Martin Henssler/Elisa Hoven/Michael Kubiciel/Thomas Weigend: Grundfragen eines modernen Verbandsstrafrechts

von Prof. Dr. Anja Schiemann

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2017, Nomos Verlag, Baden-Baden, ISBN: 978-3-8487-4272-1, S. 200, Euro 54.

Der Band enthält Referate, die im April 2016 an der Universität zu Köln auf der Tagung „Grundfragen eines modernen Verbandsstrafrechts“ gehalten wurden. Diese Tagung war zugleich Auftaktveranstaltung der Forschungsgruppe „Verbandsstrafrecht – Praktische Auswirkungen und theoretische Rückwirkungen“, deren Ziel es war, ein modernes Verbandssanktionengesetz zu entwickeln. Auch wenn der Entwurf dieses Verbandssanktionengesetzes mittlerweile vorliegt,[1] so hat sich doch der Inhalt des leider erst 2017 erschienenen Tagungsbandes nicht erledigt. Denn er enthält grundsätzliche Erwägungen, Folgenabschätzungen und einen rechtsvergleichenden Blick auf Österreich und die Schweiz.

Einführend beschreiben Henssler/Hoven/Kubiciel/Weigend die Zielsetzung der Kölner Forschungsgruppe, der Fokus lag danach nicht mehr auf der grundsätzlichen Frage eines „Ob“ der Verbandsstrafe, stattdessen stand das „Wie“ der konkreten Umsetzung im Mittelpunkt der Überlegungen.

Das 2. Kapitel zu den „Grundfragen eines materiellen Verbandsstrafrechts“ beginnt mit einem Beitrag von Dannecker, in dem dieser die grundsätzliche Fragestellung beleuchtet, ob die Verbandsverantwortlichkeit als straf- oder verwaltungsrechtliches Sanktionensystem ausgestaltet werden soll (S. 17 ff.). Neben der Skizzierung der unterschiedlichen Positionen kommt der Autor zu dem Resümee, dass weder strafrechtsdogmatische noch verfassungsrechtliche Erwägungen einem kriminalstrafrechtlichen Verbandssanktionensystem entgegenstehen (S. 22 f.). Im Anschluss prüft er unionsrechtliche und internationale Vorgaben und stellt insbesondere das Zweite Protokoll zur PIF-Konvention vor. Im Ergebnis fordern die europäischen und internationalen Vorgaben aber lediglich eine wirksame, angemessene und abschreckende Sanktion, ohne festzulegen, ob diese Sanktionen kriminalstrafrechtlicher oder bußgeldrechtlicher Natur sind. Dannecker spricht sich im Folgenden für eine strafrechtliche Sanktionierung aus und präzisiert die möglichen Inhalte eines Verbandsstrafrechts (S. 57 ff.).

Schmitt-Leonardy geht in ihrem Beitrag der Frage nach, ob eine repressive Sanktion gegenüber Unternehmen auf einer „originären Verbandsschuld“ oder auf einem Zurechnungsmodell fußen sollte (S. 71 ff.). Hierfür stellt die Verfasserin zunächst die Modelle und die hinter diesen Modellen stehenden Argumente vor. Zurechnungsmodelle überzeugen Schmitt-Leonardy nicht; stärkstes Argument dagegen sei, dass sie entlang des Rechtsträgerprinzips gedacht seien. Unternehmenskriminalität erschöpfe sich aber nicht in kriminellen Rechtsakten des Unternehmens, sondern erstrecke sich auf Rechtsgutsverletzungen aller Art. Es sei die soziale Einheit „Unternehmen“, die diese Kriminalität produziere und nicht der Unternehmensträger (S. 86).

