Johannes Makepeace: Der Polygraf als Entlastungsbeweis

von Prof. Dr. Anja Schiemann

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2023, Verlag Mohr Siebeck, ISBN: 978-3-16-161813-0, S. 203, Euro 74.

Der Einsatz des Polygrafen als Entlastungsbeweis gehört zu einer der umstrittensten Fragen sowohl unter Psychologen als auch Juristen. Während der BGH in Strafsachen dem Polygrafen jeglichen Beweiswert abspricht, kommt er gerade bei familiengerichtlichen Verfahren durchaus zum Einsatz. Makepeace weist einleitend auf die Sexualstrafrechtsreform hin, durch die es in der Folge zu vermehrten Verurteilungen kam. Auch wenn dies nicht unbedingt auf Aussage-gegen-Aussage-Konstellationen zurückzuführen sei, so führe doch die Beweiserleichterung zu einer höheren Erfolgswahrscheinlichkeit der Strafanzeige, die auch das Risiko von Falschbeschuldigungen erhöhe (S. 4). Insofern verschärfe das neue Sexualstrafrecht das Problem der Aussage-gegen-Aussage-Konstellationen, in denen außer den Aussagen keine anderen unabhängigen, unmittelbar tatbezogenen Beweismittel verfügbar sind. Allerdings hielten es Richter in solchen Konstellationen in der Regel nicht für erforderlich, sachverständige Glaubhaftigkeitsbegutachtungen in Auftrag zu geben, sondern trauten sich eine eigene Einschätzung zu (S. 9). Eine große Zahl empirischer Studien hätten aber bewiesen, dass sich Aussagebeurteiler maßlos überschätzen, sofern sie sich auf ihre Intuition und Erfahrung verlassen. Auch wenn man ein Gutachten in Auftrag gäbe, seien diese einer Studie von Busse/Volbert zufolge nur in 50% de lege artis. Dennoch gäbe es empirische Untersuchungen, dass die Gerichte den Gutachtern je nach Studie zwischen 89 und 100 % Folge leisteten.

Vor diesem Hintergrund wird sich im zweiten Kapitel der aussagepsychologischen Begutachtung inhaltlich zugewandt. Zunächst wird die Glaubhaftigkeit von der Glaubwürdigkeit abgegrenzt und in die hypothesengeleitete Diagnostik eingeführt. Ausgehend von der sog. Nullhypothese wird zunächst darauf abgestellt, dass der vorgetragene Sachverhalt unwahr ist. Diese Hypothese wird so lange aufrechterhalten, bis alle in Betracht kommenden Subhypothesen verworfen worden sind. Dies heißt nicht automatisch, dass die Aussage wahr ist, sie lässt sich nur nicht anhand der aussagepsychologischen Begutachtung mit Sicherheit ausschließen. Der Ausschluss verschiedener potentieller Quellen einer unwahren Aussage erfolgt anhand unterschiedlicher diagnostischer Methoden. Die auf Undeutsch zurückzuführende Grundannahme besagt zunächst, dass subjektiv wahrheitsgemäße Aussagen sich in ihrer Qualität von bewusst wahrheitswidrigen Aussagen unterscheiden – es sei um einiges leichter, die Wahrheit zu sagen, als zu lügen. Insofern gilt es, die qualitativen Unterschiede anhand von Realkennzeichen der kriterienorientierten Aussageanalyse festzustellen. Diese Realkennzeichen benennt und beschreibt Makepeace sehr knapp, aber präzise. Danach weist er auf die Suggestionsanfälligkeit von Aussagen hin. Die Gefahr daran sei, dass sich diese nicht zwingend von auf eigenem Erleben beruhenden Aussagen unterschieden, da die beeinflusste Person von der Richtigkeit ihrer Aussage überzeugt sei. An dieser Stelle hätte man sich ebenso wie zu den Realkennzeichen ein wenig mehr Ausführungen erhofft.

Schließlich werden die Grenzen der kriterienorientierten Aussageanalyse aufgezeigt. Diese bestünden dann, wenn kein ausreichendes Analysematerial vorhanden sei, die Lügenden entsprechend „gecoacht“ seien oder dem Verletzten zuvor Akteneinsicht gewährt worden sei.

Nach diesem kurzen Einblick in die Grundzüge der Aussagepsychologie wird im 3. Kapitel die Frage nach dem Beweiswert aussagepsychologischer Begutachtung nachgegangen. Dieses Kapitel bietet eine Fülle an Studien, die ein ernüchterndes Bild der Zuverlässigkeit aussagepsychologischer Begutachtungen zeichnen. Die zusammenfassende Kritik von Makepeace ist berechtigt und nach Aufzeigen der Defizite zwingend. Gleichwohl bescheinigt er, dass die Methode „immerhin besser als die Münze“ (S. 85) sei – ein wahrlich schwacher Trost.

