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Plädoyer für eine alltagspsychologische Neubestimmung der Schuldfähigkeit (§ 20 StGB) Ein Beitrag zur strafrechtsdogmatischen Umsetzung der von der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e. V. (DGSP) geforderten Abschaffung des Maßregelvollzugs (§§ 63, 64 StGB)

von Gunnar Spilgies

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Abstract
Die DGSP fordert in einem aktuellen Positionspapier aufgrund soziologischer, empirischer und rechtspolitischer Erkenntnisse die Abschaffung des Maßregelvollzugs (§§ 63, 64 StGB) sowie die Streichung der §§ 20, 21 StGB in ihrer jetzigen Form. Es stellt sich die Frage, wie sich eine solche Forderung nach Abschaffung des Maßregelvollzugs mit Blick auf die Feststellung der Schuldfähigkeit als Voraussetzung der Strafe strafrechtsdogmatisch umsetzen lässt. Die Autoren des Positionspapiers meinen, sich am Vorbild des Art. 19 des schweizerischen StGB orientieren zu können und zeigen sich für einen von „juristischen Krankheitsmerkmalen“ bereinigten Begriff der „Steuerungsfähigkeit“ offen, erwägen im Ergebnis also, am gegenwärtig herrschenden indeterministischen Schuldfähigkeitsbegriff festzuhalten. Eine solche Lösung erweist sich jedoch als zu kurz gegriffen. Denn in einem Strafrecht ohne die Maßregeln der §§ 63, 64 StGB als zweite Spur muss die Schuldfähigkeit die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Täters exklusiv feststellen, d.h. eine echte Eingriffsgrenze des Staates in dem Sinne bilden, dass ein kriminalpolitisches Bedürfnis nach Sanktionierung des Schuldunfähigen nicht besteht. Der Beitrag plädiert daher für eine alltagspsychologische Neubestimmung der Schuldfähigkeit.

In a current position paper, the DGSP calls for the abolition of inpatient treatment in forensic psychiatry (§§ 63, 64 StGB) and the deletion of §§ 20, 21 StGB in their current version on the basis of sociological, empirical and legal policy findings. The question arises as to how such a demand for the abolition of treatment in forensic psychiatry can be implemented in terms of criminal law dogma with regard to the ascertainment of culpability as a condition of punishment. The DGSP-authors believe that they can be guided by the example of Article 19 of the Swiss Penal Code and are open to a concept of „action control“ that has been purified of „legal characteristics of illness“, i.e. they are considering adhering to the currently prevailing indeterministic concept of culpability. Such a solution, however, proves to be too short-sighted. For in a criminal law without the measures of §§ 63, 64 StGB as a second track, the culpability must exclusively ascertain the criminal responsibility of the offender, i. e. form a real state intervention limit in the sense that there is no criminal policy need for sanctioning the culpably incapable. The article therefore argues for a new definition of culpability based on everyday psychology.

I. Einführung

Die DGSP hat am 1. März dieses Jahres ein bahnbrechendes Positionspapier mit dem Titel „Plädoyer für eine Transformation der Maßregeln der §§ 63 und 64 StGB“ veröffentlicht, in dem die Autoren auf der Grundlage einer schonungslosen soziologischen, empirischen und rechtlichen Evaluation des Maßregelvollzugs nichts weniger als dessen Abschaffung und eine grundlegende Reform des zweispurigen Sanktionenrechts fordern.[1] Die Kurzfassung dieses Plädoyers beginnt denn auch mit dem proklamatischen Paukenschlag: „Die §§ 63, 64 und 20, 21 StGB werden gestrichen.“[2] Künftig sei „das Strafmaß für alle Rechtsbrecher, auch psychisch erkrankte und suchtmittelabhängige, nach gleichen Maßstäben auf die tatschuldangemessene Dauer festzulegen.“[3] Im Zuge dieser „tiefgreifende[n] und nachhaltige[n] Änderung des Sanktionenrechts“ soll eine „Transformation des Rechts der freiheitsentziehenden Unterbringung“ und eine „Konversion der in den Ländern mit dem bisherigen Vollzug der Maßregeln befassten Organisationen und den darin beschäftigten Personen“ vollzogen werden.[4]

Das Plädoyer der DGSP ist sehr zu begrüßen und verdient volle Unterstützung. Eine nähere Untersuchung bedarf jedoch die Frage, wie die Forderung nach Abschaffung des Maßregelvollzugs und Streichung der §§ 63, 64 StGB mit Blick auf die Feststellung der Schuldfähigkeit als Voraussetzung der Strafe strafrechtsdogmatisch umzusetzen ist. Denn wie Pollähne mit Recht betont: „Eine Maßregelrechtsreform, die die Grundlagen der Schuld(un)fähigkeit ausklammert, greift zu kurz.“[5] Das liegt an der grundlegend verschiedenen Funktion der Schuldfähigkeit in einem einspurigen Strafrecht im Vergleich zu einem zweispurigen: Während im zweispurigen System die Schuldfähigkeit grundsätzlich lediglich über das „Wie“ der Sanktion entscheidet (mit der Ausnahme eines echten Freispruchs), bestimmt im einspurigen System die Schuldfähigkeit über das „Ob“ einer Sanktion überhaupt. Mit anderen Worten: Nur in einem Strafrecht ohne zweite Spur stellt die Schuldfähigkeit die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Täters exklusiv fest und bildet damit eine echte Eingriffsgrenze des Staates, ohne dass im Falle festgestellter Schuldunfähigkeit ein kriminalpolitisches Bedürfnis nach Sanktionierung des schuldunfähigen Täters verbleibt.