Der Diskurs um das Unternehmen als Straftäter sui generis sollte nach Auffassung der Autorin „an der Nahtstelle zwischen Recht und Realität stattfinden“ (S. 94). Es sei möglich, eine originäre Verbandsschuld auf Basis des Unternehmens als korporativem Akteur zu konstruieren – allerdings um den Preis intrasystemischer Brüche (S. 94 f.). Ob es das wert ist, bezweifelt die Autorin und entzieht sich einer Beantwortung der im Titel ihres Beitrags aufgeworfenen Frage, um eine dritte Perspektive zu nutzen. Warum, so fragt Schmitt-Leonardy, sollte man nicht den Entwurf eines ganz neuen parastrafrechtlichen Systems wagen? Eine konkrete Ausgestaltung dieses parastrafrechtlichen Systems bleibt die Autorin allerdings schuldig.

Die Diskussion rund um den ersten Tagungsabschnitt zu den Grundfragen eines materiellen Verbandsstrafrechts fasst der Beitrag von Dust zusammen (S. 97 ff.).

Das 3. Kapitel widmet sich den „Grundfragen eines Strafverfahrens gegen Verbände“. Begonnen wird mit einem Beitrag von Frister/Brinkmann zu den rechtsstaatlichen Schranken bei der Verfolgung von Straftaten, die aus einem Verband begangen werden (S. 103 ff.). Die beiden Autoren überprüfen die strafprozessualen Regelungen darauf, ob die ihnen zugrundeliegenden Wertentscheidungen für die Aufklärung und Verfolgung von Verbandsstraftaten angemessen sind. Aus der Vielzahl an Problemen werden einige herausgegriffen und dem Verbot des Selbstbelastungszwangs, dem Doppelbestrafungsverbot im Falle einer Verselbstständigung des Strafverfahrens gegen den Verband und der Frage nach der Zulässigkeit von Grundrechtseingriffen zur Verfolgung von Verbandsstraftaten nachgegangen.

Frister/Brinkmann kommen zu dem Ergebnis, dass nach dem derzeitigen Stand der Diskussion keine überzeugende Begründung dafür gegeben sei, die Selbstbelastungsfreiheit auch Verbänden zuzusprechen. Allerdings könne sich der Gesetzgeber auch gegen eine aktive Mitwirkungspflicht des Verbands entscheiden, müsse dann aber gesetzlich regeln, wie weit das Selbstbegünstigungsprivileg bei einem Verband reichen soll und wer es geltend machen kann (S. 110).

Bezüglich des Doppelbestrafungsverbots weisen die Autoren darauf hin, dass Art. 103 Abs. 3 GG dem Wortlaut nach lediglich eine mehrmalige Bestrafung, nicht aber eine mehrfache Bestrafung verbiete. Dementsprechend sei der Umstand, dass die Entscheidungsträger eines Verbandes als etwaige Anteilseigner zugleich faktisch von der Verbandssanktion betroffen sein können, jedenfalls so lange kein Problem des Art. 103 Abs. 3 GG, wie beide Sanktionen in einem Verfahren verhängt werden (S. 115). Frister/Brinkmann kritisieren aber den NRW-Gesetzentwurf eines Verbandsstrafgesetzbuchs insoweit, als hier ein selbstständiges Verfahren betrieben werden soll. Fraglich sei insofern, ob eine Verselbstständigung des Verbandsstrafverfahrens noch mit Art. 103 Abs. 3 GG vereinbar wäre (S. 119). Die Verfasser plädieren daher dafür, die Sanktion gegen den Verband innerhalb des dazugehörigen Strafverfahrens gegen den Entscheidungsträger zu verhängen (S. 121).

Mit Blick auf das Verfassungsrecht sprechen sich Frister/Brinkmann dafür aus, auf die von ihnen beschriebenen Eingriffsbefugnisse im Rahmen der StPO zu verzichten und stattdessen die mittels der Eingriffsbefugnisse gegenüber den beschuldigten Entscheidungsträgern gewonnenen Erkenntnisse auch zur Verfolgung der Verbandsstraftat zu verwerten (S. 124).

