen, schulische und berufliche Bildung sowie sonstige Tätigkeiten (Beschäftigung) nach der Regelung in § 29 Abs. 1 S. 1 StVollzG NRW als herausgehobene Behandlungsmaßnahmen an. Gleichzeitig betonen die jüngsten Evaluations- und Reformbestrebungen, wie die Vertreterinnen des Kriminologischen Dienstes und des Ministeriums der Justiz des Landes Nordrhein-Westfalen in der mündlichen Verhandlung ausgeführt haben, die Sicherheit im Justizvollzug, die Stärkung einer familiengerechten Vollzugsgestaltung sowie der individuellen Maßnahmenbehandlung und bezwecken die Vereinheitlichung der Regelungen zur Beschäftigung der Gefangenen (vgl. LT-Drs. NRW 16/5413, S. 79 f.; LT-Drs. NRW 17/ 15234, S. 1 f.).

221 Die Regelungen zur Beschäftigungspflicht nach § 29 Abs. 1 und Abs. 3 StVollzG NRW sowie zur Art und Höhe der Vergütung nach den §§ 32 und 34 StVollzG NRW sind ohne wesentliche neue Erwägungen aus dem vorher geltenden Strafvollzugsgesetz des Bundes übernommen worden (vgl. LT-Drs. NRW 16/5413, S. 110, 114). Allerdings ist in Bezug auf die nicht monetäre Komponente eine Änderung zugunsten der Gefangenen vorgenommen worden. In § 34 Abs. 1 S. 1 StVollzG NRW ist die Anzahl der durch Arbeit zu erzielenden Freistellungstage im Hinblick auf die im Kammerbeschluss aus dem Jahr 2002 geforderte Überprüfung (BVerfG, Beschl. der 3. Kammer des Zweiten Senats des BVerfG v. 24.3.2002 – 2 BvR 2175/01, Rn. 49) von einem Tag für zwei Monate zusammenhängender Arbeit auf zwei Tage für drei Monate zusammenhängender Arbeit und damit um insgesamt zwei Tage pro Jahr erhöht worden (vgl. LT-Drs. NRW 16/5413, S. 116). Demgegenüber sieht § 32 Abs. 5 S. 1 StVollzG NRW – anders als § 195 StVollzG, bei dem es sich um eine „Kann-Regelung“ handelt – vor, dass, soweit Beiträge zur Arbeitslosenversicherung an die Bundesagentur für Arbeit zu entrichten sind, ein Betrag der Vergütung einbehalten werden soll, der dem Anteil eines Arbeitnehmers entspricht. Zwar handelt es sich nicht um eine Pflicht zur Einbehaltung eines Teils der Vergütung. Als Sollvorschrift kommt die Norm aber im Regelfall zum Tragen und schmälert die monetäre Vergütung entsprechend.

222 Soweit mehrere sachkundige Dritte im Rahmen der mündlichen Verhandlung angegeben haben, Arbeit sei eine selbstverständliche Maßnahme im Strafvollzug, die weniger durch die Aussicht auf ein Entgelt als vielmehr durch persönliche Erfahrungen, wie etwa das Erlebnis, an einem Arbeitstag gute Arbeit geleistet und mit Bezugspersonen entsprechend interagiert zu haben, geprägt sei, spricht zwar viel dafür, dass ein positives Arbeitsverhalten die Persönlichkeitsentwicklung und die Vollzugsgestaltung insgesamt bis hin zur Entlassungsprognose des Gefangenen günstig beeinflussen kann. Hierbei handelt es sich aber nicht um Vergünstigungen, die in einem direkten Bezug zu der konkreten Arbeitsleistung eines Gefangenen stehen und als deren Anerkennung im Sinne einer angemessenen Gegenleistung für die geleistete Arbeit bewertet werden können (vgl. BVerfGE 98, 169 [213]).