Wie ist vor diesem Hintergrund die Schuldfähigkeit inhaltlich zu bestimmen, wenn die Maßregeln der §§ 63, 64 StGB entfallen? Im Folgenden soll zunächst der Vorschlag der DGSP kritisch beleuchtet werden (dazu II), bevor für eine alltagspsychologische Neubestimmung der Schuldfähigkeit argumentiert wird (dazu III–VI).

II. Schuldfähigkeit als von den „juristischen Krankheitsmerkmalen“ bereinigte „Steuerungsfähigkeit“?

Die Autoren des Positionspapiers diskutieren in Teil 4, welche Schlüsse sich aus der Transformation und Konversion des Sanktionenrechts für die Prüfung der Schuldfähigkeit ergeben:[6]

„Im Kontext einer Transformation von strafrechtsbezogenen freiheitsentziehenden Unterbringungen werden die §§ 20 und 21 StGB in ihrer gegenwärtigen Gestalt obsolet. Eine Prüfung des Vorliegens oder der Aufhebung von Schuldfähigkeit zum Zeitpunkt der beschuldigten bzw. angeklagten Tat findet nicht mehr an den bisherigen juristischen Krankheitsmerkmalen des § 20 StGB statt.“ Im Blick auf die künftige Normgebung sei zu prüfen, „ob der bisher gebrauchte Begriff der Schuldfähigkeit bei einer Neufassung der ,Grundlagen der Strafbarkeit‘ im Allgemeinen Teil des StGB durch den Begriff der Steuerungsfähigkeit, soweit dieser Terminus überhaupt erforderlich erscheint, ersetzt werden kann.“ Eine Neufassung der bisherigen §§ 20, 21 StGB könne sich am Vorbild des Art. 19 des schweizerischen StGB orientieren, in dem ausschließlich auf die Einsichts- und Steuerungsfähigkeit abgestellt werde. Auch im Rahmen der Strafzumessung sei „wohl an der Klärung der strafrechtlichen Schuld bzw. der entsprechenden Steuerungsfähigkeit – ohne Rückgriff auf die Nennung von Krankheitsmerkmalen – festzuhalten.“

Ein so auf die Einsichts- und Steuerungsfähigkeit abstellender, von den „juristischen Krankheitsmerkmalen“ bereinigter Schuldfähigkeitsbegriff statuiert jedoch das individuelle Rechtmäßighandelnkönnen des Täters zum alleinigen Kriterium der Schuldfähigkeit und bleibt damit gerade dem gegenwärtig herrschenden indeterministischen Schuld(fähigkeits)begriff verhaftet.[7] Schon aus diesem Grund ist ein solcher Schuldfähigkeitsbegriff aber untauglich: Norm- und straftheoretisch, weil die Annahme einer indeterministischen Willensfreiheit ganz allgemein mit Sollensforderungen und Präventionsstrafen unvereinbar ist, aber auch rechtspraktisch, weil die Feststellung einer indeterministischen Einsichts- und Steuerungsfähigkeit zum einen in eine Aporie führt, die auch durch eine „normative Zuschreibung“ dieser Fähigkeiten – sei es durch „Vermutung“ oder „Fiktion“ – nicht aufgelöst werden kann, und zum anderen zu einem Verstoß gegen den fundamentalen Zweifelssatz „in dubio pro reo“.[8]

Überdies wäre ein solcher Schuldfähigkeitsbegriff aber auch in einem einspurigen System wie eingangs erwähnt viel zu weit, weil er ja gerade nicht geeignet ist, die Verantwortlichkeit exklusiv festzustellen. Es ist kriminalpolitisch schwer vorstellbar, dass Täter, die bisher wegen Schuldunfähigkeit oder verminderter Schuldfähigkeit (§§ 20, 21 StGB) im Maßregelvollzug untergebracht wurden, schlicht freigelassen werden bzw. eine Strafmilderung erhalten. Der Volkszorn würde sich regen und die Gefahr der Störung des Rechtsfriedens würde heraufbeschworen. Umso mehr, wenn sogar die „juristischen Krankheitsmerkmale“ nach Ansicht der DGSP-Autoren wegfallen sollen, so dass Schuldunfähigkeit in weiteren Fällen festgestellt werden könnte. Dass man für den Fall eines solchen Wegfalls schon bei den Beratungen des Sonderausschusses des Deutschen Bundestags für die Strafrechtsreform eine zu große Rechtsunsicherheit und gefühlsgeleitete Schuldunfähigkeitserklärungen befürchtete, sei nur am Rande erwähnt.[9]

Insofern vermag auch der Verweis auf das Schweizer Vorbild in Art. 19 StGB nicht zu überzeugen. Denn erstens wird die Streichung des Eingangsmerkmals der „erheblichen psychischen Störung“ als gesetzgeberisches Versehen angesehen und die Schuldfähigkeit in praxi nach wie vor von einem psychiatrischen Befund abhängig gemacht,[10] was auch in Art. 20 StGB zum Ausdruck kommt, wonach bei ernsthaften Zweifeln an der Schuldfähigkeit eine sachverständige Begutachtung anzuordnen ist. Und zweitens ist das Strafrecht der Schweiz gerade kein einspuriges Strafrecht: Nach Art. 19 S. 3 StGB können „Massnahmen nach den Artikeln 59–61, 63, 64, 67, 67b und 67e getroffen werden.“

Zwar stellen die Autoren damit immerhin eine aus ihrer Sicht mögliche Neufassung zur Diskussion, die bloße Streichung der in § 20 StGB genannten „juristischen Krankheitsmerkmale“ greift aber dennoch zu kurz, vielmehr bedarf eine Abschaffung der Maßregeln nach den §§ 63, 64 StGB einer grundlegenden Neubestimmung der Schuldfähigkeit.

