von RA Priv.-Doz. Dr. Kay H. Schumann
2018, Duncker & Humblot, Berlin, ISBN: 978-3-428-15496-8, S. 337, Euro 89,90.
In ihrer Dissertation aus dem Jahr 2017, betreut von Renzikowski (Halle-Wittenberg), befasst sich Kempe (Verf.) ausführlich mit der Frage, ob die zur Begründung der jüngsten Reform der Sexualdelikte vielbeschworenen Strafbarkeitslücken in diesem Bereich tatsächlich zu beklagen waren und so die umfassende Gesetzesänderung notwendig machten, um den Anforderungen der Istanbul-Konvention und der EMRK gerecht zu werden.
Die Arbeit ist in vier Kapitel aufgeteilt. Im ersten Kapitel widmet sich die Verf. den „völkerrechtlichen Verpflichtungen zum Schutz des Rechts auf sexuelle Selbstbestimmung“ (S. 20-45). Es ist erfreulich, dass siesich hier nicht mit einem nur kurzen Verweis auf die maßgeblichen Rechtsquellen begnügt, sondern vielmehr versucht, den Schutz der sexuellen Selbstbestimmung für die weitere Arbeit völkerrechtlich nachvollziehbar anzubinden. So wird in angemessenem Umfang (S. 20-25) die EMRK sowohl allgemein in ihrer Bedeutung für den nationalen Gesetzgeber als auch im Besonderen mit Blick auf das Rechtsgut der sexuellen Selbstbestimmung beleuchtet. Abgerundet wird die bis dahin notwendig recht abstrakte Betrachtung der europäischen Grundlagen dann durch eine (im Vergleich vielleicht etwas zu breite, S. 25-31) Darstellung des für das verfolgte Untersuchungsinteresse wichtigen Grundsatzurteils des EGMR „M.C. gegen Bulgarien“, mit dem der Gerichtshof klargestellt hat, dass ein allein auf Nötigungskonstellationen beschränktes Sexualstrafrecht den aus Art. 8 und 3 abgeleiteten Anforderungen nicht genüge.
Sodann wird ausführlich die sog. Istanbul-Konvention dargestellt: Von den historischen Wurzeln der Konvention (S. 33-39) über eine Skizze ihres wesentlichen Inhaltes (S. 39-41) führt die Verf. hin zu dem für ihre Untersuchung maßgeblichen Art. 36 IK, der die Kriminalisierung aller non-konsensualen sexuellen Übergriffe betrifft. Die Verf. kommt damit zu dem wohlbegründeten Schluss, dass das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung aus völkerrechtlicher Perspektive „sowohl einen Schutz vor geschlechtsspezifischen Diskriminierungen als auch eine freie Selbstbestimmung der sexuellen und der geschlechtlichen Identität gewährleistet“, dessen strafwürdige Verletzung folglich stets dann vorliege, wenn eine sexuelle Handlung fremdbestimmt, i.S. von nicht einverständlich, erfolge (S. 45). An diesem Ergebnis will die Verf. dann das frühere deutsche Sexualstrafrecht messen.
Das zweite Kapitel, das den Titel der Gesamtuntersuchung als Überschrift trägt, ist mit rund 200 Seiten dann auch das umfangreichste: In einem geschichtlichen Abriss, der zwar konsequent, doch ohne Not, auf die sexuelle Nötigung bzw. Vergewaltigung beschränkt ist, stellt die Verf. nach einer Stippvisite in den germanischen Volksrechten die Tatbestände der Notzucht bzw. sexuellen Nötigung im RStGB und den StGB-Fassungen von 1969, 1973 und schließlich 1997/98 dar (S. 46-61). Die Nachzeichnung leidet hier ein wenig unter einem nicht immer klaren Wechsel zwischen einfacher Wiedergabe des Gesetzes und der Position der je dazu herrschenden Ansichten (es wäre wünschenswert gewesen, hätte die Verf. die behandelten alten Regelungen in einem Anhang ihrem Text beigefügt).
