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Videokonferenz im türkischen Strafprozessrecht

von Dr. Erdal Yerdelen

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Abstract
Durch die aufkommende Technologie entstehen im Bereich der Rechtswissenschaft sowohl Entlastungen als auch Gefahren. Der Einsatz der Videokonferenztechnik im Bereich des Strafverfahrens bietet große Vorteile, insbesondere, wenn sich die zuständige Institution und der Angeklagte an verschiedenen Orten befinden. Die Tatsache, dass der Angeklagte bei der Vernehmung physisch nicht anwesend sein muss, wirft allerdings einige Fragen bezüglich des Unmittelbarkeitsprinzips auf. Außerdem ist der rechtliche Charakter der Videokonferenztechnik im Strafverfahren umstritten. Dazu existieren drei Ansichten. Die erste Ansicht sieht darin ein Amtshilfeersuchenan ein anderes Gericht.Nach der zweiten Ansicht soll die Situation genauso betrachten werden, wie wenn der Angeklagte persönlich vor Gericht erschienen wäre. Des Weiteren wird es auch als prozessrechtliches System sui generis bezeichnet. Im Folgenden werden der rechtliche Charakter der Videokonferenz und die Legitimation ihrer Anwendung im Strafverfahren dargelegt.

I. Einleitung

Die Entwicklungen der Videokonferenztechnologie haben aufgrund der Steigerung der Internetgeschwindigkeit und der sinkenden Internetpreise einen nicht vorstellbaren Stand erreicht.[1] Der weit verbreitete Einsatz von Videokonferenzen ermöglicht die Zusammenarbeit von Menschen von zu Hause oder aus der Ferne, aus Konferenzen, Schulungen und anderen Veranstaltungen, an denen von vielen verschiedenen Orten teilgenommen werden kann.[2] Dies bringt im Justizsystem, insbesondere dadurch, dass eine Verbindung zwischen der Justizbehörde und der abwesenden Person geschaffen werden kann, erhebliche Entlastungen mit sich. Aus diesem Grund wird sie in verschiedenen Ländern in justizförmigen Verfahren eingesetzt.

II. Audiovisuelles Informationssystem

Das audiovisuelle Informationssystem ist ein Multimediasystem, mit dem Bild und Ton gleichzeitig auf die elektronische Ebene (Nationale Justiz-Netzwerk-Plattform) weitergeleitet und dort gespeichert werden.[3] Das System erfordert, dass Bild und Ton zeitgleich und in sicherer Weise übertragen und aufgezeichnet werden. Die Bildqualität sollte ausreichend effektiv sein, um die Gesichtsausdrücke, die Körperbewegungen, die Haltung und das Verhalten von den betroffenen Personen sachgemäß beobachten beziehungsweise betrachten zu können. Durch die Qualität des Tones sollten die Gefühle der Betroffenen wahrgenommen und das Gesagte verständlich gehört werden können. Informationen, Dokumente und Beweise werden unmittelbar elektronisch übermittelt. Die durch das audiovisuelle Informationssystem erlangten Beiträge werden nach der elektronischen Signatur durch die zuständige Behörde sicher verwahrt.[4]

III. Die Möglichkeiten des audiovisuellen Informationssystems in der Justiz

Durch das audiovisuelle Informationssystem werden die Vernehmung und die Gerichtsverhandlung per Video aufgenommen und protokolliert. Diese Videoaufnahmen können von der Staatsanwaltschaft und dem Gericht beliebig oft angesehen werden.[5] Dies sorgt dafür, dass der Staatsanwalt und der Richter die Vernehmung der Betroffenen inhaltlich korrekt erfassen können, sodass keine Verständnisfehler entstehen. Infolgedessen könnte in großem Maße die Anzahl von Beschwerden reduziert werden.[6] Außerdem müssten sich Staatsanwalt, Richter und Gericht während der Vernehmung oder des Verhörs nicht mehr derart auf das Protokoll konzentrieren. Dadurch können die Beteiligten des Strafverfahrens so zusammengebracht werden, als wären sie tatsächlich anwesend. Die Videoaufnahmen dürfen von den Beteiligten, die während der Aufnahme abwesend waren, nachträglich angesehen werden. Somit wird das Mündlichkeitsprinzip berücksichtigt. Die Aussagen im Ermittlungsverfahren sollen ebenso durch das Gericht begutachtet werden, wodurch das Gericht dessen Richtigkeit leichter beurteilen kann.[7]