223 Die Gefangenen sollen zugleich dabei unterstützt werden, für ihre Unterhaltsberechtigten zu sorgen (§ 4 Abs. 3 StVollzG NRW) und den durch ihre Tat verursachten – materiellen und immateriellen – Schaden auszugleichen (§ 7 Abs. 2 S. 3 StVollzG NRW). Ausweislich der Gesetzesbegründung soll sich eine derartige Wiedergutmachung auch auf Entschädigungsleistungen in Geld erstrecken, „die die Gefangenen als Zeichen der Übernahme sozialer Verantwortung aus den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln leisten können und auch sollen. Die Regelung verpflichtet die Anstalt, Gefangene beim Ausgleich des begangenen Unrechts zu unterstützen und auf einen Ausgleich der Folgen der Straftat hinzuwirken“ (vgl. LT-Drs. NRW 16/5413, S. 87). Die Maßnahmen seien „integrativer Bestandteil der Behandlung, um Einsicht in die Tat, Verantwortungsübernahme und Schadenswiedergutmachung als wesentliche Grundvoraussetzungen für eine spätere soziale Integration der Gefangenen zu fördern“ (vgl. LT-Drs. NRW 16/5413, S. 87).

224 Wie bereits zum Resozialisierungskonzept des Freistaats Bayern ausgeführt, ist es auch mit Blick auf den in der mündlichen Verhandlung gewonnenen Gesamteindruck zum finanziellen Handlungsspielraum der Gefangenen angesichts des in der Haft erreichbaren Entgelts für ihre Arbeit widersprüchlich und realitätsfern, dass diese einen so formulierten – für sich genommen wünschenswerten – Behandlungserfolg erzielen und entsprechenden Verpflichtungen nachkommen können.

225 Zusätzlich ist auch im Strafvollzugsgesetz des Landes Nordrhein-Westfalen, wie aufgezeigt (s.o. Rn. 180), festgelegt worden, dass die Gefangenen – in stärkerem Umfang, als dies noch vor der Föderalismusreform I im Strafvollzugsgesetz vorgesehen war – an den Kosten für den Betrieb elektronischer Geräte, für Gesundheitsleistungen oder für Suchtmitteltests beteiligt werden beziehungsweise beteiligt werden können. Erläuterungen dazu, wie die genannten Vollzugsziele angesichts der niedrigen Vergütung für Gefangenenarbeit und der vermehrten Beteiligung der Gefangenen an den Kosten des Vollzugs erreicht werden können, sind der Gesetzesbegründung nicht zu entnehmen (vgl. LT-Drs. NRW 17/15234, S. 133). Insofern ist es – ebenso wie beim Strafvollzugsgesetz des Freistaats Bayern – nicht nachvollziehbar, wie diese unterschiedlichen finanziellen Leistungen von den Gefangenen tatsächlich erbracht werden sollen. Dies macht deutlich, dass auch der Gesetzgeber des Landes Nordrhein-Westfalen kein in sich schlüssiges, realitätsgerechtes Resozialisierungskonzept festgeschrieben hat.

226 bb) Für die Verwirklichung des Grundrechts der Gefangenen auf Resozialisierung nach Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG Wesentliches hat auch der nordrheinwestfälische Gesetzgeber nicht geregelt. Dies betrifft allerdings nur die Regelung zur Kostenbeteiligung der Gefangenen an Gesundheitsleistungen.

227 § 45 Abs. 3 StVollzG NRW regelt ausdrücklich, dass Gefangene angemessen an den Kosten für medizinische Leistungen beteiligt werden können. Dies soll nach der Gesetzesbegründung sicherstellen, dass etwaige sozialgesetzlich geregelte Zuzahlungspflichten gesetzlich Versicherter die Gefangenen grundsätzlich in gleicher Weise treffen, wenngleich die Umstände der Inhaftierung und die „damit zumeist einhergehende beschränkte finanzielle Leistungsfähigkeit“ berücksichtigt werden sollen (vgl. LT-Drs. NRW 16/5413, S. 123 f.). Hierin mag auch eine Erklärung dafür liegen, dass nach den Angaben des Ministeriums der Justiz des Landes Nordrhein-Westfalen zuletzt nur in sehr wenigen Einzelfällen überhaupt Gebrauch von der entsprechenden Möglichkeit zur Kostenbeteiligung gemacht wurde. Gleiches gilt für die angegebene niedrige Zahl der Inanspruchnahme von Kosten für Suchtmitteltests nach § 65 Abs. 3 StVollzG NRW. Bei Erlass des Gesetzes war der Gesetzgeber allerdings von Einsparungen aufgrund der Beteiligung der Gefangenen an den Kosten für medizinische Leistungen, für die Krankenbehandlung während vollzugsöffnender Maßnahmen, für medizinische Behandlungen zur sozialen Eingliederung nach § 48 StVollzG NRW sowie für Maßnahmen zur Feststellung von Suchtmittelkonsum ausgegangen (vgl. LT-Drs. NRW 16/5413, S. 4). Näheres zu den Kriterien und Voraussetzungen, wann und in welchem Umfang Gefangene an den Kosten für medizinische Leistungen im Sinne des § 45 Abs. 3 StVollzG NRW zu beteiligen sind, hat er aber nicht geregelt.

