Zu den Kommentaren springen

Erweiterung der Wiederaufnahmemöglichkeiten zuungunsten des Verurteilten gemäß § 362 StPO (Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit)

Gesetz zur Erweiterung der Wiederaufnahmemöglichkeiten zuungunsten des Verurteilten gemäß § 362 StPO und zur Änderung der zivilrechtlichen Verjährung (Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit) vom 21. Dezember 2021: BGBl. I 2021, S. 5252 f. 

 

Gesetzliche Regelung zur Wiederaufnahme des Strafverfahrens zuungunsten des Freigesprochenen in § 362 Nr. 5 StPO verfassungswidrig

Entscheidung im Volltext 

Am 31. Oktober 2023 hat der Zweite Senat des BVerfG entschieden, dass § 362 Nr. 5 StPO mit dem in Art. 103 Abs. 3 GG statuierten ne bis in idem Grundsatz und dem Rückwirkungsverbot aus Art. 103 Abs. 3  GG i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG unvereinbar und damit nichtig ist. Die Entscheidung erging im Ergebnis einstimmig. Im Hinblick auf die Abwägungsfestigkeit des grundrechtsgleichen Rechts des Art. 103 Abs. 3 GG erging die Abstimmung mit 6:2 Stimmen (Sondervotum Richter Müller und Richterin Langenfeld).

§ 362 Nr. 5 StPO wurde im Dezember 2021 durch das „Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit“ in die StPO eingefügt. Ein Strafverfahren gegen den rechtskräftig Freigesprochenen konnte demnach wiederaufgenommen werden, wenn neue Tatsachen oder Beweismittel dringende Gründe dafür bilden, dass der freigesprochene Angeklagte wegen Mordes, Völkermordes, Verbrechens gegen die Menschlichkeit oder des Kriegsverbrechens verurteilt wird. Der Verfassungsbeschwerde ging im Jahr 1983 ein Freispruch des Beschwerdeführers wegen des Vorwurfs der Vergewaltigung und des Mordes voraus. Sie richtet sich gegen den Beschluss des LG Verden vom 25. Februar 2022 – 1 Ks 148 Js 1066/22, in dem es den Wiederaufnahmeantrag der Staatsanwaltschaft am LG Verden für zulässig erklärte und Untersuchungshaft anordnete sowie gegen den Beschluss des OLG Celle vom 20. April 2022 – 2 Ws 86/22 (zur Entscheidung des OLG Celle siehe auch die Anmerkung von Fischer, KriPoZ 2022, 128 ff.), das die hiergegen gerichtete Beschwerde verwarf. Der Beschwerdeführer sah seine Rechte aus Art. 103 Abs. 3 sowie aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG verletzt.

Das BVerfG stellte nun klar, dass das abstrakte Prinzip des Strafklageverbrauchs in Art. 103 Abs. 3 GG als grundrechtsgleiches Recht ausgestaltet sei und dem Verurteilten wie Freigesprochenen gleichermaßen Schutz gewähre, der sich auch gegenüber dem Gesetzgeber entfalte. Dieser könne das Verbot mehrfacher Strafverfolgung nicht durch eine einfachgesetzliche Regelung der Wiederaufnahme umgehen. Vizepräsidentin des BVerfG Prof. Dr. Doris König äußerte bei der Urteilsverkündung, dass jeder Betroffene darauf vertrauen können müsse, dass er nach dem Abschluss eines regelmäßig durchgeführten strafgerichtlichen Verfahrens nicht nochmal wegen derselben Tat vor Gericht stehen müsse. Er dürfe nicht zum Objekt der Ermittlungen des wahren Sachverhalts gemacht werden. Soweit § 362 Nr. 5 StPO die Wiederaufnahme für Verfahren ermöglicht, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens bereits abgeschlossen waren, verstoße dies gegen das Rückwirkungsverbot des Art. 103 Abs. 3 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG und stellt eine „echte“ Rückwirkung dar, die grundsätzlich verfassungsrechtlich unzulässig sei.