III. Die strafrechtliche Schuldzuschreibung als alltagspsychologische Kausal­attribution

Ausgangspunkt einer solchen Neubestimmung ist nach hier vertretener Ansicht das Verständnis der strafrechtlichen Schuldzuschreibung als alltagspsychologischer Kausalattribution. Im Alltag verhalten sich Menschen wie „naive Wissenschaftler“, indem sie ständig für ein die Ordnung störendes, d.h. anormales (unerwartetes) Ereignis nach Ursachen suchen und Kausalzusammenhänge konstruieren.[11] Dementsprechend wird im Alltag auch menschliches Verhalten mit Hilfe des Kausalprinzips verrechnet. Weicht ein Verhalten von Verhaltensnormen ab, so wird das Verhalten durch eine Ursachenzuschreibung letzterklärt. Den Prozess der schlussfolgernden Zuschreibung der Ursachen für ein (eigenes oder fremdes) Verhalten, also die alltagspsychologische Erklärung eines Verhaltens, bezeichnet die Sozialpsychologie als Kausalattribution.[12] Nun bedeuten das griechische Wort für Ursache „αίτία“ und die lateinische Übersetzung „causa“ ursprünglich Schuld.[13] Ursache und Schuld meinen also ursprünglich dasselbe. Vor allem im alltäglichen Sprachgebrauch verwendet man „Schuld“ bis heute in diesem kausalen Sinne. Die strafrechtliche Schuldzuschreibung lässt sich daher als alltagspsychologische Kausalattribution verstehen.[14] Zum weiteren Verständnis werden deren Grundgedanken kurz skizziert.

1. Die naive Verhaltenstheorie von Heider: Person oder Situation?

Als richtungsweisend für die Attributionsforschung hat sich die naive Verhaltenstheorie des Alltagsmenschen von Heider erwiesen.[15] Nehme man im Alltag ein anormales Verhalten wahr, so wird nach Heider entweder der handelnden Person, d.h. ihren dispositionalen internalen Faktoren: ihren Handlungsfähigkeiten („power factor“, „Können“) und in stärkerer Weise ihrer Motivation („motivational factor“, „Wollen“), oder der Situation („environment“), d.h. externalen Faktoren, die Ursache für das Verhalten zugeschrieben, um die Stabilität und Ordnung der Welt zu wahren.

2. Die zwei Stufen der Kausalattribution

Heiders Verhaltenstheorie lässt sich auf einen zweistufigen Prozess der Kausalattribution zurückführen, der auf der Grundlage der beiden funktional unterschiedlichen Hirnsysteme des Unbewussten und Bewussten[16] von einer intuitiven zu einer rationalen Attributionsstufe schreitet (bzw. zwischen beiden hin und her wechselt) und letztlich den alltagspsychologischen Perspektivendualismus zwischen Erste-Person- und Dritte-Person-Perspektive widerspiegelt.[17]

a) Intuitive Attributionsstufe = internale Attribution (Erste-Person-Perspektive)

Auf der ersten, intuitiven Stufe urteilt der Zuschreibende aus der Erste-Per­son-Per­spek­tive als Teilnehmer der Situation und schreibt die Schuld emotionsgeleitet intuitiv quasi automatisch zu. Die intuitiv angewendete Zuschreibungsheuristik aus der Teilnehmerperspektive lautet: „Schreibe dem Faktor die Ursache für das Verhalten zu, der nach den gegenwärtig verfügbaren Informationen offensichtlich oder bekanntermaßen anormal und kontrollierbar ist!“ Da für Beobachter regelmäßig das Verhalten von Personen phänomenologisch am auffälligsten ist (sog. Wahrnehmungssalienz), während externale, situative Umstände im Verborgenen bleiben (sog. Un­sicht­bar­keits­prob­lem),[18] und die Person im Gegensatz zu externalen Umständen leichter zu kontrollieren ist,[19] wird die Schuld intuitiv grundsätzlich internal, also den anormalen Eigenschaften der handelnden Person zugeschrieben. Intuitiv setzen Menschen Aktivität allgemein mit Selbstbestimmtheit und Kontrolle gleich. Dabei geht diese Zuschreibung bei Normverletzungen mit mehr oder weniger starken reaktiven Gefühlen gegen den Akteur einher.

b) Rationale Attributionsstufe = externale Attribution (Dritte-Person-Perspektive)

