Abstract
Im Schnellverfahren ohne breite Diskussion des für und wider soll § 103 StGB ersatzlos abgeschafft werden. Beschlossen hat dies die Politik im Zusammenwirken mit den Medien und der Öffentlichkeit. Die Strafrechtswissenschaft wurde souverän ausgebremst, mahnende Stimmen, die von übereilten Maßnahmen abraten, werden übertönt.
Entsprechend dünn ist das Fundament der sachlichen Argumente. Über Fragen des Rechtsgüterschutzes wird nicht gesprochen. Der Beitrag regt einen gelassenen und nüchternen Umgang mit der Thematik an. Für gesetzgeberische Eile besteht kein Anlass. Zunächst sollten die relevanten Erwägungen gesammelt und sachkundig diskutiert werden. Im Mittelpunkt steht die Frage nach dem zu schützenden Rechtsgut. Der Text zeigt auf, dass schon zu dieser fundamentalen Strafbarkeitsvoraussetzung die Meinungen im strafrechtlichen Schrifttum auseinandergehen.
In a fast proceeding § 103 of the Criminal Code will be abolished without replacement and without broad discussion of the pros and cons. This was decided by politicians in cooperation with the media and the public. The science of criminal law was slowed down sovereignly, voices warning of hasty measures are drowned. Accordingly the foundation of factual arguments is thin. Questions about the protection of legal interests are not outspoken. The article encourages a serene and sober approach to the subject. There is no reason for legislative haste. First, the relevant considerations should be collected and discussed competently. At the heart of the text is the question about the legal interest being protected. The text shows that divergent views within the criminal law literature can already be found at that fundamental requirement of criminal proceedings.
I. Einleitung
Am 27.5. 2016 fand an der Universität Potsdam eine von der Forschungsstelle Medienrecht[1] organisierte und vor allem von studentischem Publikum erfreulich gut besuchte Vortrags- und Diskussionsveranstaltung statt, die aus aktuellem Anlass dem Thema „§ 103 StGB – ist das noch Recht oder kann das weg? – Rechtswissenschaftliche und rechtspolitische Bemerkungen aus Anlass des Falles Böhmermann“ gewidmet war. Neben dem Autor referierten zu dem Thema Juniorprofessorin Dr. Elisa Hoven von der Universität Köln und Dr. Alexander Heinze vom Kriminalwissenschaftlichen Institut der Universität Göttingen. Eine zu Beginn der Veranstaltung durchgeführte Abstimmung im Publikum ergab, dass ca. 67 % der Teilnehmer sich für die Abschaffung des § 103 StGB aussprachen. Der Rest votierte für die Beibehaltung der Vorschrift oder war unentschlossen. Nach den über zwei Stunden dauernden Vorträgen und Diskussionen wurde zum Schluss noch einmal abgestimmt: dabei stellte sich heraus, dass zahlreiche Zuhörer, die zuvor noch für die Abschaffung des § 103 StGB gestimmt hatten oder unentschieden waren, sich nun für die Beibehaltung der Strafvorschrift aussprachen. Dies war gewiss in erster Linie den überzeugenden Ausführungen von Hoven und Heinze zuzurechnen, die in ihren Vorträgen und in der sehr engagiert geführten Diskussion sachkundig erläuterten, welche rationes legis einer Strafvorschrift in der Rechtsordnung Halt geben und dass man eine Vorschrift nicht übereilt entsorgen sollte, ohne sich zuvor dieser rationes – bzw. ihres Fehlens oder Wegfalls – vergewissert zu haben.
