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Reformvorhaben StPO – Der Gesetzentwurf der Bundesregierung zur „effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des Strafverfahrens“

von Dr. Eren Basar

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Abstract

Mit großen Schritten bewegen wir uns auch im Strafprozessrecht auf eine Reform zu. Dazu hat die Bundesregierung am 14.12.2016 das „Gesetz zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des Strafverfahrens“ als eigenen Entwurf in das Gesetzgebungsverfahren eingebracht. Am 9.3.2017 wurde der Entwurf im Bundestag beraten und an den Rechtsausschuss verwiesen. Eine Verabschiedung des Gesetzes ist für den 27.4.2017 geplant. Dem Entwurf liegt der Referentenentwurf des BMJV zu Grunde (vgl. ausführlich KriPoZ 2016, 177), der wiederum das Ergebnis der von Heiko Maas eingesetzten Expertenkommission war. Der jetzige Entwurf der Bundesregierung dreht das Rad an mehreren Stellen noch mal soweit „zurück“, dass von den ausgeglichenen Ansätzen der Expertenkommission und des ersten (Referenten-)Entwurfs nur die Vorschläge übrig bleiben, die (zumeist einseitig) die Strafverfolgung stärken. Das Herzstück der Reformüberlegungen, die audio-visuelle Dokumentation von Aussagen im Ermittlungsverfahren, wird auf ein Minimum begrenzt. Die Reformziele werden somit weitgehend verfehlt.

I. Einleitung

Am 14.12.2016 hat die Bundesregierung beschlossen, einen Entwurf eines „Gesetzes zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des Strafverfahrens“ in das Gesetzgebungsverfahren einzubringen.[1] Diesem Regierungsentwurf war ein Referentenentwurf vorausgegangen, der wiederum das Ergebnis der von Heiko Maas eingesetzten StPO-Kommission war, die ihren Bericht am 13.10.2015 vorgelegt hatte.[2] Der Referentenentwurf vom 29.5.2016 war bereits hinter den Empfehlungen der Kommission zurückgeblieben,[3] so dass es nicht überrascht hätte, wenn die Bundesregierung  diesen  unverändert als eigenen Entwurf übernommen hätte. So ist es aber nicht gekommen. Stattdessen wurden nochmals spürbare Korrekturen am Referentenentwurf vorgenommen. Der Gesetzentwurf soll im Folgenden skizziert werden, wobei nach einer kurzen Darstellung der übersichtlichen Übernahmen und Streichungen aus dem Referentenentwurf (II) der Schwerpunkt auf die Vorschriften gelegt wird, die mit sachlich relevanten Änderungen als Gesetzentwurf eingebracht wurden (III).

II. Übernahmen und Streichungen

Einige der Reformvorschläge des Referentenentwurfs werden unverändert übernommen. Dies betrifft augenscheinlich nahezu ausnahmslos den Bereich der „Effektivierung“ der Strafverfolgung, sowohl im Ermittlungsverfahren als auch im Hauptverfahren. In den Gesetzentwurf nicht aufgenommen werden dagegen zwei Reformvorschläge, die eine Stärkung der Position der Verteidigung des Beschuldigten bedeutet hätten. Schon dies zeigt die Schwerpunktsetzung des Gesetzes, den Strafverfolgungsbehörden die Arbeit zu erleichtern ohne zugleich Beschuldigtenrechte aufzuwerten.[4]

1. Übernahmen

Im Ermittlungsverfahren wird es zwei Änderungen geben. Zum einen wird der Straftatbestand der Nötigung gem. § 240 Abs. 1-3 StGB in den Katalog der Privatklagedelikte in § 374 StPO-E aufgenommen.[5] Des Weiteren werden die Zeugen nach § 163 Abs. 3 StPO-E in Zukunft verpflichtet sein, auf Ladung vor Ermittlungspersonen zu erscheinen und zur Sache auszusagen, wenn der Ladung ein „Auftrag der Staatsanwaltschaft“ zugrunde liegt. Um die Bedenken hinsichtlich des letzten Gesetzentwurfs aus dem Jahr 2010 zu zerstreuen,[6] verbleiben im neuen Entwurf gem. § 163 Abs. 4 StPO-E bestimmte Entscheidungen[7] bei der Staatsanwaltschaft. Für einen zusätzlichen Schutz des Zeugen wird in § 163 Abs. 5 StPO-E der Rechtsweg gegen Entscheidungen der Ermittlungspersonen und der Staatsanwaltschaft eröffnet. Im Gesetzentwurf bleibt leider unverändert ungeklärt, ob der die Pflicht zum Erscheinen auslösende Auftrag der Staatsanwaltschaft zur Vernehmung des Zeugen „allgemein für das Verfahren“ oder nur für die „konkrete Vernehmung“ erteilt werden kann bzw. muss.[8] In der Begründung des Gesetzentwurfs wird – genauso wie im Referentenentwurf – nur darauf hingewiesen, dass die Staatsanwaltschaft vorher zu entscheiden habe.[9] Über die Reichweite des Auftrags ist in der Begründung aber immer noch keine Aussage enthalten.[10]

Erwartungsgemäß werden die Verlesungsmöglichkeiten im Hauptverfahren ausgeweitet. So soll der unverteidigte Angeklagte einer Verlesung seiner Vernehmung zustimmen können, wenn diese nur sein Geständnis zum Gegenstand hat (§ 251 StPO-E). Ärztliche Atteste sollen in Zukunft schon dann durch Verlesung in die Hauptverhandlung eingeführt werden können, wenn das Vorliegen einer körperlichen Beeinträchtigung bewiesen werden soll (§ 256 StPO-E).[11] Der Zusammenhang zu einem Körperverletzungsdelikt, so wie bisher erforderlich, wird in Zukunft somit entfallen.[12] Ebenfalls ausgeweitet werden die Hinweispflichten des Gerichts (§ 265 Abs. 2 StPO-E). Einbezogen werden jetzt auch Umstände mit Relevanz für die Anordnung von Verfall und Einziehung, Nebenstrafen und Nebenfolgen sowie für das Verteidigungsverhalten bedeutende Veränderungen der Sachlage. Für das Revisionsverfahren ergeben sich zwei Änderungen: Einerseits wird nunmehr der Anwendungsbereich des § 153a StPO auch hier eröffnet.[13] Zugleich wird der Staatsanwaltschaft bei Verfahrensrügen in § 347 StPO-E auferlegt, eine Gegenerklärung abzugeben, wenn anzunehmen ist, dass hierdurch die Prüfung der Revisionsbeschwerde erleichtert wird. Damit erhält Nr. 162 Abs. 2 S. 1 RiStBV Gesetzesrang.[14]

2. Streichungen

Zwei Vorschläge des Referentenentwurfs, die beide auf Empfehlungen der Kommission zurückgingen, sind im Gesetzentwurf der Bundesregierung nicht mehr enthalten. Dies betrifft zum einen die Überführung der Nr. 70 Abs. 1 RiStBV in einen neuen § 73 Abs. 3 StPO und die damit verbundene gesetzliche Verankerung der Anhörung der Verteidigung vor Auswahl des Sachverständigen. Weshalb die Bundesregierung diese Regelungen nicht übernommen hat, erschließt sich aus der Begründung nicht. Richtig ist, dass mit der zwingenden Anhörung nach § 73 Abs. 3 StPO des Referentenentwurfs Verfahrensverzögerungen eintreten können. Dies hatte der Referentenentwurf allerdings bereits dadurch abgemildert, dass – so wie in Nr. 70 Abs. 1 RiStBV bisher auch – die Anhörung ausbleiben kann, wenn es sich um häufig wiederkehrende, tatsächlich gleich gelagerte Sachverhalte handelt oder eine Gefährdung des Untersuchungszwecks im Raum steht. Insofern ist nicht verständlich, weshalb die gesetzliche Verankerung des Anhörungsrechts unterbleiben soll. Keine Berücksichtigung findet zudem die im Referentenentwurf vorgesehene Einbeziehung von Anbahnungsgesprächen in den Justizvollzugsanstalten in den Anwendungsbereich des § 148 StPO.[15] 

III. Übernahmen mit Anpassungen

Daneben hat die Bundesregierung einige Reformvorschläge des Referentenentwurfs in der Sache – zum Teil deutlich – verändert. Auch hier kommt man nicht umhin festzustellen, dass die von der Bundesregierung vorgenommenen Anpassungen im Ergebnis zu Lasten der Verteidigung gehen.