Der Hauptteil des Kapitels ist der Ergründung der Lückenhaftigkeit des Gesetzes in seiner vor der letzten Reform geltenden Fassung gewidmet (bei beibehaltenem Schwerpunkt des Tatbestands der sexuellen Nötigung/Vergewaltigung). Bevor sie in medias resgeht, stellt die Verf. den Unterschied zwischen Regelungs- und Rechtsanwendungslücken klar; dass dies verhältnismäßig oberflächlich geschieht, ist im Rahmen der Untersuchung verzeihbar. Insgesamt leitet die Verf. damit gut in die nachfolgende Darstellung ein, da es ihr angelegen ist zu verdeutlichen, dass sich viele der Strafbarkeitslücken des früheren Sexualstrafrechts nicht bereits theoretisch aus dem Gesetz selbst, sondern vielmehr erst praktisch aus dessen restriktiver Anwendung durch die Gerichte ergaben. Es folgt damit ein Kompendium der Probleme, die die Diskussion über die sexuelle Nötigung bzw. die Vergewaltigung gem. § 177 StGB a.F. beherrschten. Mit großem Fleiß und Sorgfalt trägt die Verf. die zahlreichen Probleme zusammen und illustriert sie durch in aller Regel auch gut passende Urteile. Hie und da mögen Wiedergabe und Besprechung der Entscheidungen etwas zu breit geraten sein (etwa für den Begriff der Schutzlosigkeit des Opfers in § 177 Abs. 1 Nr. 3 StGB a.F.) und auch hier hat die Verf. stellenweise Schwierigkeiten der Trennung oder Gewichtung einzelner Positionen. Dem Untersuchungsziel der Verf. dient diese raumgreifende Wiedergabe der Probleme zur alten Fassung v.a. dadurch, dass die Verf.damit ihre Vermutung bestätigt sieht, dass viele der zuvor ausgemachten „Lücken“ in der Tat zumeist Ergebnis einer – zum Teil nur schwer nachvollziehbaren – Rechtsprechung waren.
Nach den langen Ausführungen zur älteren Rechtslage und der deutlichen Orientierung am deutschen Gesetz und seiner Rechtsprechung kommt das dritte Kapitel dann auf den ersten Blick beinahe exotisch daher: Die Verf. widmet sich hier dem „Sexualstrafrecht des common law“ (S. 166-218). Dieser vermeintliche Fremdkörper in der Untersuchung dient jedoch durchaus seinem Zweck: Die Verf. stellt nämlich nicht zu Unrecht fest, dass die völkerrechtliche Diskussion um die umfassende Kriminalisierung von „non-consensual“ Sexualkontakten offensichtlich vor allem vom englischen Verständnis der Sexualdelinquenz geprägt ist, während sich der deutsche Gesetzgeber ja dagegen für eine Widerspruchslösung entschieden hat (zumindest grundsätzlich). Die Verf. überprüft daher in diesem Kapitel, ob das englische und das deutsche (Sexualstraf-)Recht tatsächlich so inkompatibel zueinander stehen, dass ein „eigener“ deutscher Weg der Reform notwendig war oder ob es nicht vielmehr ebenso möglich wie ausreichend gewesen wäre, wenn der Gesetzgeber dem bestehenden Regelungsapparat nur einen Auffangtatbestand des nicht einvernehmlichen Sexualkontaktes nach englischem Vorbild hinzugefügt hätte. Die Verf. stellt die zahlreichen Unterschiede zwischen den beiden Rechtssystemen dar, kommt aber dennoch gut nachvollziehbar zu dem Schluss, dass auch unter der Herrschaft des deutschen Rechtsverständnisses eine „Nur Ja heißt Ja“-Lösung das StGB entsprechend den Konventionsvorgaben gut hätte ergänzen können, ohne dass es einer umfassenden Reform oder gar eines völligen Paradigmenwechsels bedurft hätte.