Ein wenig überrascht es schon, wie schnell sich nahezu die ganze Nation einig geworden zu sein scheint,[2] dass die Strafdrohung gegen „Majestätsbeleidigung“ aus einer grauen Vorzeit – diese „Dunkelnorm des Strafgesetzbuches“[3] – stamme und in unserer modernen aufgeklärten Welt ein Anachronismus darstelle, nicht mehr „zeitgemäß“ sei.[4] Fast erfreut[5] nimmt der Strafrechtskundige zur Kenntnis, dass der Rechtspolitiker Heiko Maas nicht nur als Marathonläufer ausdauernd immer neue Ausweitung-en und Verschärfungen des Strafrechts auf den Weg bringen kann, sondern offenbar auch den Sprint in die entgegengesetzte Richtung beherrscht und im Eilzugtempo die Abschaffung einer Strafvorschrift, die anscheinend nicht mehr gebraucht wird, vorantreibt.[6] Aber natürlich kann sich der vernünftige und besonnene Staatsbürger über solch hektische Betriebsamkeit überhaupt nicht freuen und dass es in diesem Fall ausnahmsweise auf Verringerung des Strafrechts hinausläuft, tröstet auch nicht wirklich. Ein Minimum an Nachdenken über eine Vorschrift, die kaum jemand kennt[7] und die vor der causa Böhmermann wahrscheinlich auch in Juristenkreisen überwiegend terra incognita gewesen ist,[8] sollte sich eine Gesellschaft schon erlauben, bevor sie das Todesurteil über einen Paragraphen fällt. Gestattet muss auch das Vortragen einer abweichenden Beurteilung und eine vorurteilsfreie Diskussion darüber sein, selbst auf die Gefahr hin, dass am Ende die besseren Gründe für die Beibehaltung des Gesetzes im Raum stehen. Zudem ist § 103 StGB wahrscheinlich deswegen urplötzlich so unbeliebt geworden, weil er von Ihrer Majestät Justitia gegen den bei vielen Medienkonsumenten beliebten Jan Böhmermann zum Einsatz gebracht wird, nachdem dieser seinerseits den in Deutschland eher unbeliebten Recep Tayyip Erdogan beleidigt hatte. Interessant wäre zu erfahren, in welche Richtung der Wind geweht hätte, wenn ein „Rechtspopulist“ (z. B. Herr Gauland von der AfD) den US-Präsidenten Barack Obama oder die britische Queen Elizabeth II. in ähnlich derber Form verunglimpft hätte, wie Böhmermann es mit dem türkischen Staatspräsidenten gemacht hat.[9] Diese Frage kann sich jeder, der unter dem Eindruck der politischen und justiziellen Vorgänge um Jan Böhmermann den Drang zur Unterstützung des Abschaffungsvorhabens verspürt, stellen und selbstkritisch den Rationalitätsgehalt der eigenen Meinungsbildung hinterfragen. Tatsächlich ist es doch so: bevor man abschließend darüber urteilt, ob eine Strafvorschrift richtig oder falsch ist, ob sie stehen bleiben oder fallen soll, muss man alles über sie wissen, also vor allem den mit ihr verfolgten Regelungszweck und die Eigenart der von ihr erfassten Fälle kennen. Daran fehlt es gegenwärtig offensichtlich im Übermaß, denn in den öffentlichen Verlautbarungen ist davon fast nichts zu sehen und zu hören. Im Folgenden wird kein Plädoyer für die Beibehaltung, Änderung oder Abschaffung des § 103 StGB in seiner aktuell geltenden Fassung gehalten. Der Text will aber Informationen über die Norm vermitteln, die einer sachkundigen Debatte über das Thema zuträglich sein könnten. Dabei wird in Kauf genommen, dass die Bemühungen möglicherweise vergeblich sind und der Artikel schon mit seinem Erscheinen überholt sein könnte, weil der Bundestag – wie es von den Initiatoren angestrebt wird – noch vor der parlamentarischen Sommerpause die Streichung des Paragraphen beschlossen haben könnte.