Die Vernehmungen, die durch den Staatsanwalt oder das erstinstanzliche Gericht mit Hilfe des audiovisuellenInformationssystems aufgenommen worden sind, können ebenso in der Berufungsinstanz eingesehen werden. Durch diese Videokonferenztechnik werden die Bilder und der Ton der Zeugen, deren Vernehmung in der Abwesenheit der Beteiligten stattgefunden hat, an das Gericht, vor dem sie sich befinden, übertragen.[8] Diese Aufnahmen und das Verhalten der Personen werden so bewertet, als wären sie anwesend.

Das audiovisuelle Informationssystem ermöglicht den zuständigen Ermittlungs- oder Verfahrensbehörden, Verlauf und Inhalte der Vernehmung auch noch im Nachhinein durch Wiedergabe der Videoaufnahmen zur Kenntnis zu nehmen.[9] Den Personen, die während der Vernehmung oder des Verhörs nicht anwesend sein können, wird es durch dieses System ermöglicht, bei der zuständigen Behörde zumindest visuell zu erscheinen, sodass die Beteiligten auf diesem Wege zusammengebracht werden und die Behörde die Personen trotz physischer Abwesenheit sehen sowie befragen kann.[10] So wird das Unmittelbarkeits- und Mündlichkeitsprinzip sowie der Grundsatz der Waffengleichheit gewahrt. Dadurch sinkt die Einsatzzahl der beauftragten Richter und die Zahl der sog. “Weg”-Verhaftungen.[11] So wird insbesondere den Nachteilen, die auf der “Weg”-Verhaftung basieren, entgegengewirkt[12] und die durch die “Weg”-Verhaftung entstehenden Fahrtkosten können erheblich gesenkt werden.[13] Außerdem können Gefangene, die sich in der Strafvollzugsanstalt befinden, mithilfe der Videokonferenztechnik an der Gerichtsverhandlung teilnehmen und angehört werden.[14]

IV. Die Gesetzgebung zum audiovisuellen Informationssystem

In den Artikeln 52, 58, 147, 180, 196 sowie 219 der türkischen Strafprozessordnung (tStPO) wird die Durchsetzung des audiovisuellen Informationssystems normiert. Die Anwendung dieses Systems ist in manchen Fällen obligatorisch.[15] Am 20.9.2011 ist die Richtlinie zum audiovisuellen Informationssystem in Kraft getreten.[16] Das Informatikdirektorium des Justizministeriums hat den Justizbehörden am 14.12.2011 mittels Dekret[17] Nr. 150 mitgeteilt, die Anwendung des audiovisuellen Informationssystem auf den Weg zu bringen. Es wird ferner die Art und Weise der Anwendung sowie deren Grundlage festgestellt.

In Art. 52, 58 tStPO wird geregelt, wie das audiovisuelle Informationssystem, insbesondere die Videokonferenztechnik, beim Verhör der Zeugen eingesetzt werden soll. Die Anwendung dieser Technik wird bzgl. der Vernehmung des Angeklagten in Art. 147, 196 tStPO, bzgl. des Verhörs der Zeugen und der Gutachter in Art. 180 tStPO geregelt. Die Speicherung der Aufnahmen ist in Art. 219 tStPO normiert. Speziell Art. 196 tStPO kommt wird im Folgenden noch besondere Bedeutung zu.

