Eva Kiel: Risiko als Konstruktion. Studien zu einer interdisziplinären Risikodogmatik im Strafrecht

von Prof. Dr. Anja Schiemann 

Beitrag als PDF Version 

2024, Verlag Nomos, ISBN: 978-3-7560-1184-1, S. 433, Euro 129,00

Was hat das Strafrecht mit dem Konstruktivismus zu tun? Alles, möchte man antworten und ist erstaunt, dass erst die Habilitationsschrift von Kieleinen erkenntnistheoretischen Zugang über den Konstruktivismus zum heutigen Risikostrafrecht sucht. Erklärtes Ziel der Studie ist dann schon auf S. 19, „über die Erschließung von Argumentationsräumen neue Ansätze für die Lösung von Einzelfragen anzubieten, um auf diese Weise einen Beitrag zur Vermessung eindeutiger Strafbarkeitsgrenzen in einem durchlässigen Risikostrafrecht zu leisten“.

In Kapitel 1 werden hierfür die wissenschafts- und straftheoretischen Grundlagen geschaffen. Die Theorie einer interdisziplinären Risikodogmatik im Strafrecht sei zugleich eine Metatheorie des Risikos (S. 66). Strafrechtsdogmatische Konstruktionen folgten der rechtstheoretisch fundierten und straftheoretisch ausgeformten Analytik der Theorie. Dabei seien strafrechtsdogmatische Theorien an die Funktion des Strafrechts gebunden, die sich wiederum aus der Funktion speise, die das Rechtssystem im Gesamtsystem Gesellschaft einnehme. Ihre Vermessung sei für eine Formierung der Systemgrenzen im Referenzpunkt strafrechtsdogmatischer Theorien obligatorisch. Das Strafrecht diene dem Erhalt der Normgeltung als Erfahrung, wobei ein kollektives Interesse an der künftigen Bedeutung der rechtsnormativen Erfahrung bestünde. Dabei manifestiere sich in der Strafbegründungsschuld die intersystemische Schnittstelle zwischen Subjekt und Strafrechtsperson als strukturelle Kopplung zwischen Bewusstsein und Kommunikation über den medialen Sprachcode. Erst als Strafzumessungsschuld werde strafrechtliche Schuld Teil der in den einzelnen Strafakten gesetzten Zwecke. Da ihr konstruktiver Rahmen über das Verhältnis von Dekonstruktion und Rekonstruktion des Erfahrungswertes bestimmt werde, unterliege die Intensität des Übels stets einer Determination durch die Intensität des Dekonstruktionsaktes.

Die Grundlegung einer strafrechtlichen Risikodogmatik erfolgt auf über 100 Seiten in Kapitel 2. Strafrechtsdogmatisch müsse immer an den Verstoß gegen eine strafbewehrte Verhaltensnorm angeknüpft werden. Da Verhaltensnormen immer auf einen Wirklichkeitsbereich hin ausgerichtet sein müssten, bezögen sie sich auf die Ex-ante-Möglichkeit einer Beeinträchtigung des von der Sanktionsnorm in Bezug genommenen Rechtsguts. Über die dogmatische Struktur der objektiven Zurechnung im weiteren Sinne gelange die metadisziplinäre Form des Risikos zur Entfaltung. Über die Formdifferenz der Ermöglichungsbedingungen  im Medium  Zeit könne  mittels  der objektiven Zurechnung im weiteren Sinne als multifaktorielle relatio relationis die strafbewehrte Verhaltensnorm bestimmt werden.

Die Verfasserin zeigt auf, dass dogmatische Rekonstruktionen subjektiver Risikoperzeption an die epistemologischen Grenzen des Strafrechts stießen. Eine gesellschaftsexterne strukturelle Kopplung über den Relationsfaktor Risikoperzeption erlaube jedoch die Verarbeitung neurophysiologischer, neuro- bzw. kognitions- und sozialpsychologischer Erkenntnisse über die theoretische Form bewusstseinsmodaler Risikokonstruktionen. Zum Dreh- und Angelpunkt koevolutiver Risikoforschung avanciere das Medium der Wahrscheinlichkeit. Dieser Befund sei für das Strafrecht bedeutsam, da der epistemologische Wert der Schadenseintrittswahrscheinlichkeit nicht direkt der (statistischen) Quantifikation, sondern dem Bezug zur Rechtsperson folge. Der Relationsfaktor Schadenseintrittswahrscheinlichkeit gehe mithin als quantitativer Prädikator über seine Formdifferenz in der Bedeutungsdimension und damit im strafrechtsdogmatischen Relationsfaktor Risikoperzeption auf.