Der Beitrag von Soyer widmet sich den Herausforderungen an die Verteidigung bei gleichzeitigen Ermittlungen gegen Verband und Individuum (S. 129 ff.). Hierzu werden die Eckpunkte des österreichischen justizstrafrechtlichen Haftungsmodells und die verfahrensrechtlichen Strukturvorgaben des Verbandsverantwortlichkeitsgesetzes (öVbVG) vorgestellt und daran anknüpfend ausgewählte prozessuale, verteidigungsorientierte Problemstellungen untersucht. Er kommt zu dem Ergebnis, dass gemeinsame Ermittlungen gegen Verband und Individuum je nach Haftungsmodell und Verfahrensstruktur unterschiedliche Verteidigungsmöglichkeiten eröffnen. Dabei sind Konfliktlagen bei gleichzeitigen Ermittlungen gegen Individualbeschuldigten und Unternehmensverband durchaus mit Ermittlungsverfahren gegen mehrere Individualbeschuldigte zu vergleichen. Allerdings sorge der primär auf Prävention ausgerichtete Zweck des öVbVG für eine tendenziell erkennbare Besserstellung des Verbandes. Darüber hinaus seien in Österreich auch strukturell vorgegebene Möglichkeiten der Sockelverteidigung gegeben. De lege ferenda hält Soyer aber das in Deutschland geltende Verbot der Mehrfachverteidigung auch für das öVbVG für erwägenswert.

Gräbener fasst im Anschluss die Diskussion des zweiten Tagungsabschnitts um „Grundfragen eines Strafverfahrens gegen Verbände“ zusammen (S. 139 ff.).

Das 4. Kapitel beschäftigt sich mit den Folgen eines Verbandsstrafrechts für das Gesellschaftsrecht und die Wirtschaft. Rehm zeigt in einer ökonomischen Betrachtung die Folgen eines Unternehmensstrafrechts für mittelständische Unternehmen auf (S. 147 ff.). Hierzu definiert sie zunächst den Begriff des Mittelstandes und charakterisiert dessen Rolle. Nach einigen grundlegenden theoretischen Überlegungen werden die Auswirkungen eines Unternehmensstrafrechts auf Unternehmen im Allgemeinen und den Mittelstand im Besonderen analysiert.

Dabei nimmt die Verfasserin als Ausgangsentwurf den NRW-Entwurf eines Verbandsstrafgesetzbuchs als Grundlage. Im gesellschaftlichen Interesse sei, dass ein Unternehmensstrafrecht der Verringerung von Straftaten diene und somit auch eine Schadensbegrenzungsfunktion hätte. Gleichzeitig müsse aber abgeschätzt werden, welche Folgen es hat, wenn Unternehmen aufgrund von Strafen aus Märkten ausscheiden müssten. Verluste von Arbeitsplätzen aber auch verringerte Wettbewerbsintensität auf den betroffenen Märkten seien zu berücksichtigen. Auch wenn eine exakte Quantifizierung der einzelnen Effekte kaum möglich sei, bestehe hier aus ökonomischer Sicht weiterer Forschungsbedarf. Auch der Nutzen von umfangreichen formalen Compliance-Strukturen überwiege aus Sicht der Unternehmen nicht unbedingt deren Kosten. Gerade mittelständische Unternehmen könnten durch den NRW-Entwurf überproportional belastet werden.

Da der NRW-Entwurf aber gerade wegen der einschneidenden Sanktionen und Maßregeln bis hin zur Verbandsauflösung nicht mehrheitsfähig war, ist die 2016 aufgeworfene ökonomische Perspektive von Rehm einer neuerlichen Modifizierung, ausgerichtet an aktuellen Entwürfen wie z.B. dem des Kölner Entwurfs eines Verbandssanktionengesetzes, zu unterziehen.

Die Diskussion zu den Folgen eines Verbandsstrafrechts für das Gesellschaftsrecht und die Wirtschaft wird von Kayadibi zusammengefasst (S. 171 ff.).