Im vierten Kapitel ist es dann an der Zeit, sich mit der eigentlichen Reform des deutschen Sexualstrafrechts aus dem Jahre 2016 zu beschäftigen. Hier werden zuerst die beiden großen entgegengesetzten Modelle, das des „Nein heißt Nein“ und das des „Nur Ja heißt Ja“ gegenübergestellt (S. 220-245). Das vom deutschen Gesetzgeber letztlich (zumindest als Grundsatz) präferierte erste Modell wird hier (u.a.) formal aufgrund der Inkongruenz mit den Konventionsvorgaben („Consent must be given“) sowie wegen der Anwendungsschwierigkeiten bei der Beibehaltung des Vorsatzerfordernisses kritisiert (S. 224, 229 f.). Vorzugswürdig ist aus der Perspektive der Verf. der Reformvorschlag des Konsensmodells. Mit Blick auf Gesetzesbestimmtheit, Rechtsstaatlichkeit, Schuld- und Verhältnismäßigkeitsprinzip erläutert die Verf., dass Entscheidung gegen das „Nein heißt Nein“ zu einem einfach zu handhabenden Gesetz geführt hätte, das zumindest alle strafwürdigen Fälle sexueller Handlungen des Täters am Opfer leicht hätte abdecken können; in Fällen sexueller Handlungen des Opfers am Täter oder an Dritten hätte es hingegen beim bisherigen Nötigungsmodell bleiben müssen (S. 230-245). Dass der politische Diskurs von einer entsprechenden Reflexion profitiert hätte, wird im folgenden Abschnitt deutlich, wenn die Verf. nun recht breit die Reformdiskussion im Deutschen Bundestag, samt Präsentation der Gesetzentwürfe der Linken und von Bündnis 90/Die Grünen behandelt (S. 245-267).
Der inhaltliche Teil der Untersuchung mündet dann in eine (zum Zeitpunkt des Abschlusses der Arbeit notwendigerweise kursorischen) kritischen Betrachtung der neuen bzw. neugefassten Vorschriften des 13. Abschnitts des StGB, mit denen der Gesetzgeber sich für ein kasuistisch orientiertes Mischmodell aus „Nein heißt Nein“ und Zustimmungsanforderungen entschieden hat. Die Verf. legt den Finger in die (zahlreichen) Wunden des Gesetzes, etwa dort, wo die Folgen der neuen Gesetzesfassung für die Gruppe behinderter Menschen offensichtlich nicht hinreichend bedacht wurden (S. 281 ff.); sie unterstreicht aber auch vorsichtig optimistisch evidente Fortschritte des Gesetzes, vor allem bei der nun gelungeneren (wenn auch nicht perfekten) Abdeckung von Überraschungsangriffen (S. 293 f.). Eine sehr wichtige Weichenstellung für die zukünftige Arbeit mit dem Gesetz nimmt die Verf. schließlich dort vor, wo sie sich hinsichtlich der „neuen“ Qualifikationstatbestände des § 177 Abs. 5 StGB mit zahlreichen Stimmen aus der Reformkommission dahingehend positioniert, dass trotz des Verzichtes auf das Nötigungselement im Wortlaut der Vorschrift an dem bisherigen zweiaktigen Nötigungsverständnis der a.F. festgehalten werden sollte (S. 302 f.). Zuletzt liefert die Verf. eine kritische Betrachtung der neuen Tatbestände der sexuellen Belästigung (§ 184i StGB; S. 307-310) und den Straftaten aus Gruppen (§ 184j StGB, S. 310-315). Während § 184i StGB bis auf seine Ausgestaltung als relatives Antragsdelikt noch begrüßt wird, verhält sich die Verf. deutlich zurückhaltender gegenüber § 184j StGB, dessen Erforderlichkeit und Angemessenheit im Normgefüge der Sexualdelikte zu Recht angezweifelt wird.
Eine sehr knappe aber präzise Zusammenfassung schließt die Arbeit ab.
Nach alledem sollte es nicht überraschen, dass sich eine Leseempfehlung an dem jeweiligen Leserkreis auszurichten hat: Die langen Passagen zur alten Rechtslage sowie zur Reformdiskussion dienen zwar als flüssig zu lesende Chronik des neuen Sexualstrafrechts, dürften aber dem hier bereits orientierten Fachpublikum bestenfalls als (gutes) Nachschlagewerk dienen. Das dritte samt des Eingangs des vierten Kapitels, in denen die Verf. ihre Präferenz für eine „Nur Ja heißt Ja“-Lösung mit einer attraktiven und „internationalen“ Argumentation begründet, bietet aber auch Veteranen anregenden Lesestoff. Leserinnen und Leser hingegen, die erst jetzt in die Diskussion um das aktuelle Sexualstrafrecht einsteigen wollen, dürften von der Lektüre des Buches insgesamt immens profitieren, zumal die Verf. ihnen die gedankliche Freiheit lässt, sich auch von den Vertretern der „Nein heißt Nein“-Lösung überzeugen zu lassen.