1. Die Verwertbarkeit von Beinahetreffern (§§ 81e ff. StPO-E)

Der Gesetzentwurf übernimmt die Vorschläge des Referentenentwurfs hinsichtlich der so genannten „Beinahetreffer“. Dafür werden die §§ 81e und 81 h StPO geändert und es wird hierdurch die Grundlage geschaffen, bei molekulargenetischen Untersuchungen Beinahetreffer zu verwerten.[16] Ob dies notwendig ist, wird durchaus bezweifelt,[17] wenngleich es kaum überrascht, dass der Gesetzgeber nach der Entscheidung des BGH aus dem Jahr 2012[18] die Strafverfolgung an diesem Punkt schärfen will. Neu ist im Gesetzentwurf der Bundesregierung, dass in § 81e Abs. 2 S. 1 StPO-E eine Ersetzung des Wortes „Spurenmaterial“ durch das Wort „Material“ vorgenommen wird. Aus Sicht des Gesetzgebers ist die Veränderung des Wortlauts deswegen nötig, weil in der „Praxis gelegentlich Zweifel“ bestünden, was konkret unter Spurenmaterial zu verstehen und damit unklar sei, wann Untersuchungen nach § 81e Abs. 2 StPO (an den sog. offenen Spuren) oder nach § 81e Abs. 1 StPO (beim Beschuldigten) durchgeführt werden dürften.[19] Damit wird – ohne es direkt anzusprechen – auf die Frage angespielt, wie mit den Situationen umzugehen ist, in denen keine Sicherheit besteht, ob das Untersuchungsmaterial überhaupt Vergleichsspuren enthält. Als Beispiel nennt der Gesetzentwurf die in Tatortnähe aufgefundene Zigarettenkippe.[20] Diese und ähnliche Materialien sollen durch die Änderung dahingehend untersucht werden können, ob sie eine Spur enthalten oder nicht. Problematisch hieran ist, dass damit ein bislang wichtiger Begrenzungsparameter der Vorschrift aufgehoben wird. Eine isolierte Untersuchung von Spurenmaterial wurde bislang grundsätzlich als sinnvoll angesehen, nämlich dann, wenn der Beschuldigte zwar noch nicht ermittelt, eine Vergleichsanalyse aber zu einem späteren Zeitpunkt als wahrscheinlich anzusehen und/oder ein Verfall des Spurenmaterials zu befürchten war.[21] Eine allgemeine Ausforschung oder gar eine auf Vorrat angelegte Beweiserhebung wurde hierin nicht gesehen, weil durch die Begrenzung auf die Untersuchung der Spuren sichergestellt war, dass diese im sachlichen Zusammenhang mit der Straftat stehen.[22] Der Wortlaut der neuen Vorschrift stellt dies zur Disposition. Es mag sein, dass der Gesetzgeber nur Grenzfälle wie die Zigarettenkippe vor Augen hat. Die Auslegung des neuen Wortlauts geht allerdings darüber hinaus. Ob es (nur) bei dieser Erweiterung bleiben wird, erscheint schon jetzt als zweifelhaft. Der Bundesrat hat in seiner Stellungnahme zum Gesetzesentwurf die Bundesregierung gebeten, im weiteren Gesetzgebungsverfahren zu prüfen, ob § 81e Absatz 2 StPO um die Zulässigkeit der Feststellung äußerlich erkennbarer Merkmale ergänzt werden kann.[23] Damit soll ein seit Jahren im Raum stehendes ermittlungstaktisches Bedürfnis aufgegriffen werden.[24] Ob eine solche Erweiterung mit dem Verhältnismäßigkeitsprinzip zu vereinbaren wäre, wird nicht einheitlich beurteilt.[25] Die Bundesregierung hat jedoch angekündigt, der Prüfbitte nachkommen zu wollen.[26]

2. Das Recht der Befangenheitsanträge (§§ 26 ff. StPO-E)

Von der Reform betroffen ist auch das Recht der Befangenheitsanträge. Wie bereits im Referentenentwurf vorgesehen, soll § 29 StPO dahingehend geändert werden, dass die Hauptverhandlung bei einem erst kurz vor dem Aufruf der Sache gestellten Ablehnungsantrag bis zur Verlesung des Anklagesatzes durch die Staatsanwaltschaft durchgeführt werden kann. Zugleich wird § 26 Abs. 1 S. 2 StPO dahingehend geändert, dass das Gericht dem Antragsteller aufgeben kann, Befangenheitsanträge schriftlich zu begründen. Für diesen Fall wird die in § 29 Abs. 2 StPO vorgesehene Frist zur Entscheidung in § 29 Abs. 3 StPO-E angepasst. Über den Antrag muss zwar unverändert bis spätestens zum Beginn des übernächsten Verhandlungstages entschieden werden. Für den Beginn der Frist wird aber nicht mehr auf das mündliche Anbringen des Gesuchs abgestellt, sondern auf die Vorlage der schriftlichen Begründung.[27] Begründet der Antragsteller seinen Antrag dann nicht schriftlich, kann der Antrag schon deswegen als unzulässig verworfen werden. Damit soll dem Gericht in Zukunft die Möglichkeit an die Hand gegeben werden, Anträgen, die aus Gründen der Verfahrensverzögerung gestellt werden, effektiv begegnen zu können.

Gesetzestechnisch hat die Bundesregierung eine andere Lösung gewählt als der Referentenentwurf. Gestrichen wird der dort in § 26 Abs. 1 S. 2 StPO-E enthaltene Anwendungsverweis auf § 257a StPO.[28] Stattdessen wird die Pflicht zur schriftlichen Begründung nun direkt in § 26 Abs. 1 S. 2 StPO-E verankert.[29] Hierbei handelt es sich nicht um eine ausschließlich kosmetische Korrektur. In der jetzigen Ausgestaltung entfällt nämlich der in § 257a S. 3 StPO ebenfalls enthaltene Verweis auf das Selbstleseverfahren. Gerade die Kombination aus der schriftlichen Begründungspflicht und der Möglichkeit für das Gericht, diese Begründung im Selbstleseverfahren einführen zu können, war Gegenstand von Kritik. Befürchtet wurde, dass es den Gerichten allzu leicht gemacht werden könnte, die „ungeliebten“ Befangenheitsanträge aus der Optik der Hauptverhandlung zu entsorgen.[30] Der Regierungsentwurf begründet die nunmehr vorliegende Gesetzesformulierung damit, dass das Ablehnungsverfahren nach § 29 StPO selbst ohnehin nicht Teil der Hauptverhandlung sei und der Grundsatz der Öffentlichkeit daher nicht gelte. Daher bedürfe es auch einer Einführung der Begründung nicht.[31] Die Neuformulierung soll also – aus Sicht der Bundesregierung – nicht dazu dienen, die schriftliche Begründung (wieder) in die Hauptverhandlung einzuführen. Im Gegenteil: Die Erläuterungen zeugen davon, dass die Verfasser davon ausgehen, dass die seitens des Gerichts angeordnete schriftliche Begründung – so oder so – nicht Teil der Hauptverhandlung wird.[32] Ganz so einfach liegt es aber nicht. Durch den Verweis auf § 257a StPO hätte das Gericht die Anordnung zur schriftlichen Begründung auch für angekündigte oder zukünftige Anträge[33] treffen können. Damit hätte das Gericht in Ausnahmesituationen die Möglichkeit gehabt, die Ablehnungsgesuche durch vorzeitige Anordnung der schriftlichen Begründung vollständig aus der Hauptverhandlung zu eliminieren.[34] Die derzeitige Ausformulierung in § 26 Abs. 1 S. 2 StPO-E sieht aber vor, dass das Gericht dem Antragsteller eine schriftliche Begründung nur für in der Hauptverhandlung angebrachte (daher bereits gestellte) Ablehnungsgesuche aufgeben darf. Damit ist ausgeschlossen, dass die Regelung als „Maulkorb“ genutzt wird, weil der Wortlaut der Neuregelung eine für zukünftige Anträge angeordnete Verfügung nicht zulässt. Die nunmehr avisierte Reform des Ablehnungsrechts beschneidet in der vorliegenden Form die Rechte der Verteidigung kaum.[35]