Auf der zweiten, rationalen Stufe urteilt der Zuschreibende dagegen aus der Dritte-Per­son-Per­spek­tive als Beobachter der Situation und schreibt die Schuld in anstrengender Gedankenarbeit auf der Grundlage rationaler Überlegungen zu. Dadurch können anormale Situationsfaktoren für das Verhalten sichtbar werden, so dass die internale Attribution in eine externale geändert werden kann. Eine solche Revision der internalen Attribution fällt im Alltag jedoch schwer und gelingt häufig nur unzureichend, weil die internale Attribution „schnell und spontan erfolgt, während der zweite Schritt (Anpassung an die Situation) mehr Anstrengung und bewusste Aufmerksamkeit erfordert […][20] Je sichtbarer situative Faktoren und damit stärker die Zweifel am „freien Willen“ des Akteurs, desto größer die Neigung zu externaler Attribution.[21] Dementsprechend schwächen sich auch bei Normverletzungen die reaktiven Gefühle umso mehr ab, je sichtbarer situative oder physiologische Ursachen des Fehlverhaltens werden.[22] Für Deterministen ist der Wechsel zur beobachtenden Perspektive freilich geradezu programmatisch und im Falle von moralischem Fehlverhalten mit einer Haltung zu mehr Toleranz, Nachsicht und Verständnis verbunden.[23] Das „Milgram-Experiment“ und „Stanford-Prison-Experiment“ haben eindrucksvoll gezeigt, dass der Einfluss situativer Kräfte erheblich unterschätzt wird und Dispositionen der Akteure fälschlicherweise für beobachtbares Verhalten verantwortlich gemacht werden.[24] Aufgrund der Wahrnehmungssalienz schreiben Personen ein beobachtetes Verhalten sogar wider besseres Wissen über dessen externale Ursachen der handelnden Person als „selbst gewollt“ zu.[25] Die Sozialpsychologie bezeichnet diese Neigung des Menschen, der handelnden Person die Verantwortung für ihr Verhalten auch dann zuzuschreiben, wenn das Verhalten hinreichend durch nichtpersonale Situationsbedingungen erklärt werden kann, diese Neigung zu personaler Überattribution also, als fundamentalen Attributionsfehler.[26]

IV. Schuldfähigkeit als askriptiver Begriff

Versteht man hiernach die strafrechtliche Schuldzuschreibung als alltagspsychologische Kausalattribution, so handelt es sich bei der Schuldfähigkeit nicht um eine ontische Fähigkeit von Personen und einen deskriptiven Begriff, sondern um einen askriptiven Begriff. Eine Antwort auf die Frage, unter welchen Voraussetzungen eine Person schuldfähig ist, findet man nicht in der Feststellung von psychischen Eigenschaften einer Person, vielmehr wird die Schuldfähigkeit normativ aus Sicht der Gesellschaft zugeschrieben.

Man werde sich bewusst, so schreibt Nowakowski im Jahre 1957, „daß es sich beim sogenannten psychologischen Element der Zurechnungsfähigkeit in Wahrheit um eine Wertungsfrage handelt.“[27] Die konkrete Schuldfähigkeit, so Welzel, sei „kein Gegenstand theoretischer Erkenntnis“ und diese Frage „wissenschaftlich“ nicht beantwortbar.[28] Dementsprechend erscheint es für Streng „ratsam, die Schuldfähigkeitsbestimmung von der Freiheitsfrage zu lösen“, weil „Schuld auf der Basis einer komplexen Wertung der Urteilenden zugemessen wird“ und „die angebliche Schuldvoraussetzung Freiheit […] interpretativ und wertend bestimmbar“ sei.[29] Entscheidend ist danach mit Wohlers, „das sich aus der gesellschaftlichen Verständigung ableitende Verständnis davon, wer ein verantwortliches Subjekt ist.“[30]

V. Der alltagspsychologische Schuldfähigkeitsbegriff

Wird die Schuldfähigkeit danach also im Rahmen der alltagspsychologischen Kausalattribution aus Sicht der Gesellschaft normativ zugeschrieben, so ist die Schuldfähigkeit als Zuschreibungsfähigkeit einer Person zu verstehen (dazu 1). Attributionstheoretisch präziser bedeutet das: Eine Person ist schuldfähig, wenn die Ursache der Tat den dispositionalen Eigenschaften der handelnden Person zugeschrieben werden kann, d.h. ihrer Handlungsfähigkeit (ihrem „Können“) oder ihrer Motivation (ihrem „Wollen“). Kurz: Schuldfähigkeit setzt demzufolge ein zuschreibungsfähiges Wollen und eine zuschreibungsfähige Handlung voraus. Daraus ergeben sich zwei Arten der Schuldunfähigkeit: eine wollensbezogene Schuldunfähigkeit (dazu 2) und eine handlungsbezogene Schuldunfähigkeit (dazu 3). In der Sache geht es dabei zugleich um die Bestimmung eines strafrechtlichen Willensbegriffs bzw. Handlungsbegriffs.

1. Schuldfähigkeit als Zuschreibungsfähigkeit

Schuldfähigkeit ist die Fähigkeit (Geeignetheit) einer Person, aus Sicht der Gesellschaft Schuld (Ursache) an der Straftat und damit der Verletzung einer Strafrechtsnorm sein zu können. Sie ist mit Frister „durchaus wörtlich zu verstehen als Fähigkeit, schuldig werden zu können.“[31] Schuldfähigkeit bedeutet somit Zuschreibungsfähigkeit, bezeichnet also die Person als taugliches Zuschreibungssubjekt, der Schuld zugeschrieben werden kann, kurz: die zuschreibungsfähige Person oder nach traditioneller Terminologie: die zurechnungsfähige Person.[32] In diesem Sinne sagt Kelsen: „Zurechnungsfähig ist, wer wegen seines Verhaltens bestraft, das heißt: dafür zur Verantwortung gezogen werden kann, während unzurechnungsfähig jener ist, der wegen eines gleichen Verhaltens […] nicht bestraft, das heißt: dafür nicht zur Verantwortung gezogen werden kann.“[33]