228 Regelungen, wie die Beteiligung der Gefangenen an medizinischen Leistungen, die das Resozialisierungskonzept des Landesgesetzgebers ausgestalten, für die Verwendung der Vergütung bedeutsam und damit für die Gefangenen grundrechtsrelevant sind, muss dieser, wie bereits ausgeführt (s.o. Rn. 158), in einem dem Grundsatz der parlamentarischen Öffentlichkeit genügenden Verfahren (vgl. BVerfGE 116, 69 [91]; 139, 19 [46 Rn. 53]; 150, 1 [96 f. Rn. 192]; BVerfG, Urt. d. Zweiten Senats v. 22.2.2023 –   2 BvE 3/19, Rn. 182) selbst vornehmen.

229 cc) Nach § 123 Abs. 2 StVollzG NRW a.F., der Erstfassung des Strafvollzugsgesetzes Nordrhein-Westfalen, war die Landesregierung verpflichtet, dem Landtag bis zum 31.12.2019 und danach alle fünf Jahre über die mit dem Gesetz gemachten Erfahrungen zu berichten. Zur Umsetzung dieser Verpflichtung hat der nach § 110 StVollzG NRW für die wissenschaftliche Begleitung insbesondere der Behandlungsmethoden des Vollzugs eingerichtete Kriminologische Dienst das Projekt „Evaluation im Strafvollzug (EVA-LiS)“ ins Werk gesetzt (vgl. Kriminologischer Dienst des Landes Nordrhein-Westfalen, Evaluation im Strafvollzug des Landes Nordrhein-Westfalen, Ergebnisbericht zum Stand 31.8.2019, S. 5 f.). Zudem ist es ausweislich der Gesetzesbegründung die Aufgabe des Kriminologischen Dienstes, „die rasche Entwicklung des Vollzuges und seiner Schwerpunkte auch unter Berücksichtigung technischer Neuerungen in einem angemessenen Zeitrahmen“ zu berücksichtigen sowie „die dauernde Fortentwicklung eines modernen, dem normierten Vollzugsziel gerecht werdenden Vollzuges“ zu ermöglichen. Ihm obliegt es, „die Behandlungsmethoden auch unter Beachtung einer Kosten-Nutzen-Relation zu analysieren, auszuwerten und wissenschaftlich zu begleiten“. Diese Aufgaben soll der Kriminologische Dienst „über den Weg einer Zusammenarbeit mit Einrichtungen der Forschung, also etwa Universitäten oder sonstigen Instituten spezifischer Ausrichtung, erfüllen“ (vgl. LT-Drs. NRW 16/5413, S. 180 f.).

230 Nach den Angaben der Vertreterin des Landes Nordrhein-Westfalen in der mündlichen Verhandlung werden im Rahmen des Projekts EVALiS circa 400 Maßnahmen untersucht; die Studie brauche aber Zeit. Es würden unterschiedliche Konzepte zur Umsetzung verschiedener Vollzugsziele und zur Lösung von Vollzugsproblemen erarbeitet. Das Parlament sei über den Fortgang in der Vergangenheit in Berichten informiert worden und werde auch weiterhin auf dem Laufenden gehalten.