V. Die Anwesenheit des Angeklagten in der Gerichtsverhandlung

Der sich außerhalb des Gerichtsbezirkes befindende Angeklagte darf nur unter folgenden Voraussetzungen bei der Gerichtsverhandlung abwesend sein: Erstens muss er vor der Verhandlung verhört worden sein. Außerdem muss ein Beschluss beziehungsweise eine Anordnung des Gerichts vorliegen, dass der Angeklagte von der Teilnahme an den Sitzungen befreit ist.[18] Art. 196 Abs. 5 tStPO lautet: „Der Angeklagte, der aufgrund von Krankheit, Disziplinarmaßnahmen oder anderen Pflichtgründen zu einem Krankenhaus oder zu einer Untersuchungshaftanstalt außerhalb des Gerichtsbezirkes geliefert wurde, kann durch das Gericht von der Teilnahme an den Sitzungen, in denen er nicht anwesend sein muss, befreit werden, sofern sein Verhör vorher durchgeführt wurde.“

Diese Bestimmung wird durch den Kassationshof in seinem Beschluss am 10.6.2008, Geschäft-Nr.2008/9-148, Urteil-Nr. 2008/169 wie folgt ausgelegt: „Diese Bestimmung der Strafprozessordnung ist so zu interpretieren, ‘dass der Angeklagte deutlich zum Ausdruck bringt, nicht anwesend sein zu wollen“. In diesem Beschluss urteilte der Generalstrafsenat des Kassationshofes über einen Angeklagten, dessen Strafe wegen einer anderen Straftat außerhalb des Gerichtsbezirks, in dem das Verfahren stattfindet, vollstreckt war. In diesem Fall teilte der Angeklagte dem Gericht schriftlich mit, dass er in der Gerichtsverhandlung erscheinen wolle. Der Kassationshof sieht in dem Verhalten des Gerichts, in der Sache ohne Anwesenheit des Angeklagten und dessen Verteidiger zu entscheiden, ohne ihm die Möglichkeit zu geben, sich dazu zu äußern, eine Einschränkung des Verteidigungsrechts. Aus diesem Grund wurde das Urteil aufgehoben.[19]

Der 16. Strafsenat des Kassationshofes klärte diese Thematik in seinen drei Urteilen[20] und stellte zusammenfassend fest: „Der Angeklagte und sein Verteidiger lehnten ab, sich unter dem Einsatz der Videokonferenztechnik zu verteidigen. Der Angeklagte und sein Verteidiger beantragten standhaft, in der Gerichtsverhandlung persönlich zu erscheinen. Trotz dieses Antrags wurde sein Verhör mittels des audiovisuellen Informationssystems durchgeführt und der Angeklagte daraufhin verurteilt. Der Kassationshof sieht darin eine Einschränkung des Verteidigungsrechts des Angeklagten.“

In diesen Entscheidungen wird der Grundsatz „Kein Verfahren ohne den Angeklagten“ wie folgt erwähnt:

  1. Dem Angeklagten soll das Erscheinen in der Gerichtsverhandlung ermöglicht werden. Dieses Recht darf nur durch das Gericht unter engen Voraussetzungen eingeschränkt werden.
  2. Die Entscheidung des Angeklagten, mittels des audiovisuellen Informationssystems an den Sitzungen, in denen sämtliche Verteidigungsäußerungen stattfinden und Beweise aufgenommen werden, teilzunehmen, muss auf seinem freien und ausdrücklichen Willen beruhen.
  3. Die Verteidigung des Angeklagten mittels Videokonferenztechnik unter den oben erwähnten Voraussetzungen stellt keine Einschränkung des Verteidigungsrechtes dar, wenn nur sein Verteidiger anwesend ist. Darüber hinaus muss der Angeklagte, damit diese zum Einsatz kommen kann, an seiner Anwesenheit aus bestimmten Gründen gehindert sein.[21] Das audiovisuelle Informationssystem stellt in Art. 196 Abs. 5 tStPO ein „sekundäres Mindestrecht“ im Rahmen des Verteidigungsrechtes dar, das dem Angeklagten zuerkannt wird. Der Generalstrafsenat des Kassationshofes folgt der Auffassung des 16. Strafsenats in seinem Urteil im Juni 2017. Somit wird eine Abweichung in der Rechtsprechung beziehungsweise in unterschiedlichen Strafsenaten vermieden.