II. § 103 StGB nicht mehr „zeitgemäß“?
In den zahlreichen Artikeln, Kommentaren, Leserbriefen, Interviews und sonstigen publik gemachten und medial verbreiteten Äußerungen zur Abschaffung des § 103 StGB steht überproportional häufig das Wort „zeitgemäß“ im Mittelpunkt. Weil die Strafvorschrift gegen „Majestätsbeleidigung“ nicht mehr „zeitgemäß“ sei, müsse sie schleunigst abgeschafft werden.[10] Eigenartigerweise ist das eine Meinung, die im Kreis der Strafrechtswissenschaftler bis vor kurzem noch überhaupt nicht thematisiert worden, geschweige denn dezidiert vertreten worden ist. Auf der oben erwähnten Potsdamer Veranstaltung berichtete Hoven über das aktuell an der Universität Köln durchgeführte Projekt zur Abschaffung von Strafvorschriften im Besonderen Teil des StGB, das mit einer hochkarätig besetzten Tagung am 25. November dieses Jahres seinen Abschluss finden wird. Dort wird über Strafvorschriften diskutiert werden, die – was zu klären sein wird – „redundant“, „bagatellarisch“, oder „kriminalpolitisch verfehlt“ sind. Das Attribut „unzeitgemäß“ ist im Programm nicht enthalten. Allenfalls das angekündigte Referat von Prof. Dr. Jörg Kinzig über „tote Tatbestände“ könnte den Aspekt berühren. Möglicherweise wird Kinzig aus Anlass des Falles Böhmermann auch über § 103 StGB sprechen. Interessant aber ist Folgendes: im Vorfeld hatten die Organisatoren deutsche Strafrechtswissenschaftler per Email kontaktiert und gebeten Strafvorschriften zu nennen, die ihrer Ansicht nach ersatzlos aus dem StGB entfernt werden könnten. In dem Rücklauf wurden über 60 verschiedene Streichvorschläge unterbreitet, mit – wenig überraschend – §§ 173, 217, 166 StGB im Spitzenfeld. Den „Majestätsbeleidigungs-Tatbestand“ § 103 StGB hatte keiner der Einsender auf seiner Liste! Hält die deutsche Strafrechtswissenschaft § 103 StGB also für „zeitgemäß“? Wohlgemerkt: die Umfrage fand vor dem „Fall Böhmermann“ statt! Ich selbst hatte mir bis dahin über § 103 StGB überhaupt keine Gedanken gemacht, meine Kollegen wahrscheinlich auch nicht. Als Mitglied der Gruppe deutschsprachiger Strafrechtswissenschaftler würde ich jetzt auf die Frage mit einer Gegenfrage antworten: was ist das überhaupt – „unzeitgemäß“? Wahrscheinlich würde mir dann geantwortet werden: z. B. einen Kaiser als Staatsoberhaupt gut zu finden, ist in der heutigen Zeit eine antiquierte, rückwärtsgerichtete und undemokratische Haltung. Schließlich sind wir mündige aufgeklärte Menschen in einem demokratischen freiheitlichen Rechtsstaat. Es stimmt: ein Staatsoberhaupt vom Schlage des letzten deutschen Kaisers Wilhelm II. brauchen wir wirklich nicht mehr. Wir haben Joachim Gauck, Angela Merkel, Norbert Lammert, Andreas Voßkuhle, was zweifellos gut ist. Objekte monarchengleicher Verehrung – sofern diese überhaupt noch gebraucht werden – sind nunmehr die Helden des Sports wie – auch schon aus recht angegrauter Vorzeit –„Kaiser“ Franz Beckenbauer und – rückblickend auf die Fußball-Europameisterschaft! – Jogi, Schweini, Poldi. Aber blicken wir nicht doch manchmal neidisch auf unsere Nachbarn in Großbritannien – Brexit hin oder her –, die ihre Queen nicht nur respektieren und verehren, sondern sicher zum großen Teil lieben? Auch auf einen sympathischen bürgernahen König wie den Oranier Willem-Alexander könnte jedes Land der freien westlichen Welt stolz sein.
Indessen hat alles das unmittelbar nichts mit der Frage nach der Existenzberechtigung der Strafvorschrift § 103 StGB in der heutigen Zeit zu tun. Der Hinweis auf Queen Elizabeth dient allein der Widerlegung der – strafrechtlich ohnehin irrelevanten – Behauptung, der in § 103 StGB verankerte Strafrechtsschutz sei auf Sachverhalte bezogen, die es in der Lebenswirklichkeit des 21. Jahrhunderts nicht mehr gebe. Weder gilt der umstrittene strafrechtliche Schutz des Straftatbestandes in der Fassung, die er 1953 erhalten hat, ausschließlich Monarchen noch geht es um den Inhaber der Position des Staatsoberhauptes in Deutschland.[11] Tatobjekte sind Staatsoberhäupter ausländischer Staaten einschließlich republikanischer Staatswesen. Soweit die Kritik sich gegen ein „Sonderstrafrecht“ zum Schutz der Ehre des Staatsoberhaupts richtet, ist in erster Linie die Strafdrohung gegen Verunglimpfung des Bundespräsidenten (§ 90 StGB) in den Blick zu nehmen. Danach erst kann – und zwar gegebenenfalls mit einem erst-recht-Argument – gegen den strafrechtlichen Schutz ausländischer Staatsoberhäupter Stellung bezogen werden. Ob tatsächlich die – mit dem Hinweis auf den ausreichenden Strafrechtsschutz in §§ 185 ff. StGB geforderte – Abschaffung des § 90 StGB zwangsläufig die Abschaffung des § 103 StGB nach sich ziehen müsste, ist damit aber noch nicht gesagt und sehr fraglich. Erforderlich ist eine sorgfältige Analyse des jeweiligen Schutzzwecks und damit vor allem der geschützten Rechtsgüter. Diese Aspekte werden in der Auseinandersetzung außerhalb strafrechtswissenschaftlicher Fachkreise, wenn überhaupt, stark verkürzt und verzerrt thematisiert, der Begriff „Rechtsgut“ kommt in den Texten so gut wie überhaupt nicht vor.