Der Tagungsband schließt mit einem Sonderbeitrag von Pieth im 5. Kapitel zu Anwendungsproblemen des Verbandsstrafrechts in Theorie und Praxis anhand von Erfahrungen aus der Schweiz (S. 177 ff.). Der Autor zeichnet dezidiert die Gesetzgebungsgeschichte nach, um dann das geltende Schweizer Recht vorzustellen. Die Unternehmenshaftung in der Schweiz ist seit dem 1. Oktober 2003 in Kraft. Vier Elemente seien für die Haftung von Belang. Das schweizerische Recht hat einen extrem weiten Verbandsbegriff gewählt, so dass über die juristischen Personen des privaten und des öffentlichen Rechts hinaus auch weitere Gesellschaften und Einzelfirmen des Geschäftslebens erfasst sind. Zweite Voraussetzung ist eine Anlasstat, wobei in der subsidiären Haftungsvariante alle Verbrechen und Vergehen Anlasstaten sein können. Die prinzipale Haftung ist dagegen nur auf bestimmte internationale Wirtschaftsdelikte anwendbar. Als drittes Element versucht das Gesetz den Bezug zwischen der Straftat und dem Unternehmenszweck in drei konsekutiven Formeln auf die eigentliche Betriebsbezogenheit einzuschränken: in einem Unternehmen, in Ausübung geschäftlicher Verrichtung und im Rahmen des Unternehmenszwecks (S. 187).

Der Autor gibt zu bedenken, dass gerade der Begriff der Betriebsbezogenheit eine Reihe spezieller Fragen bezogen auf bestimmte Deliktstypen aufwerfe. Zudem erschwere es sowohl der Begriff der Betriebsbezogenheit als auch der Unternehmensbegriff, die Haftung des Unternehmens auf non-profit Organisationen auszudehnen.

Der Organisationsmangel als viertes Kriterium ist nach Auffassung von Pieth „zweifellos das anspruchsvollste“ (S. 189). Es werde nämlich eine ganz spezielle Form von Organisationsmängeln vorausgesetzt, nämlich, dass die Tat „wegen mangelhafter Organisation des Unternehmens keiner bestimmten natürlichen Person zugerechnet werden kann“ (S. 189). Die Formel bemühe sich darum, bei traditionellen   Delikten   die   Unternehmenshaftung subsidiär zur Individualhaftung zu halten. Dagegen gehe die prinzipale Unternehmenshaftung direkt auf die klassischen Fragen der Verbandshaftung zu, nämlich dem Vorwurf an das Unternehmen, es habe nicht alle erforderlichen und zumutbaren organisatorischen Vorkehrungen getroffen, um eine solche Tat zu verhindern. Der Autor plädiert dafür, die Verbandshaftung auszuweiten und eine umfassende Reform des Schweizerischen Verbandsstrafrechts anzustoßen (S. 196 f.).

Insgesamt gibt dieser Tagungsband eine Fülle von Denkanstößen rings um das gerade wieder aktuelle kriminalpolitische Thema des Unternehmensstrafrechts. Dabei ist nicht nur der Blick auf das österreichische und schweizerische Unternehmensstrafrechtsmodell interessant, auch die ökonomische Perspektive zeigt Forschungsgrauzonen auf. Die anderen juristischen Beiträge legen fundierte theoretische Grundlagen im materiellen Strafrecht und Strafverfahrensrecht, die die Ausgestaltung eines Unternehmensstrafrechts berühren. Auch wenn es mittlerweile einen neuen Vorstoß durch den Kölner Entwurf eines Verbandssanktionengesetzes gibt, der genau dieser Forschungsgruppe entsprungen ist, die diese Tagung veranstaltet hat, so ist doch die genaue Ausgestaltung eines wie auch immer gearteten Unternehmensstrafrechts oder Unternehmensordnungswidrigkeitenrechts noch offen. Im Koalitionsvertrag hat sich die Regierung jedenfalls das Ziel gesetzt, das Sanktionsrecht für Unternehmen neu zu regeln. Anregung und theoretische Grundlagen hierfür bietet der vorliegende Tagungsband.  

 

[1] Vgl. https://www.jura.uni-augsburg.de/lehrende/professoren/kubiciel/downloads/kubiciel/koelner_entwurf_eines_verbandssanktionengesetzes.pdf (zuletzt abgerufen am 10.7.2018).

 

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