Es ist grundsätzlich von großer Wichtigkeit, dass der Angeklagte vor Gericht erscheint und sich im Gerichtssaal befindet, da dies eine Folge des Unmittelbarkeits- und des Mündlichkeitsprinzips ist. Sofern keine gerechtfertigten Gründe oder Beweise existieren, welche die Teilnahme des Angeklagten an den Sitzungen mittels des audiovisuellen Informationssystems erfordern, sollte der Angeklagte in der Gerichtsverhandlung persönlich anwesend sein. Der Angeklagte darf nicht ohne seinen Verteidiger vernommen werden. Ungerechtfertigte und unannehmbare Gründe wie etwa Sicherheitsprobleme oder verkehrsbedingte Schwierigkeiten führen schließlich zur Einschränkung des Verteidigungsrechts und der Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren.[22]

VI. Die Videokonferenztechnik aus Sicht des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte

Dem Fall „Marcello Viola/Italien“ des EGMR kommt große Bedeutung zu: Hier sind die Kriterien zu dieser Thematik aufgestellt worden. Der Antragsteller Marcello Viola musste ohne Einwilligung an drei Gerichtsverhandlungen im Berufungsverfahren mittels Videokonferenztechnik teilnehmen und wurde nicht von der Strafanstalt zur Verhandlung gebracht. Daher legte er Revision gegen das Urteil des Berufungsgerichts ein und berief sich dabei auf prozessuale Gründe. Der Kassationshof wies den Revisionsanspruch ab.

Die Regierung ist der Meinung, in diesem Fall würden alle Voraussetzungen zum Recht auf faires Verfahren erfüllt. Die Videokonferenztechnik sorge für die effiziente Teilnahme des Angeklagten an den Gerichtsverhandlungen. Dadurch könnte der Angeklagte sogar in der Strafanstalt verbleiben, sodass man unnötigen Verspätungen Abhilfe schaffen könne. Die Strafverfahren des Angeklagten fanden an denselben Tagen an unterschiedlichen Gerichten statt. Dem Angeklagten wurde die Möglichkeit gegeben, währenddessen ungestört mit seinem Verteidiger zu kommunizieren, wodurch eine versuchte Anhörung durch Dritte ausgeschlossen wurde.

In diesem Fall stellte der EGMR fest, dass das Recht des Antragstellers auf ein Gespräch mit seinem Verteidiger ohne Überwachung durch Dritte nicht beeinträchtigt wurde. Der Antragsteller hätte nämlich die Möglichkeit gehabt, ohne Mithören oder Überwachung durch Dritte persönlich mit seinem Verteidiger zu kommunizieren. Der EGMR ist deshalb der Auffassung, dass Art. 6 EMRK dadurch nicht verletzt wurde.[23]

Damit „Marcello Viola/Italien“ in den Verfahren, in denen das Videokonferenzverfahren angewandt werden soll, als Präzedenzfall verstanden werden kann, muss die folgende Bedingung erfüllt sein: Die Entscheidung für die Nutzung des Videokonferenzverfahrens sollte den Kern der Verfahrensgarantien in Bezug auf das Recht auf ein faires Verfahren, das durch Art. 6 EMRK geschützt ist, nicht beseitigen. Demnach darf es keinen unverhältnismäßigen Eingriff in das Verteidigungsrecht des Angeklagten geben. Der Fall „Marcello Viola“ darf nicht so interpretiert werden, dass diese Methode generell für jede Situationen anwendbar wäre.[24]

VII. Die Gründe gegen die Annahme einer Rechtsverletzung im Fall „Marcello Viola/Italien“

1. Die verfahrensrechtliche Gewährleistung in der italienischen Strafprozessordnung:

a) Die Videokonferenztechnik ist nur anzuwenden, wenn die Vorführung des Angeklagten zur Gerichtsverhandlung hinsichtlich der öffentlichen Ordnung und der Sicherheit erhebliche Probleme mit sich bringt und daher eine Notwendigkeit vorliegt.

b) Diese Methode kann zum Einsatz kommen, um Unordnung und Verbrechen zu verhindern, das Recht auf Leben, Freiheit, Sicherheit von Opfern und Zeugen zu schützen und angemessene Zeitanforderungen für Gerichtsverfahren einzuhalten. Diese Methode dient auch der schnellen Erledigung der Maßnahmen usw., wie es beim Vollzug eines Haftbefehls der Fall wäre.