III. Gründe für und gegen § 103 StGB
1. Basisdemokratisches Votum ohne Reflexion von Gründen
Kein Anspruch ernst genommen zu werden kann einer fast marktschreierisch erhobenen Forderung „§ 103 StGB – wenn abschaffen, dann sofort“ zugebilligt werden, deren Autor sich gleich zweimal auf die „weit überwiegende Mehrheit der Bevölkerung“ bzw. „breite Mehrheit der Bevölkerung“ beruft und zudem eine „überwältigende Mehrheit der Mitglieder des Bundestags“ ausgemacht zu haben meint.[12] Dass zu einem strafrechtlichen Thema, das bis vor kurzem selbst in der Strafrechtswissenschaft keinerlei Beachtung gefunden hat[13] und zu dem eine Fachdiskussion noch gar nicht nennenswert in Gang gekommen ist, sich binnen weniger Wochen eine sachkundige Stellungnahme in der – zum großen Teil nicht aus Strafrechtsexperten bestehenden – Mehrheit der Gesamtbevölkerung gebildet haben sollte, ist eine aberwitzige Annahme. Eine derart törichte Bemerkung bestätigt den Eindruck, dass sich unsere mediengesteuerte Öffentlichkeit geradlinig auf dem Weg zu einer Demokratie der Talk- und Quiz-Shows befindet. Es bedarf offenbar nur noch eines „Einpeitschers“ wie 1958 im Göteborger Ullevi-Stadion beim WM-Halbfinalspiel zwischen Schweden und Deutschland und schon hat man ein Signal für den Gesetzgeber: Daumen hoch oder Daumen runter. Unabhängig von vox populi habe „der Staat“ bereits festgestellt, dass das in § 103 StGB unter Strafdrohung gestellte Verhalten nicht (mehr) strafwürdig sei. Weiter heißt es in dem Plädoyer für die sofortige Abschaffung, die „Bundesregierung“ habe diese Frage bereits für sich entschieden.[14] Zugleich aber hat dieselbe Bundesregierung die gem. § 104a StGB zur Einleitung eines Strafverfahrens erforderliche Ermächtigung erteilt. Das sieht aus wie Gas geben und auf die Bremse treten gleichzeitig.[15] Erklärbar ist das nur mit Mangel an Kenntnis über den Gegenstand der Diskussion. Weder die Bundesregierung noch die Mehrheit der Mitglieder des Bundestages oder gar die Mehrheit der Bevölkerung dürften über Sinn und Zweck des § 103 StGB unter Berücksichtigung von Entstehungsgeschichte und völkerrechtlichem Hintergrund hinreichend informiert sein. Oder haben etwa in den letzten Monaten alle die Monographie „Beleidigung eines ausländischen Staatsoberhauptes“ von Holger Heinen aus dem Jahr 2005 oder den Beitrag von Hans Lüttger zur Festschrift für Hans-Heinrich Jescheck mit dem Titel „Bemerkungen zu Methodik und Dogmatik des Strafschutzes für nichtdeutsche öffentliche Rechtsgüter“ (1985) gelesen?