231 Die vom Land Nordrhein-Westfalen unternommenen Evaluierungsmaßnahmen im Rahmen des Projekts EVALiS und die Einsetzung eines Kriminologischen Dienstes, der Maßnahmen im Vollzug insbesondere in Zusammenarbeit mit Forschungseinrichtungen kontinuierlich wissenschaftlich begleitet und evaluiert (vgl. LT-Drs. NRW 17/15234, S. 123 f.), sind grundsätzlich geeignet, der verfassungsrechtlichen Verpflichtung zur Erfassung eines etwaigen Anpassungsbedarfs des gewählten Resozialisierungskonzepts an veränderte tatsächliche Bedingungen oder eine neue wissenschaftliche Erkenntnislage gerecht zu werden und das gesetzgeberische Konzept mit der Verfassung im Einklang zu halten.

232 Im Rahmen der Evaluierungs- und Beobachtungsmaßnahmen ist aber, wie auch die Vertreterin des Landes Nordrhein-Westfalen eingeräumt hat, bisher keine nähergehen- de Untersuchung oder Begleitung der Auswirkungen von Arbeit im Vollzug und deren Vergütung vorgenommen worden. Im Hinblick auf die verfassungsrechtlich wie tatsächlich besondere Bedeutung von Arbeit und deren angemessener Vergütung im Vollzug sowie angesichts der bereits vor dem Inkrafttreten des nordrheinwestfälischen Strafvollzugsgesetzes formulierten Aufforderung des Bundesverfassungsgerichts, die Bezugsgröße des monetären und den Umfang des nicht monetären Teils der Vergütung einer ständigen Prüfung zu unterziehen (vgl. BVerfG, Beschl. d. 3. Kammer des Zweiten Senats vom 24.3.2002 – 2 BvR 2175/01, Rn. 42, 49), wird dies den Anforderungen des Resozialisierungsgebots nicht gerecht.

233 c) Sowohl der bayerische als auch der nordrheinwestfälische Gesetzgeber haben bei der Ausgestaltung ihres Resozialisierungskonzepts in Bezug auf die Gefangenenarbeit und deren Vergütung das verfassungsrechtliche Resozialisierungsgebot und den darauf bezogenen grundrechtlichen Gesetzesvorbehalt nicht hinreichend beachtet. Dadurch sind der Beschwerdeführer zu I. und der Beschwerdeführer zu II. jeweils in ihrem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG verletzt.

C.

I.

234 1. Die in das jeweilige Resozialisierungskonzept eingebetteten Art. 46 Abs. 2, Abs. 3 und Abs. 6 BayStVollzG beziehungsweise § 32 Abs. 1 und Abs. 4, § 34 Abs. 1 StVollzG NRW sind unvereinbar mit dem Resozialisierungsgebot aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG. Die Vorschriften bleiben bis zu einer gesetzlichen Neuregelung, längstens bis zum 30.6.2025, weiter anwendbar.

235 a) Das BverfGG bestimmt als Rechtsfolge der Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes nicht ausnahmslos dessen Nichtigkeit (§ 95 Abs. 3 S. 1 BVerfGG); es lässt auch die Erklärung der bloßen Unvereinbarkeit mit dem Grundgesetz zu (§ 31 Abs. 2 S. 3 BVerfGG). Die Erklärung der Unvereinbarkeit, verbunden mit der Anordnung befristeter Fortgeltung der verfassungswidrigen Regelung, kommt in Betracht, wenn die sofortige Ungültigkeit der zu beanstandenden Norm dem Schutz überragender Güter des Gemeinwohls oder grundrechtlich geschützter Belange des Betroffenen selbst oder Dritter die Grundlage entziehen würde und eine Abwägung mit den betroffenen Grundrechten ergibt, dass der Eingriff für eine Übergangszeit hinzunehmen ist (vgl. BVerfGE 85, 386 [400 f.]; 141, 220 [351 Rn. 355]; 149, 293 [341 f. Rn. 119]; BVerfG, Urt. d. Ersten Senats v. 16.2.2023 – 1 BvR 1547/19, 1 BvR 2634/20, Rn. 174 – Automatisierte Datenanalyse). Eine Unvereinbarkeitserklärung kommt zudem dann in Betracht, wenn der Gesetzgeber verschiedene Möglichkeiten hat, den Verfassungsverstoß zu beseitigen (vgl. BVerfGE 99, 280 [298]; 105, 73 [133]; 107, 27 [58]; 117, 1 [69]; 120, 125 [167]; 160, 41 [77 f Rn. 90] – Privilegierung von Gewinneinkünften; stRspr).