c) Diese Technik soll zur Vermeidung von unnötigen Verspätungen in Betracht kommen, wenn der Angeklagte in der kurzen Zeit in unterschiedlichen Gerichten erscheinen soll.

d) Zur Ergreifung dieser Maßnahme ist eine gerichtliche Anordnung nötig. Diese Anordnung muss den Verfahrensparteien und ihren Verteidigern zehn Tage vor dem Verhör mitgeteilt sein.

e) Während der Videokonferenz sollten sich alle Personen sowohl in der Gerichtsverhandlung als auch an dem Ort, an dem der Angeklagte durch die Videokonferenz verhört wird, gegenseitig ansehen können.

f) Der Verteidiger muss sich immer neben dem Angeklagten aufhalten, um diesem ungehindert Beistand leisten zu können.

g) Wenn der Verteidiger nicht neben dem Angeklagten, sondern im Gericht steht, sollten die erforderlichen technischen Möglichkeiten zur Verfügung gestellt werden, um die private und geheime Kommunikation zwischen dem Angeklagten und dem Verteidiger zu gewährleisten. Dies stellt ein unentbehrliches Recht dar.[25]

h) Der Ort, an dem sich der Angeklagte befindet, sollte als ein Teil des Sitzungssaals betrachtet werden. Es sollte keinen technischen Ausfall geben und die Kommunikation muss ununterbrochen gewährleistet sein. Die beteiligten Personen, die sich im Gerichtsaal und an einem anderen Ort sich befinden, sollten hörbar und sichtbar sein. Somit sollte dafür gesorgt werden, dass sich die Personen zeitgleich und eindeutig sehen und alles hören, was gesagt wird.

i) Hinsichtlich der Feststellung der Identität des Angeklagten sollte eine durch das Gericht beauftragte Person neben dem Angeklagten stehen. Diese zuständige Person bestätigt die Identität des Angeklagten und auch, dass die Ausübung der Rechte und Befugnisse des Angeklagten auf keinerlei Weise eingeschränkt sind.

2. Bei der Anwendung der Videokonferenztechnik äußerte sich das italienische Verfassungsgericht nicht zur Verfassungswidrigkeit.

3. Die Art. 9-11 des Europäischen Übereinkommens über die Rechtshilfe in Strafsachen erlauben diese Technik unter bestimmten Bedingungen.

4. Weil die Auseinandersetzung über die Beweismittel während des Revisionsprozesses (im konkreten Fall Berufungsprozess) nicht in Betracht kommt, bleibt die Auswirkung dieser Technik auf das Verfahren sehr eingeschränkt.

VIII. Die Auffassung des türkischen Verfassungsgerichts

Der Fall „Erdal Korkmaz“[26] stellt ein wichtiges verfassungsgerichtliches Urteil hinsichtlich der Thematik dar. Die Antragsteller waren Beamte und auch Mitglieder einer öffentlichen Gewerkschaft für Wissenschaft und Ausbildung (Eğitim-Sen), die mit der öffentlichen Gewerkschaft für Arbeitnehmer (KESK) verbunden ist. Die Staatsanwaltschaft in Istanbul leitete Ermittlungsverfahren gegen den Antragsteller wegen der Mitgliedschaft in einer bewaffneten terroristischen Organisation (DHKP-C) ein. DHKP-C ist eine bewaffnete terroristische Organisation und steht auf der Liste von Terror-Organisationen der EU (2002), der Vereinigten Staaten (1997), der BRD (1998) und Großbritanniens (2001). Daher wurde ein Haftbefehl erlassen. Alle Einwände des Antragstellers gegen die Festnahme wurden abgelehnt. Mithilfe des audiovisuellen Informationssystems wurde das Verhaftungsverfahren durchgeführt, der Antrag auf einen Verteidiger im Beisein und dessen Anhörung wurde jedoch nach Art. 108 Abs. 1 tStPO abgelehnt.