2. Rechtsgüter
Nicht nur in der Strafrechtswissenschaft gilt – wenngleich nicht unumstritten – als wichtigster Prüfstein für die Legitimität des Strafrechts das Rechtsgut, das des Schutzes durch das Strafrecht würdig und bedürftig ist.[16] Auch die Kriminalpolitik beruft sich auf die Erforderlichkeit der Abwehr von Angriffen auf ein Rechtsgut, wenn bestehende Straftatbestände erweitert, Strafdrohungen verschärft oder neue Strafvorschriften eingeführt werden sollen.[17]
Damit scheint das Rechtsgut exakt den gesetzgebungskritischen[18] Zweck zu erfüllen, der ihm mehrheitlich zugedacht wird: der Qualität und Quantität von Strafrecht einen Maßstab zu geben, an dem sich vor allem der Gesetzgeber orientieren kann, der das Strafrecht rational fundiert und begrenzt und illegitimes Strafrecht verhindert. Indessen ist die Rechtswirklichkeit nicht geeignet, diese optimistische Betrachtung zu stützen. Keineswegs errichtet das Rechtsgut eine unübersteigbare Grenze und wehrt Strafgesetze ab, weil der Gesetzgeber diese Grenze erkennt und respektiert. Vielmehr versteht die Kriminalpolitik die Idee des Rechtsguts als Aufforderung, notfalls selbst neue Rechtsgüter zu kreieren, wenn sich im Katalog der anerkannten Rechtsgüter kein Anknüpfungspunkt für ein neues Strafgesetz finden lässt, mit dem Verhaltenserwartungen durchgesetzt werden sollen, deren Enttäuschung sich im Lichte der Strafrechtstradition als Beeinträchtigung eines Rechtsgutes definieren lässt. Ein vom Verfasser dieser Abhandlung immer wieder gern bemühtes[19] aktuelles Beispiel ist die Strafdrohung im neuen Antidopinggesetz gegen die Verwendung leistungssteigernder Dopingmittel im Spitzensport.[20] Wird dort die Einführung strafbarkeitsausdehnender Gesetze mit der Berufung auf angeblich zu schützende Rechtsgüter begründet, so müsste hier die Forderung nach Abschaffung des § 103 StGB mit dem substantiiert vorgetragenen Nachweis des Fehlens eines schutzwürdigen Rechtsgutes oder der Nichterforderlichkeit der abzuschaffenden Strafvorschrift als Instrument des Rechtsgüterschutzes unterlegt werden. Indessen ist dies nicht der Fall. Allenfalls die Behauptung, dass die Ehre des ausländischen Staatsoberhaupts auch ohne § 103 StGB hinreichend geschützt ist – nämlich in § 185 StGB – stellt einen Zusammenhang mit dem Rechtsgüterschutzzweck her, legt sie doch dar, dass § 103 StGB zur Erreichung dieses Zwecks nicht erforderlich sei. Aber genau diese Bemerkung deckt auf, dass eine ernsthafte und gründliche Befassung mit den in Betracht kommenden und über §§ 185 ff. StGB hinausweisenden Schutzzwecken nicht stattgefunden hat.[21] Wenn in der ARD-Nachrichtensendung „Tagesschau“ der Öffentlichkeit § 103 StGB als eine „Qualifikation“ des § 185 StGB erklärt wird, braucht man sich nicht zu wundern, dass angeblich die Mehrheit der Bevölkerung die Aufhebung der Norm befürwortet. Der Regelungsgehalt des § 103 StGB wird verzerrt, vergröbert und unvollständig dargestellt, wenn von einer erschwerten Form der Beleidigung gesprochen wird. Ebenso könnte man vorschlagen, den Straftatbestand „Raub“ (§ 249 StGB) abzuschaffen, da die betroffenen Rechtsgüter durch die Strafdrohungen gegen Diebstahl (§ 242 StGB) und Nötigung (§ 240 StGB) doch hinreichend geschützt seien. Aber so wie der Raub mehr ist als die Summe von Diebstahl und Nötigung, ist auch die Beleidigung ausländischer Staatsoberhäupter ein delictum sui generis, dessen Schutzobjekt mit „Ehre“ verkürzt beschrieben ist. Das belegen schon die zusätzlichen Strafbarkeits- und Verfolgungsvoraussetzungen in § 104a StGB, für die es vor dem Hintergrund eines reinen Ehrschutztatbestandes keine Erklärung gäbe.