3. Audiovisuelle Dokumentation (§ 136 StPO-E)

Das Kernstück der bisherigen Reformüberlegungen war die Einführung der audiovisuellen Dokumentation von Zeugenvernehmungen, die auf die Empfehlung der Expertenkommission zurückgeht und im Referentenentwurf durch eine Änderung von § 58a StPO-E umgesetzt werden sollte.[36] Offen war nur, unter welchen Umständen die audiovisuelle Dokumentation von Zeugenvernehmungen verpflichtend sein sollte.[37] Obwohl der Regierungsentwurf die Vorteile der audiovisuellen Dokumentation hervorhebt, fällt die nunmehr vorgesehene Neuregelung hinter den Referentenentwurf zurück. Geplant ist nicht mehr die „moderate Erweiterung“ der in der StPO angelegten Regelungen zur audiovisuellen Dokumentation von Zeugenvernehmungen,[38] sondern nur deren „Erprobung“.[39] Konkret führt dies dazu, dass die verpflichtende audiovisuelle Aufzeichnung auf Vernehmungen von Beschuldigten bei einem Verdacht der Begehung vorsätzlicher Tötungsdelikte und bei besonderer Schutzbedürftigkeit des Beschuldigten beschränkt wird. Hierfür wird ein neuer § 136 Abs. 4 StPO-E geschaffen:

„Die Vernehmung des Beschuldigten kann in Bild und Ton aufgezeichnet werden. Sie ist aufzuzeichnen, wenn 1. dem Verfahren ein vorsätzlich begangenes Tötungsdelikt zugrunde liegt und der Aufzeichnung weder die äußeren Umstände noch die besondere Dringlichkeit der Vernehmung entgegenstehen, oder 2. die schutzwürdigen Interessen des Beschuldigten, insbesondere von a) Personen unter 18 Jahren oder b) Personen, die erkennbar unter eingeschränkten geistigen Fähigkeiten oder einer schwerwiegenden seelischen Störung leiden, durch die Aufzeichnung besser gewahrt werden können. § 58a Absatz 2 gilt entsprechend.“

Über einen Verweis in einem neuen § 163a Abs. 3 und 4 StPO-E gilt die Neuregelung auch für Vernehmungen der Staatsanwaltschaft und der Polizei. In Übereinstimmung mit dem Referentenentwurf ist eine Verschriftlichung der audiovisuellen Vernehmung nicht vorgesehen. Beibehalten wird auch, dass eine Ersetzung der Vernehmung durch Einführung der Videoaufnahme in die Hauptverhandlung nicht zugelassen wird.[40] Warum die audiovisuelle Dokumentation auf die Beschuldigtenvernehmungen in Tötungsverfahren sowie auf Fälle besonders schutzwürdiger Beschuldigter beschränkt wird, ergibt sich aus der Begründung indes nicht. Im Gegenteil: Der Gesetzentwurf bekennt sich genauso wie der Referentenentwurf seitenweise zu den Vorteilen der audiovisuellen Dokumentation[41] und nimmt damit – vermeintlich – den „Ball“ der Kommission und des Referentenentwurfs auf. Die Beschränkung ist auch nicht der „Erprobung“ geschuldet. Zwar ist geplant, die Reform an diesem Punkt hinsichtlich der Verbesserung der Wahrheitsfindung in fünf Jahren nach Inkrafttreten des Gesetzes zu evaluieren,[42] doch soll dies ausweislich der Begründung nur dazu dienen, darüber nachzudenken, ob die Aufzeichnungspflicht auf „andere schwere Straftaten“ (und nicht auch auf Zeugenvernehmungen) ausgeweitet werden kann.[43] Die doppelte Limitierung der zwingenden audiovisuellen Dokumentation auf Beschuldigte in vorsätzlichen Tötungsverfahren ist also „Programm“. Während man aus Sicht der Verteidigung gegen eine auf vorsätzliche Tötungsverfahren beschränkte Einführung der audiovisuellen Dokumentation nichts einwenden kann,[44] muss die Beschränkung auf Beschuldigtenvernehmungen Widerspruch erzeugen. Der Zeugenbeweis ist bekanntermaßen das wichtigste[45] und zugleich unzuverlässigste Beweismittel[46] der StPO, dessen Beweiswert im Laufe eines Strafverfahrens durch den Zeitablauf und die Verblassungstendenz des menschlichen Gedächtnisses sogar noch abnimmt.[47] Insofern würden die Vorteile der audiovisuellen Dokumentation, die die Bundesregierung selbst hervorhebt, gerade hier beträchtliche Wirkung für die Wahrheitsermittlung entfalten. Mit dem zusätzlichen Aufwand alleine wird man die Entscheidung der Bundesregierung nicht begründen können.[48] Das Fazit der Neuregelung fällt somit gemischt aus: Als Vorteil steht für den Beschuldigten, dass sowohl der Inhalt seiner Aussage im Ermittlungsverfahren als auch die Einhaltung der Förmlichkeiten durch die Vernehmungsbeamten wenigstens in vorsätzlichen Tötungsverfahren und im Falle der Vernehmung besonders schutzwürdiger Personen zweifelsfrei dokumentiert werden.[49] Dies ist für diese Fälle – anders als im Referentenentwurf – zwingend vorgesehen[50] und wird gerade dann Schutzwirkung entfalten, wenn der Beschuldigte ohne Verteidiger vernommen wird.[51] Als Nachteil steht zu befürchten, dass in der Hauptverhandlung dieser Tötungsverfahren eine zweigeteilte Beweis- bzw. Glaubhaftigkeitswürdigung eingeführt wird. Gibt der Beschuldigte im Ermittlungsverfahren eine audiovisuell dokumentierte Sacheinlassung ab, wäre es für das Gericht in der Hauptverhandlung einfach(er), die Einlassung des Angeklagten auf Widersprüche zu untersuchen bzw. die Einlassung auf ihre Konsistenz zu überprüfen. Hiergegen kann zunächst nichts einzuwenden sein. Allerdings können die Aussagen der Zeugen mangels gleicher Dokumentation einer solchen intensiven Prüfung nicht unterzogen werden, mit der Folge, dass ein Ungleichgewicht bei der aussagepsychologischen Würdigung eintreten wird. Dies wird Auswirkungen vor allem auf Verfahren mit „Aussage-gegen-Aussage“ Konstellationen haben, in denen eine geschlossene Darstellung der ersten Vernehmung bei der Polizei zentraler Ankerpunkt zur Beurteilung der Glaubhaftigkeit der Aussage ist.[52] Da diese bei Zeugen audiovisuell nicht dokumentiert sein wird, wird es den Gerichten – profan gesprochen – nicht einfacher gemacht werden, den Zeugen „Glauben zu schenken“, wenn zeitgleich eine vollständige Dokumentation einer frühen ersten Vernehmung des Angeklagten vorliegt (samt körpersprachlicher Signale). Dagegen mag man einwenden, dass „Aussage-gegen-Aussage“ Konstellationen in Totschlags- und Mordverfahren die Ausnahme bilden. Das Ungleichgewicht wird aber auch in den Verfahren, in denen diese Konstellation nicht vorliegt in die Beweiswürdigung ausstrahlen. Diesmal zu Lasten des Beschuldigten: Kleinste Unsicherheiten in seiner Vernehmung (Mimik, langes Zögern auf Fragen, Stimmlage etc.) werden in das Hauptverfahren transportiert. Diese wiegen dort für die Glaubhaftigkeit des Beschuldigten schwerer als für den Zeugen,[53] dessen mögliche Defizite der ersten Vernehmung(en) unter dem Regime der Neuregelung im Verborgenen bleiben werden. Beide Varianten führen somit zu strukturellen Ungerechtigkeiten. Es macht den Anschein, als hätte die Bundesregierung die Friktionen nicht bedacht, die in der Beschränkung der audiovisuellen Dokumentation auf Beschuldigtenvernehmungen für die aussagepsychologischen Grundlagen der Beweiswürdigung liegen. Für die Wahrheitsermittlung und das Prinzip der Fairness ist mit dieser „gespaltenen“ Dokumentation jedenfalls nichts gewonnen. Die Chance, einen Meilenstein für die Weiterentwicklung des Strafprozesses zu markieren, scheint vertan.