Die erste Friedensrichterschaft für Strafsachen in Istanbul erklärte, dass das audiovisuelle Informationssystem für die Durchführung der Anhörung ausreichend wäre. Es stelle kein Hindernis für die Beurteilung zur Fortsetzung der Untersuchungshaft dar, wenn die Beschuldigten willentlich keine Aussage machen. Gesetzlich bestehe keine Pflicht, die Haftprüfung innerhalb der Gerichtsverhandlung durchzuführen. Die Parteien des Strafverfahrens könnten ihre Einwände stets schriftlich zur Gerichtsakte hinzufügen.

Der Antragsteller behauptet unter anderem, dass die Haftprüfung durch das audiovisuelle Informationssystem durchgeführt wurde, obwohl der Beschuldigte einen Anspruch darauf hatte, dass die Haftprüfung in seiner Anwesenheit stattfindet, was einer Verletzung seines Rechts auf ein faires Verfahren aus Art. 36 der Verfassung gleichkommt.

Das Verfassungsgericht ist der Ansicht, dass es nicht notwendig sei, den Antragsteller bei jeder Rüge im Rahmen des Art. 19 Abs. 8 der Verfassung gegen die Untersuchungshaft anzuhören. Nur bei der Überprüfung der Untersuchungshaft, wobei die Grundsätze der „streitigen Gerichtsbarkeit“ und der „Waffengleichheit“ tangiert werden, wäre dies von erheblicher Bedeutung. Das Verfassungsgericht weist dabei auf den Fall „Firas Aslan und Hebat Aslan“ hin.

Demnach stelle die Anwendung der Videokonferenztechnik bei der Überprüfung der Untersuchungshaft hinsichtlich der Beurteilung des Antrags zur Entlassung keinen Verstoß gegen das Prinzip der Waffengleichheit dar, wenn der Antragsteller während der Videokonferenz nicht aussagt und der Staatsanwalt diesen nicht vorgeladen hat.[27] Art. 147 Abs. 1 lit. h tStPO betont, dass die Anwendung des audiovisuellen Informationssystems eine zwingende Vorschrift ist und hebt den Vorteil des Systems hinsichtlich des Mündlichkeitsprinzips hervor.

Zur Begründung wird angeführt, die schnelle Prüfung der Inhaftierung sei zwar nach Art. 19 der Verfassung nötig, jedes Mal eine Gerichtsverhandlung durchzuführen könne allerdings negative Auswirkungen auf das Strafverfahrensrecht haben. Das Verfassungsgericht weist in seinem Urteil darauf hin, dass man bei der Überprüfung mittels audiovisuellen Informationssystems eine Erledigung des Verfahrens in einer angemessenen Zeit bezwecke, was der Sicherheit und dem Schutz der Menschenrechte diene.

Das Gericht verweist auf den Fall „EGMR Marcello Viola/Italien“ und führt weiter an, die Ermöglichung der Teilnahme an der Gerichtsverhandlung von Angeklagten mittels Videokonferenztechnik erfülle die Bedingungen der Anwesenheitspflicht des Angeklagten, sofern die Verteidigung dadurch keinen größeren Nachteil erleide. Während der Haftprüfung mittels Videokonferenztechnik würde dem Antragsteller ein Anlass gegeben, etwas gegen das Urteil einzuwenden und sich vor dem Gericht mündlich zu verteidigen. Deswegen stelle es keine Verletzung von Rechten dar. Der Auffassung des Verfassungsgerichts kann nicht gefolgt werden, da sie nicht den Kriterien des Falls „Marcello Viola/Italien“ entspricht.

IX. Fazit

Der Benutzung des audiovisuellen Informationssystems in der Türkei stehen erhebliche technische Probleme wie Stromausfälle oder Systemfehler entgegen. Die Unterbrechung der Audio- sowie Videoverbindung zwischen dem Gerichtssaal und dem Ort, an dem sich der Gefangene befindet, bringt Schwierigkeiten bei der Übertragung von Ton und Bild mit sich. Insbesondere können die Aussagen des Angeklagten teilweise unverständlich für das Gericht, seinen Verteidiger, die anderen Angeklagten oder sogar für den Protokollanten werden. Die Aussagen werden nicht direkt, sondern mittelbar übertragen, sodass Gestik und Mimik des Angeklagten daher nicht deutlich sichtbar werden. Dadurch werden die Wirksamkeit, das Ansehen sowie die Ehrlichkeit des Strafverfahrens beeinträchtigt.