Eine Auswertung aktueller StGB-Kommentare zeigt, dass in der Strafrechtswissenschaft keine Einmütigkeit zu der Frage des geschützten Rechtsgutes herrscht.[22] Im Wesentlichen lassen sich drei verschiedene Positionen erkennen:[23] überwiegend wird § 103 StGB ein doppelter Rechtsgüterschutzzweck zugeschrieben. Geschützt seien der ausländische Staat mit seinen Organen einerseits und das Interesse der Bundesrepublik Deutschland an funktionierenden außenpolitischen Beziehungen zu diesem Staat andererseits.[24] Zumindest das zweite Rechtsgut würde seines strafrechtlichen Schutzes entkleidet, sollte § 103 StGB abgeschafft werden. Eine Mindermeinung hält die Ehre
des ausländischen Staates allein für das sinngebende Schutzgut;[25] umgekehrt wird von einer anderen Mindermeinung ausschließlich das Interesse der Bundesrepublik Deutschland an guten Auslandsbeziehungen als materielle Legitimationsgrundlage des § 103 StGB anerkannt.[26] Egal, welche dieser Deutungen den Vorzug verdient: keiner von ihnen wird die in der Öffentlichkeit verlautbarte Abschaffungsrhetorik gerecht.[27] Die Anhänger des beschleunigten Gesetzesaufhebungsverfahrens der Strafvorschrift meinen hinter der Ziellinie zu stehen. Dabei ist der Startschuss noch nicht einmal gefallen.
IV. Schluss
Auch in diesem Text sind bei weitem nicht alle relevanten Gesichtspunkte berührt worden, die der Entstehung des § 103 StGB zugrunde liegen und die im Rahmen einer seriösen Auseinandersetzung über Aufrechterhaltung oder Abschaffung der Norm evaluiert werden müssen. Insbesondere völkerrechtliche Berührungspunkte, die sich nicht ohne weiteres unter „Rechtsgut“ subsumieren lassen, bedürfen der Berücksichtigung.[28] Es sollte hier nur der Finger in die Wunde „Rechtsgut“ gelegt und darauf aufmerksam gemacht werden, dass die Abschaffungsbefürworter nicht einmal diese fundamentale Stütze eines Straftatbestandes ernsthaft in ihre Erwägungen einzubeziehen bereit sind. Entkriminalisierung des geltenden Strafrechts ist ein dringendes Anliegen, für das § 103 StGB nicht gerade das beste Anwendungsbeispiel ist. Ein ganz schlechtes Exempel würde statuiert, sollte die kopflose und überhastete Beseitigung des § 103 StGB tatsächlich noch in dieser Legislaturperiode Realität werden. Den Bemühungen um eine Rückführung des Strafrechts in seinen über jeden Zweifel erhabenen Kernbereich wäre damit kein guter Dienst erwiesen.
[1] Die von den Potsdamer Professoren Dr. Christian Czychowski, Dr. Tobias Lettl, Dr. Wolfgang Mitsch und Dr. Alexander Windoffer getragene Forschungsstelle Medienrecht ist ein rechtsgebietsübergreifender Zusammenschluss von Rechtswissenschaftlern, die ihre Lehre und Forschungen im Zivilrecht, Öffentlichen Recht und Strafrecht unter besonderer Berücksichtigung der Bezüge dieser Rechtsgebiete zu den Medien ausüben.
[2] Zu den diesbezüglichen Bemerkungen von Heinke, ZRP 2016, 121 näher noch unten III. 1.
[3] Schelzke, HRRS 2016, 248.
[4] Zum Beispiel soll sich der Hamburger Justizsenator Dr. Till Steffen folgendermaßen geäußert haben: „Deutschland braucht kein Gesetz aus der Mottenkiste. … Dieses Jahrhundert haben wir als mündige Bürger wirklich hinter uns gelassen …“
[5] Heinze, Der ‘Schah-Paragraph’ § 103 StGB: Bei Nichtgefallen Gesetz zurück, Legal Tribune Online, 15.4.2016: „Wenn die jetzige Debatte über die Behandlung des Böhmermann-Gedichts zu einer Entkriminalisierungsdebatte wird, ist das aus strafrechtstheoretischer Sicht erfreulich“.
[6] Überschrift eines Artikels in der Legal Tribune Online vom 28.4. 2015: „Abschaffung von § 103 StGB: Maas macht Druck“.
[7] Schelzke, HRRS 2016, 248: „Auf einmal blicken alle auf § 103 StGB.“; Vormbaum, JoJZG 2016, 47: „Ein weitgehend unbekannter und bisher kaum zur Anwendung gelangter Tatbestand des Strafgesetzbuches hat es über Nacht zu bundesweiter Bekanntheit gebracht.“
[8] Heinen, Beleidigung eines ausländischen Staatsoberhauptes, 2005, S. 40: „… ist sie doch nicht einmal den meisten im praktischen Strafrecht tätigen Juristen bekannt“.