4. Antrag auf Pflichtverteidigerbestellung (§ 141 StPO-E)

Ebenfalls einen Schritt zurück geht die Bundesregierung bei der Pflichtverteidigung. Der Referentenentwurf wollte durch Schaffung eines neuen § 141 Abs. 3 S. 4 StPO dem Beschuldigten schon im Ermittlungsverfahren ein eigenes Antragsrecht auf Bestellung eines Pflichtverteidigers zusprechen.[54] Auch diese Neuerung ging auf die Initiative der Kommission zurück. Diese hatte in der bisherigen Rechtslage eine „nicht hinnehmbare Rechtsschutzlücke“ gesehen, nicht zuletzt weil im Ermittlungsverfahren „häufig grundlegende Weichen für das gesamte Verfahren gestellt werden“.[55] Die Bundesregierung hat § 141 Abs. 3 S. 4 StPO des Referentenentwurfs gestrichen und damit das eigene Antragsrecht des Beschuldigten wieder entfernt. Auch hier erschließt sich aus der Begründung nicht, warum sich die Bundesregierung hierzu entschlossen hat.[56] Eingeführt wird – wie im Referentenentwurf ebenfalls verankert – die Pflicht des Richters, einen Pflichtverteidiger zu bestellen, wenn eine richterliche Vernehmung durchgeführt und dies durch die Staatsanwaltschaft beantragt wird oder zur Wahrnehmung der Rechte des Beschuldigten geboten erscheint. Eine Stärkung des Beschuldigten ist darin jedoch nicht zu sehen. Die Einführung der Pflichtverteidigerbestellung bei einer richterlichen Vernehmung beruht ausweislich der Begründung nur darauf sicherzustellen, dass die Aussagen von Belastungszeugen, die in der Hauptverhandlung absehbar nicht zur Verfügung stehen werden, später eingeführt werden können, ohne den fair trial-Grundsatz zu verletzen.[57] Die Regelung soll also nicht den Beschuldigten schützen, sondern zur Konservierung und Portabilität von Belastungsaussagen beitragen. Dagegen wäre nichts einzuwenden, wenn dem Beschuldigten zugleich ein eigenes Antragsrecht für das Ermittlungsverfahren zugesprochen würde. In dieser Form stellt die Neuregelung jedoch eine die Verfahrensbalance missachtende Schwerpunktsetzung der Bundesregierung dar.

5. Vorbereitender Termin (§ 213 StPO-E)

Eine kleinere Veränderung hat die Bundesregierung im Referentenentwurf hinsichtlich des Termins zur Vorbereitung vorgenommen. Nunmehr soll ein Termin zur Abstimmung des äußeren Ablaufs des Verfahrens nur bei Hauptverhandlungen durchgeführt werden, die voraussichtlich mehr als zehn Hauptverhandlungstage andauern werden.[58] Im Referentenentwurf war diese Vorgehensweise schon für Hauptverfahren mit mehr als drei Hauptverhandlungstagen vorgesehen. Angesichts des Sollcharakters der Vorschrift sowie der ohnehin weit verbreiteten Praxis, solche Gespräche nach Bedarf durchzuführen, wird diese Veränderung, wie auch die ganze Vorschrift, kaum Bedeutung erlangen.[59]

6. Erklärungsrecht der Verteidigung (§ 243 StPO-E)

Für die Verteidigung mit einem Nachteil versehen ist auch die geplante Erweiterung des § 243 StPO. Während der Referentenentwurf den Vorschlag der Kommission aufgenommen hatte, der Verteidigung einen gesetzlichen Anspruch auf Abgabe einer Eröffnungserklärung zuzusprechen, will die Bundesregierung dies im neuen § 243 Abs. 5 S. 2 StPO-E nur in bestimmten Fällen zulassen:

„Auf Antrag erhält der Verteidiger in besonders umfangreichen erstinstanzlichen Verfahren vor dem Land- oder Oberlandesgericht, in denen die Hauptverhandlung voraussichtlich länger als zehn Tage dauern wird, Gelegenheit, vor der Vernehmung des Angeklagten für diesen eine Erklärung zur Anklage abzugeben, die den Schlussvortrag nicht vorwegnehmen darf. Der Vorsitzende kann dem Verteidiger aufgeben, die weitere Erklärung schriftlich einzureichen, wenn ansonsten der Verfahrensablauf erheblich verzögert würde; § 249 Absatz 2 Satz 1 gilt entsprechend.“

Die Bundesregierung unterstellt für ihre Veränderung, dass (nur) in Verfahren mit mehr als zehn Hauptverhandlungstagen vor dem LG oder OLG eine Eröffnungserklärung der Verteidigung förderlich sei. Wenn man den Mehrwert des Erklärungsrechts jedoch darin sieht, dass die Verteidigung ihre Strategie gegenüber den übrigen Verfahrensbeteiligten offenlegt,[60] kann eine solch eingeschränkte Regelung des Erklärungsrechts kaum überzeugen. Die Erfahrung zeigt, dass die Verteidigung die Sinnhaftigkeit einer Eröffnungserklärung in jedem Verfahren individuell abwägt. Dabei gibt es Verfahren vor dem Strafrichter oder dem Schöffengericht, bei denen eine solche Erklärung einen Mehrwert darstellen kann, und Verfahren vor dem LG oder OLG, bei denen eine solche Erklärung überflüssig ist. Noch unklarer wird die Regelung, wenn man einbezieht, dass das neue Erklärungsrecht vor dem LG oder OLG nur gelten soll, wenn mit einer Hauptverhandlung von mehr als zehn Hauptverhandlungstagen zu rechnen ist.[61] Besser wäre es gewesen, an der Version des Referentenentwurfs festzuhalten, der überhaupt keine Differenzierung vorsah. Die Bundesregierung hat weiterhin den Wortlaut des Referentenentwurfs unverändert übernommen, dass der Verteidiger die Erklärung vor der Vernehmung des Angeklagten für diesen abgeben kann.[62] Der Gesetzesentwurf stellt in der Begründung nunmehr ausdrücklich klar, dass das neue Erklärungsrecht inhaltlich an dem Äußerungsrecht des Angeklagten ansetze und damit ein eigenes Recht des Verteidigers nicht geschaffen werde.[63] Aus diesem Grund muss davon ausgegangen werden, dass das in § 243 Abs. 5 S. 3 StPO-E geschaffene Erklärungsrecht als Einlassungssurrogat des Angeklagten gewertet werden wird. Die Begründung ist insofern an einer weiteren Stelle zweideutig, weil zugleich ausgeführt wird, dass die Eröffnungserklärung nicht immer Teile einer Einlassung enthalten werde.[64] Man wird aber nicht so weit gehen können, dies als Argument dafür heranzuziehen, dass die „Erklärung zur Anklage“ eine nicht verwertbare Prozesserklärung darstellt. Dies zeigt ein Blick auf eine andere prominente Vorschrift der StPO, in der das Wort „Erklärung“ enthalten ist, nämlich § 257 StPO. Die in diesem Rahmen erfolgte Erklärung des Angeklagten wird strafprozessual als Ergänzung der Einlassung nach § 243 Abs. 5 StPO gesehen.[65] Anders als in dem jetzt vorgesehenen Erklärungsrecht zur Anklage nach § 243  Abs. 5 S. 3 StPO-E wird in § 257 Abs. 2 StPO der Verteidigung ein eigenes Recht zur Erklärung eingeräumt, das der Verteidiger ausdrücklich auch dann ausüben kann, wenn der Angeklagte schweigt.[66] Die in dieser Vorschrift vorgenommene Differenzierung lässt Rückschlusse auf das neu in § 243 Abs. 5 S. 3 StPO-E verankerte Erklärungsrecht zu. Auch wenn der Verteidiger keine Einlassung vorträgt, wird die Erklärung angesichts der gesetzlichen Zuweisung (und der fehlenden Berechtigung zu einer Erklärung nach eigenem Recht) zukünftig der Beweiswürdigung unterliegen.[67] Aus Sicht der Verteidigung bieten sich so gesehen wenige Vorteile, nicht zuletzt weil in diesem Modell Folgefragen im Raum stehen, die erst noch geklärt werden müssen.[68] Für den schweigenden Angeklagten wird sich die Abgabe einer Erklärung kaum anbieten. Die im Gesetzesentwurf enthaltene Vorschrift ist daher insgesamt abzulehnen. Schon die Beschränkung auf erstinstanzliche Verfahren vor dem OLG und dem LG mit einer voraussichtlichen Dauer von mehr als 10 Hauptverhandlungstagen wird der Vielzahl an Verfahrenssituationen nicht gerecht und überzeugt nicht. Durch die Ausgestaltung der Erklärung als zurechenbare Erklärung des Angeklagten wird das Reformziel der Kommission verfehlt. Diese wollte die Erklärung des Verteidigers im Gesetz verankern, weil sie sich hierdurch eine Verbesserung der Transparenz der Hauptverhandlung erhoffte.[69]

