KriPoZ-RR, Beitrag 23/2020

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

EuGH, Urt. v. 12.03.2020 – C‑659/18: Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand darf nicht entzogen werden, wenn Beschuldigter nicht vor Untersuchungsrichter erscheint

Amtlicher Leitsatz:

Die Richtlinie 2013/48/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Oktober 2013 über das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand in Strafverfahren und in Verfahren zur Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls sowie über das Recht auf Benachrichtigung eines Dritten bei Freiheitsentzug und das Recht auf Kommunikation mit Dritten und mit Konsularbehörden während des Freiheitsentzugs, insbesondere ihr Art. 3 Abs. 2, ist im Licht von Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung in ihrer Auslegung durch die nationale Rechtsprechung entgegensteht, wonach die Inanspruchnahme des Rechts auf Zugang zu einem Rechtsbeistand in der vorgerichtlichen Phase des Strafverfahrens aufgrund des Nichterscheinens des Verdächtigen bzw. der beschuldigten Person auf eine Ladung vor einen Untersuchungsrichter ausgesetzt werden kann, bis der nationale Haftbefehl gegen den Betroffenen vollzogen ist.

Sachverhalt:

Das Untersuchungsgericht Nr. 4 von Badalona, Spanien hat dem EuGH die Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt, ob nationale Regelungen, die es vorsehen, das Recht des Beschuldigten auf Zugang zu seinem Rechtsbeistand im vorgerichtlichen Verfahren an bestimmte Bedingungen zu knüpfen, gegen Unionsrecht verstoßen.

Anlass zu dieser Frage bot ein Verfahren, das in Spanien wegen des Vorwurfs des Fahrens ohne Fahrerlaubnis und Urkundenfälschung geführt worden war. Der Beschuldigte hatte in einer Verkehrskontrolle einen gefälschten bulgarischen Führerschein vorgezeigt. Zu seiner richterlichen Vernehmung war er nicht erschienen. Daraufhin hatte sich eine ordnungsgemäß bevollmächtigte Strafverteidigerin bei den Behörden gemeldet und beantragt, dass alle maßgeblichen Dokumente an sie verschickten werden. Nach der geltenden Rechtslage in Spanien wäre es nun möglich gewesen, dem Beschuldigten den Zugang zu seiner Verteidigerin zu verwehren bzw. diese nicht anzuerkennen bis er persönlich bei Gericht erschienen ist. Das Vorlegende Gericht hat Zweifel, ob diese nationale Regelung mit der Richtlinie 2013/48/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Oktober 2013 über das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand in Strafverfahren und in Verfahren zur Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls sowie über das Recht auf Benachrichtigung eines Dritten bei Freiheitsentzug und das Recht auf Kommunikation mit Dritten und mit Konsularbehörden während des Freiheitsentzugs vereinbar ist.

Entscheidung des EuGH:

Der EuGH entschied, dass die spanische Regelung nicht mit dem Unionsrecht vereinbar sei.

Zunächst stellte er fest, dass die Richtlinie unmissverständlich anordne, dass jedem Beschuldigten auch schon vor der ersten Befragung durch die Strafverfolgungsbehörden das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand zugutekomme.

Von diesem Recht des Beschuldigten dürfe in der Praxis nur aufgrund der wenigen in der Richtlinie angegebenen Ausnahmen, insbesondere die große geographische Entfernung, abgewichen werden.

Eine solche Ausnahme sei im vorliegenden Fall jedoch nicht ersichtlich, so der EuGH.

Weitere Ausnahmen könne der nationale Gesetzgeber nicht vorsehen, da die Richtlinie insoweit abschließend sei. Käme den nationalen Gesetzgebern das Recht zu eigene Ausnahmetatbestände, ähnlich dem in Spanien, zu schaffen, würde dies die Systematik und die Zwecke der Richtlinie konterkarieren.

Damit sei es rechtswidrig, das Recht des Beschuldigten auf Zugang zu einem Rechtsbeistand von seinem Erscheinen vor dem Untersuchungsrichter abhängig zu machen. Insoweit verstoße die spanische Regelung gegen Unionsrecht.

 

Anmerkung der Redaktion:

Die Anforderungen der Richtlinie sind in Deutschland durch das zweite Gesetz zur Stärkung der Verfahrensrechte von Beschuldigten im Strafverfahren und zur Änderung des Schöffenrechts umgesetzt worden. Die Richtlinie und Informationen zur nationalen Umsetzung finden Sie hier.

 

 

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