236  b) Danach sind Art. 46 Abs. 2, Abs. 3 und Abs. 6 BayStVollzG sowie § 32 Abs. 1 und Abs. 4, § 34 Abs. 1 StVollzG NRW für mit der Verfassung unvereinbar zu erklären. Die Unvereinbarkeitserklärung ist mit der Anordnung ihrer vorübergehenden Fortgeltung bis zu einer Neuregelung, längstens jedoch bis zum 30.6.2025, zu verbinden. Damit wird sichergestellt, dass bis zu einer den verfassungsrechtlichen Vorgaben entsprechenden Neuregelung eine Rechtsgrundlage für die Gewährung einer Vergütung für Gefangenenarbeit zur Verfügung steht, um einen Zustand zu vermeiden, in dem aufgrund der Nichtigerklärung der Normen keine gesetzliche Verpflichtung zur Vergütung von Gefangenenarbeit mehr besteht. In diesem Fall würde in das Grundrecht auf Resozialisierung noch stärker eingegriffen als im Fall der Fortgeltung der verfassungswidrigen Vorschriften bis zu einer Neuregelung, deren Vorbereitung erwartungsgemäß einige Zeit in Anspruch nehmen wird. Zudem kommt dem Gesetzgeber ein Gestaltungs- und Entscheidungsspielraum in Bezug auf die zu treffende Neuregelung zu, der ihm verschiedene Regelungsmöglichkeiten eröffnet.

237 2. Art. 46 Abs. 2, Abs. 3 und Abs. 6 BayStVollzG sowie § 32 Abs. 1 und Abs. 4, § 34 Abs. 1 StVollzG NRW sind insgesamt für unvereinbar mit dem Grundgesetz zu erklären.

238 a) Die Unvereinbarkeit einer oder mehrerer Bestimmungen eines Gesetzes bewirkt zwar grundsätzlich nicht die Unvereinbarkeit des gesamten Gesetzes oder der ganzen Vorschrift mit dem Grundgesetz (vgl. BVerfGE 8, 274 [301]; 57, 295 [334]; stRspr). Etwas anderes gilt aber etwa dann, wenn verfassungswidrige Vorschriften Teil einer Gesamtregelung sind, wobei der nicht den Gegenstand des Verfahrens bildende Normteil mit dem für unvereinbar erklärten Normgefüge so verflochten ist, dass beide eine untrennbare Einheit bilden, die nicht in ihre einzelnen Bestandteile zerlegt werden kann (vgl. BVerfGE 65, 325 [358]; 108, 1 [33]), oder wenn Regelungen auf einem einheitlichen gesetzgeberischen Konzept beruhen (vgl. BVerfGE 111, 226 [273]; 138, 136 [248 f. Rn. 283]). Nach dem schon in § 139 BGB enthaltenen Rechtsgedanken kann sich die Feststellung nur dann auf die Unvereinbarkeit eines Teils der Norm beschränken, wenn es keinem Zweifel unterliegt, dass der Gesetzgeber die sonstige gesetzliche Regelung auch ohne den verfassungswidrigen Teil aufrechterhalten hätte (vgl. BVerfGE 4, 219 [250]; 158, 282 [382 f. Rn. 247] – Vollverzinsung).