7. Beweisantragsrecht (§ 244 Abs. 6 StPO-E)

Ebenfalls verschärft wurde die bereits im Referentenentwurf umgesetzte Empfehlung der Expertenkommission zum Beweisantragsrecht. Diese sah vor, § 244 Abs. 6 StPO dahingehend zu ändern, dass nach Abschluss der Beweisaufnahme den Verfahrensbeteiligten eine angemessene Frist zur Stellung von Beweisanträgen gestellt werden kann. Anträge, die nach dieser Frist gestellt werden, sollten dann erst mit dem Urteil beschieden werden können. Anders als bei der durch die Rechtsprechung entwickelten Fristenlösung,[70] die in der Fristverletzung (nur) ein signifikantes Indiz zur Prozessverschleppung nach § 244 Abs. 3 S. 2 StPO sieht, wird aus Sicht der Kommission und des Gesetzgebers durch die Neuregelung nicht in das Beweisrecht eingegriffen. Es werde nur der Zeitpunkt der Entscheidung verlagert.[71] Dagegen stehen Bedenken aus Sicht der Verteidigung im Raum, die vor allem darauf zurückzuführen sind, dass bei extensiver Auslegung der Vorschrift dem Gericht die Gelegenheit an die Hand gegeben wird, den Diskursprozess zu verkürzen.[72] Der Gesetzentwurf vertieft diese Problematik, weil er zwei Verschärfungen enthält:

 „Nach Abschluss der von Amts wegen vorgesehenen Beweisaufnahme kann der Vorsitzende eine angemessene Frist zum Stellen von Beweisanträgen bestimmen. Beweisanträge, die nach Fristablauf gestellt werden, können im Urteil beschieden werden; dies gilt nicht, wenn die Stellung des Beweisantrags vor Fristablauf nicht möglich war. Wird ein Beweisantrag nach Fristablauf gestellt, sind die Tatsachen, die die Einhaltung der Frist unmöglich gemacht haben, mit dem Antrag glaubhaft zu machen.“

Sollte es nach dem Referentenentwurf noch möglich sein, das Versäumnis fristgerechter Antragstellung zu entschuldigen,[73] wird nunmehr nicht auf das Verschulden des Antragstellers abgestellt, sondern darauf, ob die Stellung des Beweisantrags vor Fristablauf möglich war. Als Beispiel für eine Unmöglichkeit nennt die Begründung den Fall, dass ein „Beweismittel dem Antragsteller nach Ablauf der Frist bekannt geworden ist“.[74] Die Tatsachen, die dies belegen, muss die Verteidigung in Zukunft mit dem Antrag glaubhaft machen. Diese neuen Formulierungen müssen aufhorchen lassen, denn sie tangieren das „taktische Zurückhalten“ von Anträgen, das Teil nahezu jeder Verteidigungsstrategie ist,[75] in noch stärkerem Maße als der Referentenentwurf. Um die Neuregelung richtig bewerten zu können, darf man den Rahmen des derzeitigen Beweisrechts nicht aus den Augen verlieren. Das Beweisrecht ist so ausgestaltet, dass es dem Angeklagten und seinem Verteidiger das Recht gibt, Beweiserhebung gegen den Willen des Gerichts zu erzwingen, da hierdurch strukturelle Defizite des Strafprozesses kompensiert werden sollen.[76] Das starke Beweisrecht der Verteidigung in der Hauptverhandlung soll ihre schwache Stellung im Ermittlungsverfahren ausgleichen und so dem Angeklagten die Möglichkeit geben, die Verdachtshypothese zu entkräften. Dies war jedenfalls das „klassische“ Verständnis des historischen Gesetzgebers bei der Zweiteilung des Strafverfahrens in ein Ermittlungs- und Hauptverfahren.[77]  Wenn man diese Konzeption in die Bewertung einschließt, lässt sich nachvollziehen, warum aus Sicht von Verteidigern der Eingriff in das Beweisrecht als empfindlicher Eingriff in die Verfahrensbalance angesehen wird. Die Kritik an der Neuregelung (und an der Verschärfung durch den Gesetzentwurf) bezieht sich nicht so sehr auf die damit intendierte Eindämmung von Extremfällen. Das in der Praxis bestehende Bedürfnis der Tatgerichte, in diesen Fällen[78] eine gesetzliche Prozessregel an der Hand zu haben, dürfte auch Verteidigern im Prinzip einleuchten. Die Kritik an der Neuregelung speist sich aus der Sorge bzw. Erfahrung, dass eine Einschränkung des Beweisrechts in der Verfahrenswirklichkeit nicht auf diese Fälle beschränkt bleibt. Sowohl die Kommission als auch der Gesetzgeber haben in ihren Erwägungen unberücksichtigt gelassen, dass es neben Verteidigern, die das Beweisrecht nicht zur Kommunikation nutzen wollen, gleichfalls Gerichte gibt, die sich dem kommunikativen Diskurs in der Hauptverhandlung dadurch entziehen, dass Beweisanträge lange zurückgestellt und spät (nicht selten erst kurz vor Schluss des vom Gericht vorgesehenen Beweisprogramms) verbeschieden werden. In diesen Fällen wird man kaum der Verteidigung den Vorwurf machen können, dass sie erst „spät“ mit ihrem Beweisprogramm beginnt. Dasselbe gilt für die Konstellationen, in denen die Verteidigung bewusst das Ende des amtlichen Beweisprogramms abwartet, weil sie zunächst bewerten will, wie sich die Beweisführung der Anklage entwickelt.[79] Nach dem Willen der Bundesregierung wird das Gericht zukünftig in beiden dargestellten Konstellationen die Möglichkeit erhalten, eine Frist zu setzen und die Strategie der Verteidigung zu unterminieren.[80] Hinzu tritt, dass der Ausnahmetatbestand derart verschärft wird, dass es für die Verteidigung nur noch in sehr seltenen Ausnahmekonstellationen möglich sein wird, diese Voraussetzung zu erfüllen. Denn regelmäßig wird es bei den nach der Frist gestellten Anträgen nicht um neue Beweismittel, sondern um zurückgehaltene oder (spontan) neu entwickelte Anträge gehen. In der vom Referentenentwurf vorgesehenen Fassung wäre für das Stellen von Anträgen nach Fristablauf durchaus noch Raum gewesen.[81] Insgesamt ist daher Skepsis gegenüber der Neuregelung angebracht, da sie das Potential hat, die Verfahrensrealität des Beweisrechts so zu bestimmen, dass auch legitime Verteidigungsinteressen eingeschränkt werden.

IV. Bewertung und Ausblick

Der jetzige Entwurf bleibt weit hinter dem zurück, was die Kommission empfohlen und der Referentenentwurf formuliert hat. Nahezu alle vorgenommenen Veränderungen des Gesetzesentwurfs der Bundesregierung „kassieren“ die Verbesserungen für Bürger, denen die Rechtsgemeinschaft einen Tatvorwurf anlastet, wieder ein.[82] Sollte dieser Entwurf Gesetz werden, bliebe von der ursprünglichen Stoßrichtung der Kommission wenig übrig. Stattdessen würden sich dann überwiegend die Vorschläge durchsetzen, die die Strafverfolgung schärfen. Auffällig ist, dass die Bundesregierung die Veränderungen vor allem dort angesetzt hat, wo die Verteidigung – im Sinne offener Kommunikation – durch Partizipation gestärkt worden wäre. Man kann sich des Eindrucks daher nicht erwehren, dass die Entscheidungsträger der Veränderungen zu denjenigen gehören, die die Verteidigung grundsätzlich als „Störfaktor“ betrachten. Dies mag Spekulation sein. Es sei aber der Hinweis erlaubt, dass die „Krise der StPO“[83] nicht aus der (traditionell ohnehin nicht stark ausgestalteten)[84] Rolle der Verteidigung resultiert, sondern auf eine Vielzahl isolierter Reformen zurückgeht, in deren Zentrum oft die „Überbetonung des staatlichen Interesses an der strafrechtlichen Rechtsdurchsetzung“ stand.[85]  Entscheidend ist, dass die von der Regierung vorgenommenen Veränderungen dem von der Kommission formulierten Programm nicht gerecht werden. Diese hatte neben der Verfahrensbeschleunigung als einem Ziel auch die Stärkung der Beschuldigtenrechte und die Förderung von Transparenz und Kommunikation im Strafverfahren als Leitlinien der Reform ausgegeben, wozu sich auch der jetzt vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregierung auf dem Papier bekennt.[86] In der Sache wird er diesen Zielen aber nicht gerecht.