Unter diesen Umständen schränkt die Methode das Verteidigungsrecht des Angeklagten ein und verletzt dadurch sein Recht auf ein faires Verfahren. Das nur unter bestimmten Voraussetzungen und in Ausnahmefällen anwendbare audiovisuelle Informationssystem wird in der Praxis als obligatorisch betrachtet. In dem Raum, in dem die Videokonferenz stattfindet, steht kein Pflicht- oder Wahlverteidiger neben dem Angeklagten. Der Gefangene hat also keine audiovisuellen Kommunikationsmöglichkeiten mit seinem Verteidiger ohne Überwachung durch Dritte.

Die im Videokonferenzraum wartenden Angeklagten können die Gerichtsverhandlung wegen technischer Probleme nicht stetig weiterverfolgen. Das Personal der Strafvollzugsanstalt hat keine ausreichenden technischen Kenntnisse, außerdem beherrschen sie das audiovisuelle Informationssystem nicht adäquat, sodass die Verbindungsprobleme nicht rechtzeitig behoben werden. Dementsprechend kommt es häufig vor, dass eine Pause während der Gerichtssitzung eingelegt werden muss oder die Sitzung auf einen anderen Tag verschoben werden muss. Durch die Beseitigung aller Nachteile und Probleme des Systems, wie beispielsweise Prävention von Viktimisierung des Angeklagten, Einsatz von Personal mit adäquater Ausbildung, welche das System bei technischen Störungen wieder installieren kann, ist es im Rahmen des Videokonferenzsystems notwendig, die für den Beschuldigten erforderliche Rechtssicherheit zu gewährleisten.

Eine Änderung der Richtlinie über das audiovisuelle Informationssystem ist somit unverzichtbar. Die verfahrensrechtliche Gewährleistung, wie sie in der italienischen Strafprozessordnung verankert ist, muss gesichert sein. Des Weiteren muss garantiert werden, dass das audiovisuelle Informationssystem unter diesen Voraussetzungen effizient eingesetzt wird.