a) Schuldunfähigkeit als fehlende Kompetenz, die Normgeltung zu beschädigen

Die Schuldunfähigkeit offenbart sich alltagspsychologisch in der fehlenden Kompetenz der Person, die Normgeltung zu beschädigen. Mit den Worten von Jakobs: dem schuldunfähigen Täter „fehlt die Kompetenz, Normgeltung zu desavouieren“[34] und schuldfähig sei nur eine Person, die „zur Zeit der Tat ein Subjekt mit der Kompetenz ist, die Normgeltung in Abrede zu stellen“, „die als Gleicher definiert wird.“[35] Schuldunfähige Personen dagegen seien „qualitativ abnorm“[36], „Störfaktoren, wie Naturkatastrophen“ und sie kämen „als vollwertige Partner des sozialen Bereichs, den das Recht regelt, nicht in Frage“.[37] Schon Welzel versteht das Urteil der Schuldfähigkeit in diesem Sinne als einen „kommunikativen“ Akt: „Es ist die Anerkennung des anderen als Du, als gleiches, sinnvoller Bestimmung zugängliches und darum gleich verantwortliches Subjekt, wie ich selbst es bin.“[38]

b) Schuldunfähigkeit als „vornormative Enttäuschung“

In sachlicher Übereinstimmung hiermit lässt sich die Schuldunfähigkeit auch mit Luhmann als eine Enttäuschung vornormativer Verhaltenserwartungen auf der Grundlage undifferenziert normativ-kognitiven Erwartens deuten.[39] In diesem großen Bereich von selten enttäuschten Erwartungen, in dem eine Vorentscheidung kognitiven oder normativen Erwartens unnötig sei, finde man typisch den Ausweg, „daß das enttäuschende Verhalten rein faktisch als Störung gesehen und als Ausnahme isoliert und im Falle der Wiederholung oder der sichtbaren Unvermeidlichkeit möglichst ‚normalisiert‘ wird.“[40] Die Störung werde „entweder wegerklärt oder erwartbar gemacht. In krasseren Fällen, bei häufig wiederholten schweren Verstößen wird typisch der Ausweg gewählt, den enttäuschend Handelnden für geisteskrank zu erklären und ihn damit aus der Gemeinschaft menschlicher Subjekte, deren Erlebnisse und Erwartungen als Weltinterpretation zählen, auszuschließen.“[41] Schuldunfähige sind daher keine tauglichen Normadressaten, können schon keine strafrechtlichen Normen verletzen und damit kein strafrechtliches Unrecht verwirklichen.[42] Das Schuldunfähigkeitsurteil führt so zu einer „Individualisierung der Normdurchsetzung“[43].

2. Wollensbezogene Schuldunfähigkeit

Die fehlende Kompetenz des Täters, den Wert strafrechtlicher Normen in Abrede zu stellen, kann zunächst auf dem Fehlen eines zuschreibungsfähigen „Wollens“ beruhen, d.h., es fehlt an einem strafrechtlich erheblichen Willen. Diese wollensbezogene (voluntative) Schuldunfähigkeit knüpft an den gegenwärtig bezeichneten Fall einer fehlenden Schuldfähigkeit wegen psychischer Störungen nach § 20 StGB an: Der Täter ist wollensbezogen schuldunfähig, wenn ihm die Schuld deshalb nicht zugeschrieben werden kann, weil sein Wollen (seine Motivation) aus alltagspsychologischer Sicht wegen einer psychischen Störung nicht als Ursache der Tat in Betracht kommt.

a) Die grundsätzliche Unbeachtlichkeit psychischer Störungen für die Entstehung eines Normgeltungsschadens im Alltag

Aus alltagspsychologischer Sicht haben psychische Störungen grundsätzlich jedoch keinen Einfluss darauf, ob ein Verhalten eine normative Verhaltenserwartung enttäuscht und somit zu einem Normgeltungsschaden führt. Die Gesellschaft reagiert vielmehr auch bei Straftaten psychisch Gestörter mit Gefühlen moralischer Entrüstung.[44] „Milde“ Urteile gegen schuldunfähige Täter sorgen regelmäßig für Empörung.[45] Im Alltagsleben bildet die Zuschreibungsheuristik des „offensichtlich anormalen Faktors“ eine starke Intuition, die äußerst revisionsfest ist und zu personaler Überattribuierung führt. Die psychische Störung ist in der Regel von außen nicht sichtbar, so dass ein Wechsel von der intuitiven zur rationalen Attributionsstufe nicht stattfindet. Es kommt zur „Dämonisierung des Bösen“.[46] Nach gegenwärtiger Rechtslage bleiben denn auch psychisch Gestörte maßregelrechtlich nach den §§ 63, 64 StGB verantwortlich, obwohl sie strafrechtlich für schuldunfähig erklärt werden.

b) Fehlendes zuschreibungsfähiges Wollen wegen sichtbar anormaler Täterpsyche („innerer psychischer Zwang“)

Nur ausnahmsweise liegt daher eine wollensbezogene Schuldunfähigkeit vor, wenn das Wollen des Täters einer sichtbar gestörten Geistestätigkeit entspringt und die anormale Täterpsyche daher die Tat aus Sicht der Allgemeinheit letztursächlich erklärt. Grundsätzlich begründet die Anormalität der Tat und des Täters gerade die Schuld des Täters, wer aber, so Streng, „aus der Sicht des Urteilenden gerade keine komplexe und gewissenskompatible, also ,gesunde‘ Handlungssteuerung aufweist […], der wird vom Urteilenden als ein ,ganz Anderer‘ angesehen, in dem er sich nicht wiedererkennt. Von daher verkörpert ein so geprägter Rechtsbruch […] eine Art Unglück, ähnlich einer Naturkatastrophe.“[47] Eine sachverständige Begutachtung ist daher für die Bestimmung der Schuldfähigkeit ohne Belang.