 

[1]      Der Entwurf wurde gemäß Art. 76 Abs. 2 S. 1 GG zuerst dem Bundesrat, BR-Drs. 796/16, zugeleitet. Am 10.2.2017 hat der Bundesrat zum Gesetzesentwurf der Bundesregierung, BT-Drs. 18/11277, S. 43 (Anlage 3) Stellung bezogen. Die Bundesregierung hat hierauf, BT-Drs. 18/11277, S. 47 (Anlage 4), eine Gegenäußerung abgegeben, bevor am 9.3.2017 der Bundestag seine Beratung aufgenommen hat.
[2]      Zum Bericht der Expertenkommission Basar, StraFo 2016, 226.
[3]      Zum Vergleich des Referentenentwurfs mit den Empfehlungen der Expertenkommission Basar/Schiemann, KriPoZ 2016, 177.
[4]      Zur Ehrenrettung soll nicht unterschlagen werden, dass ein Teil der die Verteidigung stärkenden Reformvorschläge der Expertenkommission schon nicht Teil des diesem Gesetzesentwurf vorausgegangenen Referentenentwurfs gewesen sind, sondern in einen eigenen Gesetzesentwurf zur „Stärkung der Verfahrensrechte von Beschuldigten“ überführt wurden, vgl. Basar/Schiemann, KriPoZ 2016, 177 (177) und zum aktuellen Stand: KriPoZ.de/2016/06/20/zweites-gesetz-zur-staerkung-der-verfahrensrechte-von-beschuldigten-im-strafverfahren-und-zur-aenderung-des-schoeffenrechts-2/ (zuletzt geprüft am 7.3.2017).
[5]      Ausgenommen bleiben die besonders schweren Fälle nach § 240 Abs. 4 StGB. Der Gesetzesentwurf, BT-Drs. 18/11277, S. 37, betont, dass der Verweis auf § 374 StPO vor allem Privatstreitigkeiten erfassen soll. Er geht davon aus, dass Nötigungen im Straßenverkehr wegen des öffentlichen Interesses nach § 376 StPO unverändert von der Staatsanwaltschaft verfolgt werden.
[6]      Vgl. Basar/Schiemann, KriPoZ 2016, 177 (189) mit Verweis auf BR-Drs. 120/10 und Beck, ZRP 2011, 21; Erb, StV 2010, 655.
[7]      Dies betrifft vor allem die Entscheidung über das Vorliegen der Zeugeneigenschaft oder das Vorliegen von Zeugnis- oder Auskunftsverweigerungsrechten.
[8]      So für den Referentenentwurf schon Basar/Schiemann, KriPoZ 2016, 177 (189).
[9]      BT-Drs. 18/11277, S. 28.
[10]    Die Stellungnahme der BRAK Nr. 24/2016 geht davon aus, dass schon der wortgleiche Referentenentwurf so zu verstehen sei, dass nur Entscheidungen im Einzelfall getroffen werden können. Genau hier liegt aber die Krux der Neuerung. Wenn diese so verstanden würde, dass nicht mehr eine Einzelfallentscheidung vorgenommen wird, sondern von der Staatsanwaltschaft globale Aufträge erteilt werden, würde dies die Kontrolle der Staatsanwaltschaft konterkarieren und faktisch zu einer generellen Erscheinenspflicht führen. Eine solche hat die Expertenkommission in ihrem Bericht, S. 57, aber ausdrücklich abgelehnt.
[11]    Zu den Bedenken, die sich im Kern gegen eine extensive Nutzung dieser Neuerungen richten, vgl. die Stellungnahme Nr. 24/2016 der Bundesrechtsanwaltskammer, abrufbar unter www.brak.de.
[12]    Beides muss nicht übermäßig kritisiert werden, vgl. für die gleichlautende Regelung im Entwurf Basar/Schiemann, KriPoZ 2016, 177 (192).
[13]    Dies ist einer der wenigen Punkte, der allseits auf Zustimmung stößt.
[14]    Zur (allenfalls leichten) Kritik vgl. Basar/Schiemann, KriPoZ 2016, 177 (192).
[15]    Basar/Schiemann, KriPoZ 2016, 177 (188). Der Deutsche Richterbund hatte diese Neuerung abgelehnt, vgl. www.drb.de/stellungnahmen/2016/stpo-reform-2-stellgn.html (zuletzt geprüft am 7.3.2017); der Strafrechtsausschuss der Bundesrechtsanwaltskammer hatte sie dagegen begrüßt, vgl. Stellungnahme Nr. 24/2016, abrufbar unter www.brak.de.
[16]    Zum aktuellen Rechtsstand vgl. Trück, in: MüKo-StPO, 1. Aufl. (2014), § 81h Rn. 17.
[17]    Zu pro und contra einer gesetzlichen Regelung vgl. Swoboda, StV 2013, 461 und Busch, NJW 2013, 1771.
[18]    BGH, StV 2013, 427.
[19]    BT-Drs. 18/11277, S. 20.
[20]    Vgl. zur jetzigen Rechtslage Meyer-Goßner/Schmidt, StPO, 58. Aufl. (2015), § 81e Rn. 4 und die Entscheidungen des LG Ravensburg, NStZ-RR 2010, 16 und LG Offenburg, StV 2003, 153.
[21]    Krause, in: LR, 26. Aufl. (2008), § 81e Rn. 37.
[22]    Trück, in: MüKo-StPO, 1. Aufl. (2014), § 81h Rn. 14.
[23]    BT-Drs. 18/11277, S. 43 (Anlage 3).
[24]    Rogall¸in: SK-StPO, 4. Aufl. (2013), § 81e Rn. 9 bezeichnet die bestehende Regelung als zu eng, da sie eine Untersuchung auf äußere Körpermerkmale des Spurenlegers untersagt.
[25]    Ablehnend insofern jüngst Jahn, ZRP 2017, 1, der bei einer Erweiterung die Vorgaben der Entscheidung des BVerfG (NJW 1996, 771) verletzt sehen will. Rogall¸in: SK-StPO, 4. Aufl. (2013), § 81e Rn. 9 sieht dagegen verfassungsrechtlich keine Bedenken. Bosch, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier-StPO, 2. Aufl. (2016), § 81e Rn. 6, hält der bisherigen Einschränkung des Untersuchungszwecks zu Gute, dass sie eine abstrakt kaum mögliche Abwägung vermeidet, durch welche Feststellungen das Persönlichkeitsrecht des Betroffenen unangemessen beeinträchtigt wird.
[26]    BT-Drs. 18/11277, S. 47 (Anlage 4).
[27]    BT-Drs. 18/11277, S. 18.
[28]    Wörtlich sollte der neue § 26 Abs. 1 S. 2 StPO so gefasst werden: „§ 257a findet für die Begründung des Ablehnungsgesuchs entsprechende Anwendung; das Gericht kann hierfür eine angemessene Frist setzen.“
[29]    Die jetzige Fassung des § 26 Abs. 1 S. 2 StPO-E: „Das Gericht kann dem Antragsteller aufgeben, ein in der Hauptverhandlung angebrachtes Ablehnungsgesuch innerhalb einer angemessenen Frist schriftlich zu begründen“.
[30]    Basar/Schiemann, KriPoZ 2016, 177 (186) und für die gleichlautende Empfehlung der Kommission Basar, StraFo 2016, 226 (233).
[31]    Gesetzesentwurf der Bundesregierung, S. 18; s. auch Diemer, in: KK-StPO, 7. Aufl. (2013), § 257a Rn. 3.
[32]    Überspitzt gesagt: Die Verfasser sind wohl der Auffassung, man brauche § 257a StPO nicht, um zum gewünschten Ergebnis zu kommen.
[33]    Diese Möglichkeit besteht für die Anordnung nach § 257a StPO, vgl. Eschelbach, in: BeckOK-StPO, Stand: 1.10.2016, § 257a Rn. 3.
[34]    Die Anordnung nach § 257a StPO kann nach Eschelbach, in: BeckOK-StPO, Stand: 1.10.2016, § 257a Rn. 2 dazu führen, dass für die nach der Anordnung gestellten Anträge eine „Geisterverhandlung“ geführt wird. Dies dürfte für die Fälle zutreffen, in denen das Gericht die Anträge entgegennimmt und anschließend im Selbstleseverfahren einführt.