[9] Der Wortlaut des „Schmähgedichts“ ist Strafrechtswissenschaftlern leicht zugänglich, nämlich in der Fussnote 1 des Beitrags von Christian Fahl in NStZ 2016, 313 abgedruckt; den Beschluss des LG Hamburg v. 17.5.2016 – 324 O 255/16 über das Eilverfahren in diesem Heft.
[10] Legal Tribune Online v. 28.4. 2016: „Das Justizministerium hat den angekündigten Entwurf zur Abschaffung des § 103 StGB vorgelegt. Die Norm sei nicht mehr zeitgemäß“; Legal Tribune Online v. 7.6.2016: „Die Bundesratsausschüsse haben dem Plenum empfohlen, einen Gesetzentwurf zur Streichung des § 103 StGB in den Bundestag einzubringen. Der Paragraf sei als ‘Sonderstrafrecht’ nicht mehr zeitgemäß“.
[11] Anders verhielt es sich mit § 103 in der Fassung des RStGB von 1871, die als gegen Beleidigung geschützte Staatsoberhäupter nur „Landesherrn“ und „Regenten“ berücksichtigte; vgl. Heinen, S. 29; krit. zur Charakterisierung des Delikts als „Majestätsbeleidigung“ auch Vormbaum, JoJZG 2016, 47 (48).
[12] Heinke, ZRP 2016, 121 ff.
[13] Noch einmal: Heinen, S. 40.
[14] Heinke, ZRP 2016, 121 (122).
[15] Zutreffend moniert Heinke, ZRP 2016, 121 (122) Inkonsequenz, empfiehlt aber nicht Zurückhaltung bei der Forderung nach Aufhebung der Strafvorschrift, sondern Rücknahme der Ermächtigung zur Durchführung des Strafverfahrens. Zumindest erwägenswert ist aber folgende Alternative: Ermächtigung erteilen und danach – zumindest fürs erste – einfach schweigen. Vgl. auch Vormbaum, JoJZG 2016, 47 (49) Fn. 16.
[16] Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil 1, 4. Aufl. 2006, § 2 Rn. 1: „subsidiärer Rechtsgüterschutz“.
[17] Maas, NStZ 2015, 305.
[18] Weitere Synonyme: „systemtranszendent“, „systemkritisch“, „materiell“, vgl. Engländer, ZStW 127 (2015), 1 (2).
[19] Zuletzt im Vortrag „Exzessive Kriminalpolitik am Beispiel des Antidopinggesetzes“ am 1.6.2016 auf dem 67. Deutschen Anwaltstag in Berlin.
[20] Maas, NStZ 2015, 305: „Ich denke an das Anti-Doping-Gesetz und das Rechtsgut der ‘Integrität des Sports’ …“.
[21] Diese Rüge trifft nicht Ricarda Christine Schelzke, die in HRRS 2016, 248 ff. sehr wohl die Vielfalt der Rechtsgüter wahrgenommen und sich in ihrem Fazit (S. 253) auch nicht für eine Streichung des § 103 StGB ausgesprochen hat.
[22] Heinen, S. 99.
[23] Guter Überblick bei Kreß, in: MüKo-StGB, Bd. 3, 2. Aufl. (2012), Vorb. §§ 102 ff. Rn. 5.
[24] Bauer/Gmel, in: LK-StGB, 12. Aufl. (2007), Vorb. § 102 Rn. 1; Kindhäuser, in: NK-StGB, Vorb. §§ 102-104a Rn. 1; Kuhli, in: Matt/Renzikowski, StGB, 2013, Vorb. §§ 102 ff. Rn. 1; Lackner/Kühl, StGB, 28. Aufl. (2014), Vorb. §§ 102 ff. Rn. 1; Rudolphi/Wolter, in: SK-StGB, Stand: März 2005, Vorb. § 102 Rn. 2; Schönke/Schröder/Eser, StGB, 29. Aufl. (2014), Vorb. §§ 102-104a Rn. 2; Vormbaum, JoJZG 2016, 47 (50).
[25] Kreß, in: MüKo-StGB, Vorb. §§ 102 ff. Rn. 6; ebenso schon Dreher, JZ 1953, 421 (426).
[26] Heinen, S. 103 ff.; Wohlers/Kargl, in: NK-StGB, Vorb. §§ 102 ff. Rn. 2; dagegen Vormbaum, JoJZG 2016, 47 (50).
[27] Heinze, Legal Tribune Online v. 15.4. 2015.
[28] Heinen, S. 82 ff.