Die Erkenntnisse des dritten Kapitels komplettieren die Konstruktion des qualifizierten Risikos, indem sie der objektiven Zurechnung im weiteren Sinne beim Vorsatzdelikt die Formen der Wahrnehmung und Wahrscheinlichkeitsmodellierung und beim Fahrlässigkeitsdelikt die Form der Wahrnehmung an die Seite stellen. Von den Möglichkeitstheorien unterscheidet sich die Konzeption Kiels insoweit, als die bloße Möglichkeitsvorstellung nicht als ausreichend angesehen wird. Vielmehr könnten inhibierende Kausalfaktoren die Modellierung einer Wahrscheinlichkeit P(E)>0 stören. Eine Ausdehnung der Vorsatzbestrafung in den Bereich der bewussten Fahrlässigkeit sei vor diesem Hintergrund nicht zu befürchten.

Über die Form der Wahrscheinlichkeitsmodellierung lasse sich zugleich das psychische Substrat des Versuchs abbilden und sich dieser als Durchgangsstadium der Vollendung bezeichnen. Setze der Täter eine negationstaugliche Bedingung, so dokumentiere er auf diese Weise die Nichtanerkennung der von der strafbewehrten Verhaltensnorm in Bezug genommenen personalen Entfaltungsbedingungen. Das Vertrauen der übrigen Normadressaten in die Geltung der Norm werde erschüttert. Stehe die Ratio des strafbefreienden Rücktritts in einem Begründungszusammenhang zum Strafgrund des Versuchs, dann müsse die Wahrscheinlichkeitsmodellierung auch die Umsetzung der im Internum des Bewusstseins revozierten Entscheidung gegen das Rechtsgut abzubilden imstande sein. Die eine (Beendigungs-)Seite der Form bezeichne die Konstruktion eines hinreichenden Bedingungszusammenhangs zwischen den ontischen Realisationen des unsicherheitsrelevanten Datums und Ex-ante-Erfolgsereignis durch den Täter.

Im Vergleich zum Vorsatztäter operiere der Fahrlässigkeitstäter auf einer weniger komplexen Ebene kognitiver Kontingenzregulation. Kiel vertritt einen modifizierten komplexen Fahrlässigkeitsbegriff, wonach die über die Form der Wahrnehmung bezeichneten Operationen des Bewusstseins auf der Ebene des Verhaltensunrechts und allein die für die normative Ansprechbarkeit relevanten Operationen auf der Ebene der Schuld verortet sind.

Erkenntnis sei von vornherein allein über eine Rekonstruktion bewusstseinsmodaler Vorgänge möglich. Sie ließen sich jedoch nicht direkt aus der strafrechtlichen Binnenperspektive, sondern erst über eine strukturelle Kopplung zum Wissenschaftssystem der Psychologie beobachten. Hier könnten der Stimulus-, der Aufmerksamkeits- und der Erfahrungsindikator sowie der heuristische Indikator extrahiert und zur Konturierung der Formen Wahrnehmung und Wahrscheinlichkeitsmodellierung herangezogen werden.

Überführt werden diese Überlegungen sodann in Kapitel 4. Über eine strukturelle Kopplung zur Logik als Teilbereich des philosophischen Wissenschaftssystems einerseits und zu den empirischen Wissenschaften andererseits wird eine Dogmatik der objektiven Zurechnung im engeren Sinne entwickelt, die die Verfasserin als kausalitätskonkretisierende Risikoerhöhungslehre bezeichnet. Über die Formalstruktur der Prima-facie-Ursache lasse sich auf diese Weise die hinreichende Mindestbedingung bestimmen und könnten die maßgebenden ontischen Realisationen bzw. ihre stabilisierenden Negationen als deren notwendige Bestandteile ausgewiesen werden. Die ontischen Realisationen bzw. ihre stabilisierenden Negationen seien notwendige Bestandteile einer hinreichenden Mindestbedingung, wenn ihr Herausstreichen aus der Kausalerklärung die Wahrscheinlichkeit für den Eintritt des Ex-post-Erfolgsereignisses reduziere.

Die Verfasserin fokussiert immer wieder auf den maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt, der über eine generalisierende Betrachtung vom Standpunkt eines durchschnittlich konstituierten Beobachters zu bestimmen sei. Er bestimme sich formal über die Reaktionszeit zuzüglich der Zeit, die für die (motorische) Umsetzung des potenziell rettenden Verhaltens benötigt werde, welches schnellstmöglich realisierbar und erfolgsversprechend sei. Dabei könne die von der nomologischen Basis des perzipierenden Beobachters dependente ontologische Basis zu Verschiebungen dieses formalen Beurteilungspunktes führen. Erkenntnisse zu dieser nomologischen Basis könnten über den Mechanismus struktureller Kopplung zum Wissenschaftssystem der Psychologie aus einer Dimension sinnesbezogener Wahrnehmung gewonnen werden.