[35]    Nicht zuletzt spielt hier eine Rolle, dass es für die Verteidigung vorzugswürdig ist, die Anträge schriftlich vorzubereiten, da die Begründung nicht protokolliert wird und ein Anspruch nach § 273 Abs. 3 StPO nicht besteht. In der Literatur wird deswegen empfohlen – vor allem in Hinblick auf §§ 338 Nr. 3, 344 Abs. 2 S. 2 StPO – die Begründung dem Gericht in schriftlicher Form zu übergeben, damit diese als Anlage zum Protokoll genommen wird, vgl. Conen/Tsambibakis, in: MüKo-StPO, 1. Aufl. (2014), § 26 Rn. 7; Scheuten, in: KK-StPO, 7. Aufl. (2013), § 26 Rn. 2.
[36]    Sowohl der Bericht der Expertenkommission als auch der Referentenentwurf haben sich in aller Deutlichkeit dazu bekannt, dass eine solche Dokumentation für die Wahrheitsfindung vorteilhaft sei. In erfrischender Ehrlichkeit wurden Defizite der herkömmlichen Vernehmungsdokumentation eingeräumt. Vgl. zu den Defiziten des status quo auch Leitner, Videotechnik im Strafverfahren, 2012, S. 101f.
[37]    Die Expertenkommission hatte sowohl die Kataloge des § 140 StPO als auch des § 100a StPO als Möglichkeiten in den Raum gestellt. Der Referentenentwurf war beidem nicht gefolgt und hatte stattdessen für § 58a StPO eigene Anknüpfungspunkte vorgesehen. Abgestellt wurde auf die „Schwere des Tatvorwurfs“ oder die „besonders schwierige Sachlage“, die es als „geboten erscheinen“ lassen, die Vernehmung eines Zeugen aufzuzeichnen. Zum Ganzen samt der Folgefragen Basar/Schiemann, KriPoZ 2016, 177 (187).
[38]    So noch der Referentenentwurf, S. 19.
[39]    BT-Drs. 18/11277, S. 1 f.
[40]    Eine Einführung ist allenfalls im Rahmen von § 254 StPO-E vorgesehen.
[41]    BT-Drs. 18/11277, S. 22 ff.: Die audiovisuelle Aufzeichnung gebe den Verlauf einer Vernehmung authentisch wieder und sei dem herkömmlichen schriftlichen Inhaltsprotokoll daher überlegen. Konserviert würden nämlich auch die Wahrnehmungsmängel, die nicht zuletzt darauf zurückzuführen seien, dass der Vernehmungsbeamte mit der Mitschrift „belastet“ sei. Zunächst weniger wichtige Aspekte einer Aussage, die keinen Eingang in das Inhaltsprotokoll fänden, jedoch im weiteren Verlauf der Ermittlungen infolge neuer Erkenntnisse Bedeutung erlangten, würden festgehalten. Dies gelte auch für körpersprachliche Signale, deren Interpretation erst im Laufe des Verfahrens an Bedeutung gewinne. Auch für eine Hauptverhandlung biete die Aufzeichnung Vorteile, indem zeitraubenden Streitigkeiten darüber, ob und wann und wie etwas gesagt wurde, von vornehinein der Boden entzogen sei. Entbehrlich sei dann auch die Ladung des Vernehmungsbeamten zur Einführung der früheren Aussage als Zeuge vom Hörensagen (samt minderer Beweisqualität).
[42]    BT-Drs. 18/11277, S. 17.
[43]    A.a.O., S. 22.
[44]    Immerhin handelt es sich um eine Verbesserung zum jetzigen Rechtszustand.
[45]    Barton, Einführung in die Strafverteidigung, 2. Aufl. (2013), § 14 Rn. 1; Gerst, in: Gerst (Hrsg.), Zeugen in der Hauptverhandlung, 1. Aufl. (2016), Rn. 6 mit Verweis auf die Rechtsprechung des Großen Senats des BGH vom 17.10.1983.
[46]    Sommer, Effektive Strafverteidigung, 3. Aufl. (2016), Rn. 1338.
[47]    Bender/Nack/Treuer, Tatsachenfeststellung vor Gericht, 4. Aufl. (2014), Rn. 115 ff.
[48]    Laut polizeilicher Kriminalstatistik gab es 2015 etwa 2000 Mord- und Totschlagsverfahren. Die Einbeziehung von Zeugen in die Dokumentationspflicht würde zwar einen deutlichen Mehraufwand nach sich ziehen, wäre aber angesichts des Anteils dieser Verfahren an den erfassten Gesamtfällen beherrschbar. Dem Mehraufwand stünden überdies Effizienzgewinne (Entbehrlichkeit der Ladung von Vernehmungsbeamten) entgegen.
[49]    Bender/Nack/Treuer, Tatsachenfeststellung vor Gericht, 4. Aufl. (2014), S. 291. Dies ist natürlich nur als Vorteil zu werten, wenn man dies mit der jetzigen Rechtslage vergleicht.  Blickt man indes auf den Referentenentwurf ist die Regelung des Gesetzesentwurfs der Bundesregierung ein Rückschritt.
[50]    Der Bundesrat hat in seiner Stellungnahme, BT-Drs. 18/11277, S. 44 allerdings dafür plädiert, das im Referentenentwurf enthaltene Kriterium der Gebotenheit wieder einzuführen, um „Beurteilungsspielräume für eine erforderliche Abwägung im Einzelfall zu eröffnen“. Befürchtet wird, dass der Beschuldigte sich erkennbar gegen die Aufzeichnung sträubt, durch diese offenkundig gehemmt ist oder sie für sachfremde (z. B. selbstdarstellerische) Zwecke missbraucht. Daher sei auch zu befürchten, dass Beschuldigte gezwungen wären, zu schweigen, obwohl sie aussagen wollten. Die Bundesregierung, BT-Drs. 18/11277, S. 47 hat darauf verwiesen, dass im Gesetzesentwurf vorgesehen ist, dass der Aufzeichnung die äußeren Umstände oder die besondere Dringlichkeit nicht entgegenstehen dürfen. Da dem Beschuldigten ohnehin das Recht zusteht, die Aussage zu verweigern, sei eine weitere Schaffung von Ausnahmen nicht angezeigt. Die Bedenken des Bundesrates hinsichtlich eines aussagebereiten Beschuldigten, der ungern „vor der Kamera“ sprechen möchte, sind nicht völlig aus der Luft gegriffen. Es mag Konstellationen geben, in denen die avisierte (zwingende) Neuregelung, den Beschuldigten in die Schweigeverteidigung „treibt“. Im Ergebnis spricht dies aber nicht dafür, die jetzige Regelung noch weiter zu verwässern, sondern zur Regelung des Referententwurfs zurückzukehren. Wenn die Aufzeichnung gleichmäßig für alle Aussagen in einem Strafverfahren implementiert wird, wird der „gehemmte“ Beschuldigte besser nachvollziehen können, dass dies ein üblicher Vorgang ist, der sich nicht ausschließlich gegen ihn richtet. Es wird Aufgabe der Verteidiger sein, den Beschuldigten über die Vorteile zu informieren, die die Aufzeichnung im Gegensatz zum herkömmlichen Inhaltsprotokoll für den Beschuldigten hat. Die Anzahl der Fälle, in denen Aussagen nur wegen der Aufzeichnung nicht getätigt werden, dürfte überschaubar sein.
[51]    Es wird spannend sein zu beobachten, wie sich dies auf die Strategie der Vernehmungsbeamten in diesen Verfahren auswirken wird. Die von Bender/Nack/Treuer, Tatsachenfeststellung vor Gericht, 4. Aufl. (2014), S. 208 und Leitner, Videotechnik im Strafverfahren, 2012, S. 102 formulierten Kritikpunkte bei polizeilichen Vernehmungen dürften zunehmend in den Fokus der Beweiswürdigung rücken.
[52]    Beispielhaft BGH, StV 2014, 720.