239 b) Hier sind die verfassungswidrigen Normen Teil einer Gesamtregelung, deren Bestandteile untrennbar miteinander verbunden sind. Dies folgt bereits daraus, dass der Zweite Senat in seinem Urteil vom 1.7.1998 (BVerfGE 98, 169 ff.) festgestellt hat, dass die angemessene Anerkennung von Arbeit im Rahmen des vom Gesetzgeber zu bestimmenden Resozialisierungskonzepts aus einem monetären und einem nicht monetären Teil bestehen kann, so dass vom Gesetzgeber entsprechend getroffene Regelungen – wie vorliegend – lediglich in ihrer Gesamtheit und im Gefüge des Resozialisierungskonzepts einer verfassungsrechtlichen Kontrolle zugänglich sind und die geforderten Beobachtungs- und Nachbesserungspflichten sich nur auf beide Komponenten beziehen können. Die Landesgesetzgeber erhalten zudem Gelegenheit, zu prüfen und zu entscheiden, in welcher Weise das gesetzliche Resozialisierungskonzept mit den Anforderungen der Verfassung in Bezug auf Gefangenenarbeit und ihre angemessene Vergütung in Einklang gebracht werden soll.

240 3. Die Gründe, die zur Verfassungswidrigkeit der § 32 Abs. 1 und Abs. 4, § 34 Abs. 1 StVollzG NRW in der zur Prüfung gestellten Fassung führen, treffen auch auf die nunmehr gültige Fassung zu, die die Vorschriften durch Art. 1 des Gesetzes vom 13.4.2022 (GV NRW S. 543) erhalten haben.

241 Das Gesetz zur Novellierung der nordrheinwestfälischen Landesjustizvollzugsgesetze vom 13.4.2022 nimmt vor dem Hintergrund der bisherigen Erfahrungen im praktischen Umgang mit den Rechtsnormen und der durch EVALiS gewonnenen Erkenntnisse Anpassungen vor und regelt zudem den Vollzug des Strafarrestes (vgl. LT-Drs. NRW 17/ 15234, S. 1 f.). Durch die Änderungen, die sich auf die Regelungen zur Beschäftigung der Gefangenen beziehen, erfolgt lediglich eine inhaltliche und vor allem sprachliche Vereinheitlichung der Landesjustizvollzugsgesetze (vgl. LT-Drs. NRW 17/15234, S. 125, 132). Im Zuge der sprachlichen Vereinheitlichung wird in § 32 StVollzG NRW der Begriff der Arbeit durch den Oberbegriff der Beschäftigung ersetzt, der neben Arbeit auch arbeitstherapeutische Maßnahmen, schulische und berufliche Bildung sowie sonstige Tätigkeiten umfasst. Zudem wird die „sonstige Tätigkeit“ in Anlehnung an die Vergütung in arbeitstherapeutischen Maßnahmen in die Vergütungsstruktur nach § 32 Abs. 3 StVollzG NRW integriert. Inhaltliche Ergänzungen erfolgen durch die Sätze 2 und 3 in Absatz 5. Nach der Neufassung des § 32 Abs. 5 StVollzG NRW wird von teilnehmenden Gefangenen an arbeitstherapeutischen Maßnahmen bis zum Erreichen der sogenannten „Werkphase“ kein Arbeitnehmerbeitrag zur Arbeitslosenversicherung einbehalten, um eine Angleichung an die von der Bundesagentur für Arbeit angebotenen Maßnahmen zu erreichen (vgl. LT-Drs. NRW  17/15234, S. 132).  Neben ebenfalls klarstellenden Anpassungen enthält die neue Fassung der Absätze 2 und 3 des § 34 StVollzG NRW in Abs. 2 Nr. 6 eine Ergänzung für Fälle der Übertragung der Vollstreckung einer Freiheits- strafe auf einen anderen Staat mit Überstellung ins Ausland. Absatz 4 S. 1 stellt klar, dass die Vorschriften der Absätze 1 bis 3 auf Gefangene, die an arbeitstherapeutischen Maßnahmen teilnehmen oder eine sonstige Tätigkeit ausüben, nicht anwendbar ist (vgl. LT-Drs. NRW 17/15234, S. 133).