Ob der Einsatz des Polygrafen Abhilfe schaffen kann, beleuchtet das 4. Kapitel. Dabei wird zunächst das Urteil des BGH aus dem Jahr 1998 (BGHSt 44, 308) wiedergegeben, dass die polygrafengestützte Glaubhaftigkeitsbegutachtung als völlig ungeeignetes Beweismittel einstufte. Anschließend wird das Verfahren sowie der aussagepsychologische Begutachtungsprozess rund um den Einsatz des Polygrafen beschrieben. Betont wird insbesondere, dass es sich bei der sachverständigen Glaubhaftigkeitsbegutachtung mithilfe eines Polygrafen um einen komplexen Gesamtprozess handelt (S. 96).

Die Methoden polygrafengestützter Glaubhaftigkeitsbegutachtungen werden in einem weiteren Unterkapitel beschrieben, insbesondere der Vergleichsfragenmethode wird breiterer Raum gegeben (S. 100 ff.). Dagegen wird der Tatwissenstest (vorschnell) aus Inpraktikabilitätsgründen verworfen. Dabei ist ein Tatwissenstest insbesondere in einem frühen Ermittlungsstadium durchaus geeignet, belastbare Erkenntnisse zu generieren. Das sieht zwar auch Makepeace (S. 111), fokussiert dann aber doch recht schnell allein auf die Aussage-gegen-Aussage-Konstellationen. Dies ist zwar konsequent, wenn man an die einleitenden Worte denkt, verkürzt aber dennoch den umfassenden Blick auf den Polygrafen und seine Möglichkeiten.

In einem nächsten Schritt wird zum Vorwurf der Manipulierbarkeit Stellung genommen und hier insbesondere Kritik daran geübt, dass auch bei den herkömmlichen Methoden der Glaubhaftigkeitsbeurteilung Manipulierbarkeit nie ausgeschlossen ist und sie dennoch zur Anwendung kommen.

In Kapitel 5 wird unter dem Titel „Zahlen lügen nicht“ dazu Stellung genommen, dass der Polygraf entgegen der Behauptung des BGH doch kein völlig ungeeignetes Beweismittel ist (S. 114). Hier untersucht der Verfasser diverse Studien, um zu konstatieren, dass der Polygraf alles andere als ein völlig ungeeignetes Beweismittel ist (S. 138 ff.). Zwar biete der Polygraf keine 100 %ige Sicherheit, jedoch gelte dies für fast alle anderen Beweismittel und Indizien. Der Beweis- und damit Mehrwert einer Methode bestimme sich nicht danach, ob im Einzelfall Fehlentscheidungen möglich seien oder nicht, sondern danach, ob die Fehlerquote möglichst geringgehalten werden könne (S. 141).

Dem Polygrafen im Strafverfahren wird das 6. Kapitel gewidmet. Zunächst wird festgestellt, dass eine polygrafengestützte Begutachtung nur mit dem Willen des Probanden möglich ist. Hinsichtlich der Begutachtung des Beschuldigten stellt Makepeace fest, dass nur ein entlastendes Ergebnis verwertbar ist. Auch beim Zeugen bestünde keine Begutachtungspflicht und bei einer verweigerten Glaubhaftigkeitsbegutachtung dürfe dies nicht zu seinen Lasten gewertet werden. Allerdings könne dies zugunsten des Angeklagten gewertet werden (S. 169).

In Kapitel 7 folgen statistische abschließende Überlegungen, die aber wiederum sehr kurz ausfallen. Der Blick in die Zukunft in Kapitel 8 bietet neben einer kurzen Zusammenfassung unter „Zukunftsmusik“ auch noch einen kurzen Exkurs auf bildgebende Verfahren wie der funktionellen Magnetresonanztomografie (S. 179 ff.). Auch bei diesem Ausblick setzt sich das fort, was über die ganze Arbeit hinweg ein wenig zu kritisieren ist – die minimalistischen Ausführungen, die durchaus noch viel Spielraum nach oben gelassen haben.

Was die Arbeit dennoch auszeichnet, ist der interdisziplinäre Blick und gerade auch die dezidierte Auseinandersetzung mit diversen Studien rund um den Polygrafen. Die Antwort, ob der Polygraf zum Einsatz kommen soll oder nicht, bleibt etwas kryptisch, jedenfalls bescheinigt Makepeaceder Methode einen Mehrwert (S. 182). Dieses Ergebnis hätte mehr überzeugt, wenn es noch etwas ausführlicher hergeleitet worden wäre; so hat man das Gefühl, dass viele Facetten zwar angerissen, aber nicht weiter vertieft worden sind.

Dennoch, gerade dem Juristen bietet die Auseinandersetzung mit den aussagepsychologischen Grundzügen und Studien genug Stoff, um über die Standards des wissenschaftlichen Sachverständigenbeweises intensiver nachzudenken. Letztlich tut vor Gericht vor allem eins Not: das interdisziplinäre Denken und der entsprechende Austausch, um den komplexen Lebenssachverhalten ausreichend Rechnung zu tragen.

 

 

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