Ein abweichendes Votum erging durch Richter Müller und Richterin Langenfeld. Sie sehen den Gewährleistungsinhalt des Art. 103 Abs. 3 GG nicht als abwägungsfest und grundsätzlich für eine Ergänzung der bestehenden Wiederaufnahmegründe offen. Schließlich seien die Möglichkeiten einer Wiederaufnahme zuungunsten des Freigesprochenen gemäß § 362 Nr. 1-4 StPO verfassungsrechtlich unbedenklich und dem Gesetzgeber stehe eine Ergänzung der Wiederaufnahmegründe unter Beachtung verfassungsrechtlicher Grenzen offen. Art. 103 Abs. 3 GG sei insofern ein grundrechtsgleiches Recht, das verfassungsimmanenten Schranken unterliege. Die Wiederaufnahme gem. § 362 Nr. 5 StPO habe die Stabilisierung und Sicherung des Rechtsfriedens sowie die Durchsetzung von Normen zum Ziel und schütze damit höchstrangige Rechtsgüter. Darüber hinaus sei dies von fundamentalem völkerrechtlichen Interesse. Ob der streitgegenständliche § 362 Nr. 5 StPO verhältnismäßig und im engeren Sinne hinreichend bestimmt sei, bedürfe einer näheren Prüfung. Jedenfalls sei das Verbot der „echten“ Rückwirkung aus Art. 103 Abs. 3 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG betroffen. 

Einen Alternativ- und Ergänzungsvorschlag zur Reform der Wiederaufnahme von Strafverfahren zuungunsten von Freigesprochenen machte bereits Dr. Boris Bröckers in KriPoZ 2022, 15 ff. und Prof. Dr. Wolfgang Mitsch widmete sich in KriPoZ 2023, 371 ff. der Frage, warum § 362 Nr. 5 StPO aufgehoben werden sollte.

 


Gesetzentwürfe: 

 

Am 9. Juni 2021 haben die Fraktionen der CDU/CSU und SPD einen Gesetzentwurf zur Erweiterung der Wiederaufnahmemöglichkeiten des Verfahrens zuungunsten des Verurteilten gem. § 362 StPO in den Bundestag eingebracht. Hintergrund ist, dass bei einer Wiederaufnahme des abgeschlossenen Verfahrens zugunsten des Verurteilten neue Tatsachen und Beweismittel als allgemeiner Wiederaufnahmegrund zugelassen sind, im umgekehrten Fall jedoch nicht. Hier ist ein glaubhaftes gerichtliches oder außergerichtliches Geständnis erforderlich. Dies führe nach Ansicht der Fraktionen zu unbefriedigenden Ergebnissen, insbesondere wenn bei den schwersten Straftaten nachträgliche Beweismittel einen eindeutigen Hinweis auf eine Täterschaft geben. So könnten beispielsweise neue technische Untersuchungsmethoden weitere Beweismittel liefern. 

Der Entwurf sieht daher vor, die Wiederaufnahme zuungunsten des Freigesprochenen bei schwersten Straftaten zu ermöglichen, wenn: 

  • nach Abschluss des Gerichtsverfahrens neue, belastende Beweismittel vorliegen
  • sich aus den Beweismitteln die hohe Wahrscheinlichkeit einer strafrechtlichen Verantwortlichkeit ergibt und
  • eine Abwägung zwischen den Grundsätzen materieller Gerechtigkeit und des Bedürfnisses nach Rechtssicherheit ergibt, dass das Festhalten an der Rechtskraft des freisprechenden Urteils zu unerträglichen Ergebnissen führt.

Letzteres wiege dann besonders schwer, wenn es sich um abgeurteilte Delikte handele, die nicht der Verjährung unterliegen. Daher bedürfe es eines weiteren eng umgrenzten Wiederaufnahmegrundes in § 362 StPO. Um dem Grundsatz ne bis in idem (Art. 103 Abs. 3 GG) gerecht zu werden, sollen die möglichen Fälle der Wiederaufnahme auf den Tatvorwurf des Mordes (§ 211 StGB) und auf den Vorwurf von  Tötungsverbrechen nach dem VStGB begrenzt werden, die mit lebenslanger Freiheitsstrafe bedroht sind. 