Dementsprechend fordert Luhmann für die Annahme vornormativer Enttäuschungen, die als „Störung gesehen“, als „Ausnahme isoliert“ und „wegerklärt“ oder „normalisiert“ werden:

„Die Erklärung und Behandlung von Abweichungen als pathologisches, wenn nicht geisteskrankes Verhalten setzt hohe Selbstverständlichkeit und Undifferenziertheit der Erwartungsgrundlagen voraus. Die Reaktion knüpft an auffällige Verstöße gegen die Regeln ordnungsgemäßer Interaktion von Angesicht zu Angesicht an, deren Bruch einerseits selten ist, weil sofort offenkundig, und andererseits schwer wiegt, weil er Anwesende schockiert und aus ihrem Aktionsrahmen wirft – eine Art von Verbrechen, das gleichsam unter den Augen der Wärter im Gefängnis begangen wird und deshalb von vornherein als unsinnig erscheint.“[48]

In dem Maße, wie psychische Störungen „veralltäglicht“ würden, könne „abweichendes Verhalten auf ,innere‘ Störungen zurückgeführt werden“. Das abweichende Verhalten des psychisch Gestörten werde „nicht durch moralische Diffamierung die symbolische Brisanz genommen, sondern dadurch, daß er ausnahmsweise als unfrei behandelt und sich selbst und anderen erklärt wird. […] Er wird als Ausnahme abgestempelt und so isoliert. Er erhält eine Abweicherrolle – als Außenseiter […] Man reagiert auf Enttäuschungen also nicht durch den Versuch, die Abweichung zu beseitigen, sondern gerade umgekehrt durch Deutung und Stabilisierung der Abweichung als Abweichung, die dann als Ausnahme die Regel nicht mehr tangiert.“[49]

Unerheblich ist schließlich, welche psychischen Faktoren eine solche anormale Täterpsyche begründen, vorausgesetzt sie sind nach außen erkennbar und führen dazu, dass die Tat die Normgeltung nicht beschädigt. Neben psychischen Störungen und Rauschzuständen kommen also auch – entgegen der h.M.[50] Bewusstlosigkeit, Bewegungen im Schlaf (Schlafwandeln) oder epileptische Krampfanfälle als Gründe für eine wollensbezogene Schuldunfähigkeit in Betracht.

c) Geringe Schwere der Tat (Erheblichkeitsschwelle)

Ein zuschreibungsfähiges Wollen fehlt aber nur dann, wenn die begangene Tat nicht sehr schwer ist. Begeht eine sichtbar psychisch gestörte Person eine erhebliche rechtswidrige Tat, d.h. in Anlehnung an § 63 StGB jedenfalls eine solche, „durch welche die Opfer seelisch oder körperlich erheblich geschädigt […] werden oder schwerer wirtschaftlicher Schaden angerichtet wird“, so reagieren das Opfer und die Allgemeinheit mit moralischer Entrüstung. Ist also die Erheblichkeitsschwelle überschritten, entsteht ein Normgeltungsschaden und die Tat wird nicht im Sinne Luhmanns„wegerklärt“ oder „normalisiert“. Mit der Größe des Erfolgsunwerts des Verhaltens steigt daher auch die Neigung zu personaler Schuldzuschreibung – unabhängig von der Sichtbarkeit einer psychischen Störung.[51] Im Ganzen betrachtet bilden die Fälle einer wollensbezogenen Schuldunfähigkeit daher eine Quantité négligeable.

In der Vergangenheit hat eine solche sozialpsychologische Deutung der Schuldfähigkeit namentlich der schwedische Rechtsphilosoph Anders Vilhelm Lundstedt vertreten, nach dem bei der Zurechnungsfähigkeit festzustellen sei, „ob die psychische Lage bei der Handlung derart war, dass die Allgemeinheit, wenn sie volle Kenntnis von dem Sachverhalt gehabt hätte, nicht mit moralischer Entrüstung reagiert hätte.“[52] Und auch Nowakowski verweist auf den ursprünglichen Kern der Zurechnungsunfähigkeit, wenn er diese als ein Gebiet bezeichnet, „aus dem sich das Vergeltungsbedürfnis zurückgezogen hat. […] Ursprünglich ließen sich die dafür maßgebenden Sachverhalte einfach und plastisch erfassen. Es waren Geisteskrankheiten von unmittelbarer Sinnfälligkeit.“[53]

3. Handlungsbezogene Schuldunfähigkeit

Die Schuldunfähigkeit kann sich auch auf die „Handlungsfähigkeit“ des Täters beziehen. Diese handlungsbezogene (aktionale) Schuldunfähigkeit verweist auf den gegenwärtig von der h.M. im Rahmen der Diskussion um einen zutreffenden strafrechtlichen Handlungsbegriff bezeichneten Fall eines strafrechtlich nicht als „Handlung“ zu bewertenden Verhaltens. Während die h.M. eine solche „strafrechtliche Handlung“ (entsprechend dem vorherigen Fall des „strafrechtlichen Willens“) wiederum nach ontischen Eigenschaften zu bestimmen sucht,[54] ist auch die strafrechtliche Handlung als askriptiver Begriff[55] im Rahmen der alltagspsychologischen Kausalattribution aus Sicht der Gesellschaft normativ zuzuschreiben. Der strafrechtliche Handlungsbegriff geht also inhaltlich in dem alltagspsychologischen Schuldfähigkeitsbegriff auf.