242 Hinsichtlich der beanstandeten und für mit dem Grundgesetz unvereinbar erklärten Teile der Vorschriften haben sich in der nunmehr gültigen Fassung keine inhaltlichen Änderungen ergeben, die eine andere verfassungsrechtliche Bewertung erforderten. Die Verletzung der Verpflichtung des Gesetzgebers zur Erstellung eines in sich schlüssigen, widerspruchsfreien Resozialisierungskonzepts, insbesondere bezüglich der Gefangenenarbeit und ihrer Vergütung, besteht weiterhin. Die Unvereinbarkeitserklärung ist deshalb gemäß § 78 S. 2 i.V.m. § 82 Abs. 1 BVerfGG im Interesse der Rechtsklarheit auf die genannten Vorschriften in der Fassung vom 13.4.2022 zu erstrecken (vgl. BVerfGE 94, 241 [65]; 104, 126 [150]; 132, 179 [192 Rn. 41]; 141, 143 [181 Rn. 87]).

243 4. Die Landesgesetzgeber sind nicht verpflichtet, rückwirkend eine verfassungsgemäße Regelung der Vergütung der Gefangenenarbeit zu schaffen.

244 a) Grundsätzlich erstreckt sich die Verpflichtung des Gesetzgebers, eine der Verfassung entsprechende Rechtslage herzustellen, rückwirkend auf den gesamten von der Unvereinbarkeitserklärung betroffenen Zeitraum und erfasst so zumindest alle noch nicht bestandskräftigen Entscheidungen, die auf der für verfassungswidrig erklärten Regelung beruhen (vgl. BVerfGE 133, 377 [423 Rn. 108 m.w.N.]; 158, 282 [383 Rn. 250]). Die Notwendigkeit einer verlässlichen Finanz- und Haushaltsplanung und -wirtschaft kann es aber gebieten, von der Verpflichtung zu einer rückwirkenden Neuregelung abzusehen (vgl. BVerfGE 72, 330 [422]; 87, 153 [178 ff.]; 93, 121 [148]; 105, 73 [134]; 111, 191 [224 f.]; 117, 1 [70]; 145, 171 [229 Rn. 162]; 158, 282 [384 Rn. 251]), es sei denn, der Gesetzgeber durfte sich wegen von Anfang an bestehender verfassungsrechtlicher Unsicherheiten auf seine Finanz- und Haushaltsplanung nicht verlassen (vgl. BVerfGE 145, 171 [229 Rn. 162]).

245 b) Die Verpflichtung der Landesgesetzgeber zu einer rückwirkenden Neuregelung würde zu erheblichen haushaltswirtschaftlichen Unsicherheiten führen. Zum einen steht den Gesetzgebern der Weg zu einer Neukonzeption der Gefangenenarbeit und deren Vergütung im Rahmen eines schlüssigen Resozialisierungskonzepts offen, so dass deren Auswirkung auf Zusammensetzung und Höhe der Vergütung noch nicht absehbar ist. Zum anderen steht auch der Gesichtspunkt einer verlässlichen, in ihren Wirkungen kalkulierbaren Finanz-, Ausgaben- und Haushaltsplanung und -wirtschaft einer solchen Verpflichtung entgegen. Müssten für die Arbeitsleistung von Gefangenen in einer Vielzahl von Fällen für einen langen Zeitraum Nachzahlungen geleistet werden, so würde in bereits abgeschlossene Perioden des Haushaltsvollzugs erheblich eingegriffen, und zwar zulasten künftiger Haushalte.

246 Gründe, weshalb sich die Landesgesetzgeber nicht auf ihre die Gefangenenvergütung betreffende Finanz-, Ausgaben- und Haushaltsplanung hätten verlassen dürfen (vgl. BVerfGE 145, 171 [229 Rn. 162]), sind angesichts des zur bundesrechtlichen Regelung ergangenen Beschlusses der 3. Kammerdes Zweiten Senats vom 24.3.2002 – 2 BvR 2175/01 jedenfalls nicht offensichtlich. Zudem war die Verfassungsrechtslage in Bezug auf die nunmehr formulierten verfassungsrechtlichen Maßstäbe zur Erstellung eines in seiner Gesamtheit schlüssigen Resozialisierungskonzepts und den daraus folgenden Beobachtungs- und Nachbesserungspflichten des Gesetzgebers noch nicht hinreichend geklärt (vgl. BVerfGE 120, 125 [167 f.]).

[…]

 

 

 

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