Die Fraktionen schlagen vor, § 362 StPO eine Nr. 5 hinzuzufügen:

„5. wenn neue Tatsachen oder Beweismittel beigebracht werden, die allein oder in Verbindung mit früher erhobenen Beweisen dringende Gründe dafür bilden, dass der freigesprochene Angeklagte wegen Mordes (§ 211 des Strafgesetzbuches), Völkermordes (§ 6 Absatz 1 des Völkerstrafgesetzbuches), des Verbrechens gegen die Menschlichkeit (§ 7 Absatz 1 Nummer 1 und 2 des Völkerstrafgesetzbuches) oder Kriegsverbrechens gegen eine Person (§ 8 Absatz 1 Nummer 1 des Völkerstrafgesetzbuches) verurteilt wird.“

Am 11. Juni 2021 wurde der Gesetzentwurf nach einer halbstündigen Debatte zwecks weiterer Beratung in den federführenden Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz überwiesen. Dort fand am 21. Juni 2021 bereits eine öffentliche Anhörung statt. Eine Liste der Sachverständigen finden Sie hier. Die Experten sprachen sich überwiegend für den Entwurf zur Wiederaufnahme von Strafverfahren aus. Wolfram Schädler betonte, dass in einem Rechtsstaat nicht beliebig Urteile ausgetauscht werden dürften, die mit ihrem Ergebnis missfallen. Der Entwurf sei aber dahingehend zu begrüßen, da er die Wiederaufnahme nur auf unverjährbare Delikte wie Mord oder Völkermord beschränke. Auch Prof. Dr. Jörg Eisele begrüßte den Entwurf und erklärte, dass dieser mit Art. 103 Abs. 3 GG durchaus vereinbar sei. Prof. Dr. Klaus F. Gärditz ergänzte, dass das öffentliche Interesse an einer schuldangemessenen Bestrafung in diesen Fällen von überragender Wichtigkeit sei. Prof. Dr. Dr. h.c. Michael Kubiciel erklärte, dass der Entwurf einer seit fast zwei Jahrzehnten geführten rechtswissenschaftlichen Debatte entspreche. Er bilde keineswegs die Basis für weitere Durchbrechungen der Rechtskraft durch zukünftige Gesetzesnovellen. 

Prof. Dr. Helmut Aust und Stefan Conen sahen den Entwurf kritischer und lehnten ihn aus verfassungsrechtlichen Gründen ab. Der Gesetzentwurf stehe insbesondere im Widerspruch zum Verbot der Doppelverfolgung. Aust sah außerdem noch ein Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot, wenn die vorgesehene Regelungen auch auf  „Altfälle“ Anwendung finde. Stefan Conen erinnerte in seiner Stellungnahme daran, dass ein solches Vorhaben bereits 2009 gescheitert sei und auch der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages zuletzt 2016 zu dem Ergebnis gekommen sei, dass die Erweiterung der Wiederaufnahmegründe zuungunsten Freigesprochener Art. 103 Abs. 3 GG zuwiderlaufe. Dr. Ulf Buermeyer bewertete die derzeitige Debatte als kein gutes Zeichen für einen Rechtsstaat, da versucht werde, einen klaren Normbefehl zu relativieren. Der Bundestag soll sich bereits am 24. Juni 2021 abschließend mit dem Gesetzentwurf befassen. 

Am 24. Juni 2021 hat der Bundestag den Entwurf der Bundesregierung in geänderter Fassung des Rechtsausschusses in zweiter und dritter Lesung angenommen. Am 17. September 2021 beschäftigte sich auch der Bundesrat abschließend mit dem Entwurf und verzichtete auf ein Vermittlungsverfahren. 

Das Gesetz zur Erweiterung der Wiederaufnahmemöglichkeiten zuungunsten des Verurteilten gemäß § 362 StPO und zur Änderung der zivilrechtlichen Verjährung (Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit) vom 21. Dezember 2021 (BGBl. I 2021, S. 5252 f.) wurde am 29. Dezember 2021 im Bundesgesetzblatt verkündet und trat bereits einen Tag später in Kraft. 

 

 

 

 

 

 

 

Schreiben Sie einen Kommentar

Durch Abschicken des Formulares wird dein Name, E-Mail-Adresse und eingegebene Text in der Datenbank gespeichert. Für weitere Informationen lesen Sie bitte unsere Datenschutzerklärung.

Unsere Webseite verwendet sog. Cookies. Durch die weitere Verwendung stimmen Sie der Nutzung von Cookies zu. Informationen zum Datenschutz

Die Cookie-Einstellungen auf dieser Website sind auf "Cookies zulassen" eingestellt, um das beste Surferlebnis zu ermöglichen.
Wenn Sie diese Website ohne Änderung der Cookie-Einstellungen verwenden oder auf "Akzeptieren" klicken, erklären Sie sich damit einverstanden.

Weitere Informationen zum Datenschutz entnehmen Sie bitte unserer Datenschutzerklärung. Hier können Sie der Verwendung von Cookies auch widersprechen.

Schließen