Eine strafrechtliche Handlung liegt danach nicht vor und der Täter ist handlungsbezogen schuldunfähig, wenn die Handlung wegen eines unwiderstehlichen physischen Zwangs nicht zuschreibungsfähig ist, die Tat somit aus Sicht der Allgemeinheit durch diesen äußeren Zwang letztursächlich erklärt wird. Im Unterschied zur wollensbezogenen Schuldunfähigkeit ist das Verhalten des Täters im Falle der handlungsbezogenen Schuldunfähigkeit wegen eines sichtbar anormalen externalen Umstands aus alltagspsychologischer Sicht nicht geeignet, die Normgeltung zu beschädigen.

Handlungsbezogene Schuldunfähigkeit liegt also vor, wenn der Täter „machtlos“ ist und ein äußerer Faktor „rein mechanisch“ seine Bewegung bewirkt. Daraus ergibt sich: Nur nicht konditionierbare Reflexbewegungen und Bewegungen durch vis absoluta sind keine strafrechtlichen Handlungen. Dagegen handelt es sich bei automatisierten Verhaltensweisen nicht um Fälle unwiderstehlichen physischen Zwangs, sie werden daher alltagspsychologisch der Person als dispositionales „Können“ normativ zugeschrieben.

Hypnotisierte wären handlungsbezogen schuldunfähig, wenn durch Hypnose ein unwiderstehlicher Zwang ausgeübt werden könnte, Straftaten zu begehen. Das setzt voraus, dass die Hypnose über das Unterbewusstsein des Hypnotisierten – wie ein physischer Zwang – psychisch unwiderstehlich wirkt. Nach derzeitigem Forschungsstand ist es jedoch nicht möglich, jemanden durch Hypnose zu etwas zu zwingen, was er sonst nicht tun würde.[56] Der Hypnotisierte ist der Suggestion des Hypnotiseurs also nicht machtlos ausgeliefert. Handlungen im hypnotischen Trance-Zustand sind daher zuschreibungsfähig.[57]

Auch Gedanken sind zuschreibungsfähige Handlungen, wenn sie über eine sog. Hirn-Computer-Schnitt­stelle (Brain-Computer-Interface) einen Computer steuern und dadurch per Fernsteuerung eine Veränderung in der Außenwelt bewirken.

Anders als bei der wollensbezogenen Schuldunfähigkeit ist die handlungsbezogene Schuldunfähigkeit nicht auf Taten geringer Schwere beschränkt, die Erheblichkeitsschwelle gilt also nicht. Denn bei einer solchen externalen Attribution wird entweder derjenigen Person die Schuld zugeschrieben, die den unwiderstehlichen Zwang ausgeübt hat, oder das Verhalten wird von der Allgemeinheit dem „Zufall“ zugeschrieben und als Unglücksfall bewertet.

VI. Neufassung des § 20 StGB

Auf der Grundlage dieser alltagspsychologischen Neubestimmung der Schuldfähigkeit lässt sich schließlich folgender Vorschlag für eine Neufassung des § 20 StGB formulieren:

„Schuldunfähig ist, wer   
1. die Tat durch unwiderstehlichen physischen Zwang begeht oder     
2. sich bei Begehung der Tat in einem Zustand der Bewusstlosigkeit oder sichtbarer Störung der Geistestätigkeit befindet, sofern die begangene Tat nicht erheblich ist.“

Die Vorschrift über die Schuldunfähigkeit von Kindern (§ 19 StGB) kann unverändert bleiben. Bei Kindern unter 14 Jahren wird unwiderleglich vermutet, dass ihre Taten keinen Normgeltungsschaden hervorrufen. Abzuschaffen ist dagegen die Vorschrift über die verminderte Schuldfähigkeit (§ 21 StGB), weil die Schuldfähigkeit nur entweder gegeben sein kann oder nicht. Daneben wird das Rechtsinstitut der actio libera in causa sowie der Vollrauschtatbestand (§ 323a StGB) obsolet.

VII. Fazit

Die DGSP hat mit ihrem Plädoyer für eine Abschaffung des Maßregelvollzugs einen wichtigen Anstoß für eine grundlegende Reform der strafrechtlichen Schuldzuschreibung und des Sanktionenrechts gegeben. Diese ist längst überfällig. Durch die Neufassung des § 20 StGB auf der Grundlage eines alltagspsychologischen Schuldfähigkeitsbegriffs lässt sich die Streichung der Maßregeln nach den §§ 63, 64 StGB strafrechtsdogmatisch „sauber“ umsetzen und vor allem auch kriminalpolitisch verträglich.

Freilich ist eine solche Änderung nur Teil und Ausdruck eines alternativen Systementwurfs, d.h. eingebunden in ein Schuldstrafrecht auf der Grundlage des Determinismus  als  Alternative  zum  gegenwärtigen  indeterministischen Schuldstrafrecht. Danach trifft den Straftäter eine dreifache Schuld: eine Schuld als „Verursachung“ der Normverletzung, als „Vorwurf“ der Tatbegehung und als „Verpflichtung“ zur Duldung der Vergeltungsstrafe.[58]

Die Autoren des Positionspapiers der DGSP erstreben einen „breiten fach(öffent)lichen Diskurs“, um „Einzelheiten einer mit der geforderten Transformation und der Konversion anzustrebenden Neuordnung des Sanktionenrechts und seiner praktischen Vollzugsgestaltung“ zu erarbeiten.“[59] Einen Beitrag zu diesem Diskurs zu leisten, war Ziel des vorliegenden Aufsatzes.

