Die Entscheidung im Original finden Sie hier.
BVerfG, Beschl. v. 07.07.2020 – 1 BvR 479/20: Bezeichnung als „frecher Juden-Funktionär“ ist volksverhetzend
Leitsatz der Redaktion:
In Bezug auf Äußerungen über den Nationalsozialismus gelten die normalen Anforderungen an einschränkende Gesetze i.S.d. Art. 5 Abs. 2 GG. Die in der Wunsiedel-Entscheidung eingeführte Ausnahme vom Allgemeinheitserfordernis betrifft nur die formelle Ebene eines Straftatbestands, der eine bestimmte Meinung unter Strafe stellt. Eine konkrete Meinungsäußerung adressiert die Ausnahme nicht.
Sachverhalt:
Der Beschwerdeführer ist vom AG Bielefeld und bestätigend vom LG Bielefeld und OLG Hamm wegen Volksverhetzung gem. § 130 Abs. 1 StGB verurteilt worden.
Er hatte als Vorsitzender der Partei DIE RECHTE im Gebiet O. einen Artikel im Internet veröffentlicht, in dem er den Vorsitzenden einer jüdischen Gemeinde als „freche[n] Juden-Funktionär“ bezeichnet hatte, weil dieser sich gegen einen Verleger ausgesprochen hatte, der in seinem Verlag auch rechtsradikales Gedankengut veröffentlicht haben soll.
In dem Artikel wird der Verleger positiv adressiert und zu einem Boykott der jüdischen Gemeinde aufgerufen.
Entscheidung des BVerfG:
Das BVerfG nahm die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung an.
Eingriffe in die Meinungsfreiheit benötigten nach Art. 5 Abs. 2 GG ein allgemeines Gesetz. Dieses Gesetz dürfe sich grundsätzlich nicht gegen eine bestimmte Meinung richten und müsse materiell verhältnismäßig sein. Eine Ausnahme gelte für Straftatbestände, die sich (wie § 130 Abs. 4 StGB) gegen die Verherrlichung des Nationalsozialismus als Einzelmeinung richteten.
Diese Ausnahme könne allerdings nicht auf eine konkrete Meinungsäußerung angewendet werden, so das BVerfG. Das Grundgesetz kenne kein allgemeines antinationalsozialistisches Grundprinzip, weshalb eine konkrete Meinungsäußerung in Bezug auf den Nationalsozialismus an den allgemeinen Anforderungen für Eingriffe in die Meinungsfreiheit gemessen werden müsse.
Relevant sei die konkrete Wirkung der Äußerung im jeweiligen Kontext.
Da die Fachgerichte die Meinungsäußerung nicht aufgrund der allgemeinen politischen Ausrichtung des Täters oder seiner Parteimitgliedschaft, sondern unabhängig davon bewertet hätten, sei die konkrete Anwendung des § 130 Abs. 1 StGB nicht zu beanstanden.
Das Verwenden des Terminus „Jude“ könne vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte durchaus eine herabwürdigende Aussage darstellen. Hier sollte die Bezeichnung gerade zum Hass gegen die jüdische Bevölkerung aufstacheln, was aus der Verwendung des propagandistischen Terminus „frecher Jude“ geschlossen werden könne. Zudem ergebe sich dies auch im Zusammenhang mit dem Boykottaufruf und dem positiven Hervorheben, des rechtspopulistischen Verlagsprogramms.
Genau vor solchen Aufstachelungen solle § 130 Abs. 1 StGB schützen.
Anmerkung der Redaktion:
Zur subjektiven Seite der Volksverhetzung und zur konkurrenzrechtlichen Bewertung hatte zuletzt der BGH entschieden: KriPoZ-RR, Beitrag 47/2019