[1]     Yazar, Görüntülü İletişim–Videokonferans Teknolojilerinin Kullanım Alanları, S. 2.
[2]     A.a.O., S. 3.
[3]http://www.mevzuat.gov.tr/Metin.Aspx?MevzuatKod=7.5.15315&
sourceXmlSearch=&MevzuatIliski=0 (zuletzt abgerufen am 21.8.2017).
[4]      20 Eylül 2011 tarih ve 28060 sayılı Resmi Gazete. 
[5]     Gözel, Yargılamada Ses ve Görüntü Bilişim Sistemi (SEGBİS) Kullanımı, http://www.academia.edu/12580753/Yarg %C4%B1lamada_Ses_ve_G% C3%B6r%C3% BCnt% C3 %BC _Bili% C5% 9Fim_ Sistemi _SEGB%C4%B0S_Kullan%C4%B1m%C4%B1, (zuletzt abgerufen am 21.8.2017).
[6]     Açikmeşe/Karaşahin, “Sesli Görüntülü Bilişim Sistemi (SEGBİS)”, T.C. Adalet Bakanlığı Bilgi İşlem Daire Başkanlığı, UYAP Bilişim Dergisi, e-Dergi, 5. Ausgabe, März 2012, S. 25.
[7]     A.a.O.,S. 26.
[8]     A.a.O., S. 27.
[9]     Acar/Gürsoy, “Türk Mahkemelerinde Sesli ve Görüntülü Kayıt ve Videokonferans Sistemi Uygulamasına Geçiş, Ceza Mahkemeleri Örneği”, Ankara Barosu Dergisi, 70. Jahr, Ausgabe 2012/4, S. 131.
[10]   Kaya/Güneş, Ulusal Yargı Ağı Projesi-I, Anadolu Üniversitesi Ausgabe Nr. 2323, AÖF Ausgabe Nr. 1320, Eskişehir 2011, S. 4
[11]   “Weg”-Verhaftung bedeutet, dass der Angeklagte von einem Richter aus einem anderen Gerichtsbezirk vorläufig verhaftet wird, damit er dem hauptsächlich zuständigen Gericht vorgeführt werden kann.
[12]   Gültekin, “Yakalama ve Gözaltına Alma Kavramları ile Uygulamadan Doğan Sorunlar ve Çözüm Önerileri”, Terazi Hukuk Dergisi, 76. Ausgabe, Dezember 2012, S. 35-44.
[13]   Acar/Gürsoy, S. 133.
[14]   Güner, „SEGBİS Sisteminin Ceza Evi Uygulamasının Adil Yargılanma Hakkı Yönünden Değerlendirilmesi“, Terazi Hukuk Dergisi, 99. Ausgabe, November 2014, S. 88.
[15]   İpek, İfade Almanın Teknik ve Taktikleri, Ankara 2015, S. 106.
[16]   www.bidb.adalet.gov.tr/sayfalar/segbismevzuat.pdf (zuletzt abgerufen am 20.8.2017). Sie ist im Gesetzblatt Nr. 28060 veröffentlicht.
[17]   www.adalet.gov.tr/genelgeler/genelge_pdf/segbis.pdf (zuletzt abgerufen am 20.8.2017).
[18]   Yenisey/Nuhoğlu, Ceza Muhakemesi Hukuku, Ankara 2016, S. 741-744; Centel/Zafer,Ceza Muhakemesi Hukuku, İstanbul 2016,           S. 712-716; Özbek/Doğan/Bacaksiz/Tepe,Ceza Muhakemesi Hukuku, Ankara 2016, S. 666.
[19]   Şen, Sanığın Mahkemeye Çıkma Hakkı, http://www.haber7.com/yazarlar/prof-dr-ersan-sen/1830305-sanigin-mahkemeye-cikma-hakki (zuletzt abgerufen am 5.3.2017).
[20]   Die von 16. Strafsenat gefassten Beschlüsse; 19.6.2015, Geschäft-Nr. 2015/1078, Urteil-Nr. 2015/1930; Geschäft-Nr. 2015/1076, Urteil-Nr. 2015/1932; Geschäft-Nr. 2015/1083, Urteil-Nr. 2015/1926.
[21]   Şen,Uzakta Olan Sanığın Sorgusu, (http://www.haber7.com/yazarlar/prof-dr-ersan-sen/1875201-uzakta-olan-sanigin-sorgusu (zuletzt abgerufen am 19.7.2017).
[22]   Güner, “SEGBİS Sisteminin Cezaevi Uygulamasının Adil Yargılanma Hakkı Yönünden Değerlendirilmesi”, Terazi Hukuk Dergisi, 99. Ausgabe, November 2014, S. 84-86.
[23]   Taşkin,„Müdafinin Ve Vekilin Hukuki Yardımı, Sınırları İle Uygulamada Karşılaşılan Sorunların Aihm İçtihatları Işığında Değerlendirilmesi“, Türkiye Barolar Birliği Dergisi, 69. Ausgabe, März-April 2007, S. 211-241.
[24]   Şen, Sanığın Mahkemeye Çıkma Hakkı, http://www.haber7.com/yazarlar/prof-dr-ersan-sen/1830305-sanigin-mahkemeye-cikma-hakki (zuletzt abgerufen am 19.7.2017).
[25]   Dursun, „Sanığın Duruşmada Hazır Bulunma Hakkı ve Bu Kapsamda Sesli ve Görüntülü Bilişim Sisteminin (SEGBİS) Değerlendirilmesi”, Bahçeşehir Üniversitesi Hukuk Fakültesi Dergisi, Ausgabe Nr. 143-144, Juli-August 2016, S. 4.
[26]   Beschluss des Verfassungsgerichts auf Individualantrag (Verfassungsbeschwerde), 18.11.2015.
[27]   Şen, Sanığın Mahkemeye Çıkma Hakkı, http://www.haber7.com/yazarlar/prof-dr-ersan-sen/1830305-sanigin-mahkemeye-cikma-hakki (zuletzt abgerufen am 5.3.2017).

 

 

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