[53]    Dabei spielt eine Rolle, dass der Angeklagte nach Eschelbach, in: BeckOK-StPO, Stand: 1.10.2016, § 261 Rn. 12 schon zu Beginn des Hauptverfahrens gegenüber dem Richter im Vergleich zu den Zeugen mit einer „ungünstigeren“ Glaubwürdigkeitseinschätzung hinsichtlich seiner Person konfrontiert ist. Etwas vereinfacht gesagt: Der Angeklagte ist gegenüber einem Zeugen noch vor der ersten Vernehmung in der Hauptverhandlung hinsichtlich seiner Glaubwürdigkeit im „Hintertreffen“.
[54]     Den Antrag hätte er bei der Staatsanwaltschaft stellen müssen.
[55]     Bericht der Expertenkommission, S. 44.
[56]     Die Passagen, mit denen das eigene Antragsrecht des Beschuldigten im Referentenentwurf begründet wurde, sind nicht mehr enthalten.
[57]     BT-Drs. 18/11277, S. 26 f. Hier geht es also um die Wahrung des Konfrontationsrechts.
[58]    Der Bundesrat, BT-Drs. 18/11277, S. 45 hat sich dafür ausgesprochen, dass Wort „Abstimmung“ durch das „Erörterung“ zu ersetzen, um den Anschein zu vermeiden, dass der Vorsitzende „Einvernehmen“ zum Ablauf der Verhandlung herzustellen habe. Die Bundesregierung BT-Drs. 18/11277, S. 48 hat diesem Vorschlag jedoch eine Absage erteilt. Sie sieht die Hoheit über den Verfahrensgang unverändert beim Gericht und hat zugleich dargelegt, dass das Wort im Gesetzesentwurf mit Bedacht gewählt worden ist, um klarzustellen, dass keine „Erörterung“ im Sinne der §§ 257b und 257c StPO gemeint ist.
[59]    Anders wäre dies nur, wenn der Erörterungstermin verpflichtend wäre. Dazu hatte sich aber schon die Kommission nicht durchringen können, vgl. Basar, StraFo 2016, 226 (234).
[60]    So sehen es auch der Bundesrat und die Bundesregierung, BR-Drs. 796/16, S. 33/34 = BT-Drs. 18/11277, S. 31/32.
[61]    Die Folgefrage, die sich aus Verteidigersicht aufdrängen muss, ist, worauf bei der voraussichtlichen Dauer abgestellt wird. Es gibt nicht wenige Verfahren, in denen das Gericht die „strittigen“ Punkte „anverhandelt“, um Verfahrenserörterungen auf eine breitere Erkenntnisbasis zu stellen. Verfahren, bei denen diese Vorgehensweise angewandt wird, haben meist das Potential, weit über 10 Tage verhandelt zu werden. Wenn man für die Bewertung, ob der Verteidigung ein Anspruch nach § 243 Abs. 5 S. 2 StPO zusteht, auf den ersten Ladungsplan abstellte, könnte dies dazu führen, dass ihr kein Erklärungsrecht zustünde, obwohl – nach ergebnisloser Verfahrenserörterung – die Verhandlung dann abweichend von der ersten Planung doch weit mehr als 10 Hauptverhandlungstage andauert. Umgekehrt kann der Verteidigung auch ein Recht zustehen, obwohl die Verhandlung unerwartet abgekürzt wird.
[62]    Dies wurde so ausgelegt, dass die Erklärung des Verteidigers in Zukunft ohne Weiteres als Sacheinlassung des Angeklagten gewertet würde, was auf Ablehnung gestoßen ist. Der Strafrechtsausschuss der BRAK hat in seiner Stellungnahme 24/2016 ausgeführt, dass die Erklärung des Verteidigers keine solche des Angeklagten sei und man nichts gewinne, wenn man ihr diese Bedeutung beimesse. In der Tat wäre es etwas künstlich, eine Erklärung der Verteidigung, die sich vielleicht nur zum Ermittlungsergebnis positioniert und die Richtung der Verteidigung ankündigt, in eine Sacheinlassung umzuwidmen.
[63]    BT-Drs. 18/11277, S. 31.
[64]    A.a.O., S. 32.
[65]    Velten, in: SK-StPO, 5. Aufl. (2016), § 257 Rn. 3.
[66]    Stuckenberg, in: KMR-StPO, Lieferung 22. März 2000, § 257 Rn. 17; Velten, in: SK-StPO, 5. Aufl. (2016), § 257 Rn. 3.
[67]    Zur bisherigen Linie vgl. Meyer-Goßner/Schmidt, 58. Aufl. (2015),    § 261 Rn. 16a.
[68]    Die drängendste Frage wird es sein, ob eine solche Wirkung nur für die Fälle eintritt, in denen von dem gesetzlichen Erklärungsrecht Gebrauch gemacht wird. Damit zusammenhängend stellt sich die Folgefrage, ob überhaupt noch daran zu denken ist, dass das Gericht im Rahmen der Sachleitung – also ohne formellen Antrag der Verteidigung – der Verteidigung ein solches Erklärungsrecht zuspricht. Dies wird vor allem für die Verfahren relevant werden, in denen das gesetzliche Erklärungsrecht nicht gilt.
[69]    Für die Kommission war der ausschlaggebende Gesichtspunkt für die Bejahung des Erklärungsrechts, dass die Kommunikation zwischen den Verfahrensbeteiligten von Anfang an gestärkt werden würde, vgl. Bericht der Expertenkommission, S. 115.
[70]    Zum Ganzen Trüg/Habetha, in: MüKo-StPO, 1. Aufl. (2016), § 244 Rn. 329 f.
[71]    Basar/Schiemann, KriPoZ 2016, 177 (191) mit Fundstellen und BT-Drs. 18/11277, S. 33.  
[72]    So vor allem Börner, StV 2016, 681.
[73]    Referentenentwurf, S. 42.
[74]    BT-Drs. 18/11277, S. 33.  
[75]    Dessen war sich die Kommission durchaus bewusst, vgl. Bericht der Expertenkommission, S. 143.
[76]    Trüg/Habetha, in: MüKo-StPO, 1. Aufl. (2016), § 244 Rn. 1.
[77]    Basar, Modernes Strafrecht, 1. Aufl. (2014), S. 82.
[78]    Als Musterbeispiel für einen solchen Extremfall gilt nach Trüg/Habetha, in: MüKo-StPO, 1. Aufl. (2016), § 244 Rn. 329 der Fall, der der BGH Entscheidung (NJW 2005, 2466) zur Beweisantragsfrist zu Grunde lag. Hier hatte die Verteidigung nach Abschluss der Beweisaufnahme noch 320 Beweisanträge gestellt.
[79]    Trüg/Habetha, in: MüKo-StPO, 1. Aufl. (2016), § 244 Rn. 149.
[80]    Einzige Voraussetzung für die Setzung einer Frist ist das Ende der (vom Gericht) vorgesehenen amtlichen Beweisaufnahme.
[81]    Die Kommission, auf die der Vorschlag im Referentenentwurf unverändert zurückging, war sich durchaus bewusst, dass sich auch nach Ablauf der Fristsetzung die Notwendigkeit zur Stellung von Anträgen ergeben kann. In dem Gutachten von Krauß (vgl. Anlagenband I, S. 578), in dem er für die „maßvolle“ Einführung einer Präklusionsvorschrift plädiert, wird darauf hingewiesen, dass ein Wiedereintritt in die Beweisaufnahme dann zugelassen werden sollte, wenn sich erst aus den Schlussvorträgen das Erfordernis ergibt, einen zunächst nicht für erforderlich gehalten Beweisantrag zu stellen.
[82]    Der Deutsche Richterbund hat die Veränderungen begrüßt und festgestellt, dass zahlreiche „Petita des Deutschen Richterbundes aufgenommen“ worden sind, vgl. www.drb.de/stellungnahmen/2016/stpo-reform-2-stellgn.html (zuletzt geprüft am 7.3.2017).
[83]    So Kühne, in: LR, 27. Aufl. (2016), Einl. Abschn. F. Rn. 214; zustimmend Rieß, ZIS 2009, 466 (482).
[84]    Ignor, Geschichte des Strafprozesses in Deutschland 1532 – 1866, 2002, S. 12. 
[85]    Kühne, in: LR, 27. Aufl. (2016), Einl. Abschn. F. Rn. 236.
[86]    BT-Drs. 18/11277, S. 11 ff.

 

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