In Kapitel 5 „Explikationen“ werden die abstrakten Erkenntnisse einem Praxistest unterzogen. Es bleibt die Feststellung, dass die Risikogesellschaft das Strafrecht an seine eigenen Systemgrenzen zwingt und zu einer Berücksichtigung extrajuridischer Erkenntnisse leitet. Dabei sucht die Verfasserin nicht nur nach philosophischen Ideengebäuden, sondern auch nach psychologischen Grundstrukturen, die sie fruchtbar machen möchte. Als tauglich erwiesen hat sich ihrer Meinung nach eine Konzeptualisierung ausgehend von einer Fremdbeobachtung aus der Perspektive der soziologischen Systemtheorie. Ihre radikal konstruktivistische Sicht weise Systeme als autopoietische und selbstreferenziell operierende Einheiten aus.

Risiken bänden als Konstruktion einzelner beobachtender Entitäten unterschiedliche Erfahrungen zur Kontingenz, weshalb sie immer auch divergierende Wirklichkeitsbereiche modellierten. Psychologische Risikokonstruktionen erlaubten eine Beobachtung der Schnittstelle von sensorischer Perzeption, Erfahrung und Erwartung als kognitive Operation des Subjekts. Sehe sich das Strafrecht mit der Rekonstruktion systemexterner Konstruktionen konfrontiert, so ließen sich über eine strukturelle Kopplung zum unmittelbar beobachtenden System oftmals praxistauglichere Lösungen generieren als über eine ausgreifende Normativierung. Ein Strafrecht, dass sich der zunehmenden Komplexität unsicherheitsrelevanter Daten über eine normative Abschottung verschließe, habe dem Anachronismus-Einwand letztlich wenig entgegenzusetzen. Das Risiko als originäre Erkenntnisquelle müsse genutzt werden, indem seine Strukturen exploriert und die Wirklichkeiten, wie sie aus der je eigenen Perspektive der einzelnen beobachtenden Entitäten modelliert werden, für strafrechtliche Konstruktion operabel gemacht werden. Hier böte sich sowohl die weitergehende Ausdifferenzierung einer Dimension sinnesbezogener Wahrnehmung in spezifische Aktionsbereiche hinein als auch die Aufschlüsselung komplexer mathematischer Wahrscheinlichkeitsmodellierungen an.

Der Titel der Habilitationsschrift von Kiel hält, was er verspricht. Es wird ein interdisziplinärer (Ein-)Blick in die Risikodogmatik gegeben, wobei die akribische Auswertung der Literatur sich nicht nur aus den dezidierten Fußnoten, sondern auch dem umfangreichen, vielfältigen Literaturverzeichnis ergibt. Es wird ein konstruktivistischer Ansatz gewählt, auch wenn, um den Titel eines Interviews mit von Foerster zu bemühen, Wahrheit die Erfindung eines Lügners ist. Wieviel Wahrheit ist also möglich, wenn man verschiedene eigene Perspektiven unterschiedlicher Beobachter wählt? Näher als das Risiko in Wahrscheinlichkeiten zu messen, wird man der Wahrheit in einem sich dieser annähernden Sinne nicht kommen. Aber das verlangt das Strafrecht auch gar nicht. Wichtig ist, klassische Konstruktionen im Strafrecht nicht per se als gegeben hinzunehmen, sondern stets kritisch zu hinterfragen. Ansätze können dabei vielfältigster Natur sein und die Arbeit von Kiel lässt einen über den disziplineinschränkenden Tellerrand schauen. Diesen interdisziplinären Weitblick sollte – nicht nur – die Strafrechtswissenschaft viel öfter wagen.

 

 

Unsere Webseite verwendet sog. Cookies. Durch die weitere Verwendung stimmen Sie der Nutzung von Cookies zu. Informationen zum Datenschutz

Die Cookie-Einstellungen auf dieser Website sind auf "Cookies zulassen" eingestellt, um das beste Surferlebnis zu ermöglichen.
Wenn Sie diese Website ohne Änderung der Cookie-Einstellungen verwenden oder auf "Akzeptieren" klicken, erklären Sie sich damit einverstanden.

Weitere Informationen zum Datenschutz entnehmen Sie bitte unserer Datenschutzerklärung. Hier können Sie der Verwendung von Cookies auch widersprechen.

Schließen