 

[1]      Siehe Feißt/Lewe/Kammeier, online abrufbar unter: https://www.dgspev.de/fileadmin/user_files/dgsp/pdfs/Stellungnahmen/2022/Plaedoyer_fuer_eine_Transformation_der_Massregel.pdf (zuletzt abgerufen am 9.5.2022).
[2]      Feißt/Lewe/Kammeier/DGSP, Plädoyer für eine Transformation der Maßregeln – Kurzfassung –, online abrufbar unter: https://www.dgspev.de/fileadmin/user_files/dgsp/pdfs/Stellungnahmen/2022/Plaedoyer_fuer_eine_Transformation_der_Massregel_Kurzfassung.pdf, S. 1 (zuletzt abgerufen am 9.5.2022).
[3]      Feißt/Lewe/Kammeier (Fn. 1), S. 82.
[4]      Siehe Feißt/Lewe/Kammeier (Fn. 1), S. 72 (Hervorhebung im Original).
[5]      Pollähne, NK 2015, 25 (37); vgl. auch ders., KriPoZ 2016, 28 (33).
[6]      Siehe zum Folgenden Feißt/Lewe/Kammeier (Fn. 1), S. 72 f. (Hervorhebung im Original).
[7]      Vgl. zu diesem nur Eisele, in: Schönke/Schröder, StGB, 30. Aufl. (2019), Vor § 13, Rn. 103/104, 109 ff.; Rogall, in: SK-StGB, Bd. 1, 9. Aufl. (2017), Vor § 19 Rn. 5 ff., § 20 Rn. 6; sowie Spilgies, HRRS 2015, 177 (180 ff.).
[8]      Vgl. zum Ganzen näher Spilgies, Über Schuld und Strafe auf deterministischer Grundlage, 2021, S. 34 ff., 62 ff. m.w.N.
[9]      Vgl. Roxin/Greco, Strafrecht Allgemeiner Teil, Bd. 1, 5. Aufl. (2020), § 20 Rn. 7. Nach Schiemann, KriPoZ 2019, 338 (346), würde überdies der gänzliche Wegfall der Eingangsmerkmale einen Verstoß gegen das Analogieverbot darstellen und nach Art. 103 Abs. 2 GG verfassungswidrig sein.
[10]    Vgl. Schiemann, KriPoZ 2019, 338 (344); Noll, ZStR 2017, 61 (63) m.w.N., der im Übrigen auch explizit die indeterministische Grundlage der Schuldfähigkeit verteidigt. Dazu auch Ege, ZStR 2017, 299 (311): „Das Gesetz folgt damit einem indeterministischen Menschenbild.“
[11]    Vgl. Scheibe, in: Krüger (Hrsg.), Erkenntnisprobleme der Naturwissenschaften, 1970, S. 253 ff.
[12]    Vgl. Aronson/Wilson/Akert, Sozialpsychologie, 8. Aufl. (2014), S. 114; Bierbrauer, Sozialpsychologie, 2. Aufl. (2005), S. 102 f.; Effer-Uhe/Mohnert, Psychologie für Juristen, 2019, Rn. 393; Parkinson, in: Jonas/Stroebe/Hewstone (Hrsg.), Sozialpsychologie, 6. Aufl. (2014), S. 71 f.
[13]    Vgl. Traeger, Wille, Determinismus, Strafe, 1895, S. 205 ff.; Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl. (1960), S. 88; Sachsse, Kausalität, Gesetzlichkeit, Wahrscheinlichkeit, 1979, S. 12; Krüger, Neue Hefte für Philosophie 1992, Nr. 32/33, S. 1.
[14]    Zur Relevanz der Alltagspraxis für das Strafrecht vgl. z.B. Neumann, Zurechnung und „Vorverschulden“, 1985, S. 274 f., 286; ders., ZStW 1987, 567 (589 ff.); Hassemer, Einführung in die Grundlagen des Strafrechts, 2. Aufl. (1990), S. 221; Stuckenberg, Vorstudien zu Vorsatz und Irrtum im Völkerstrafrecht, 2007, S. 159 f.; Kuhlen, ZStW 2008, 140 (149); Hörnle, Kriminalstrafe ohne Schuldvorwurf, 2013, S. 33; Reinhard Merkel, Willensfreiheit und rechtliche Schuld, 2. Aufl. (2014), S. 131; Kargl, GA 2017, 330. Die Übernahme der Zuschreibungsregeln der Alltagspraxis scheitert auch nicht am freiheitsbasierten Schuldprinzip und schließt eine kritische Prüfung nicht aus, vgl. Spilgies (Fn. 8), S. 31 ff., 46.
[15]    Vgl. Heider, The Psychology of Interpersonal Relations, 1958, S. 79 ff.
[16]    Vgl. Kahneman, Schnelles Denken, langsames Denken, 2012, S. 31 ff.; Roth, Fühlen, Denken, Handeln, 2003, S. 236 ff.
[17]    Vgl. Aronson/Wilson/Akert (Fn. 12), S. 121 f.; Effer-Uhe/Mohnert (Fn. 12), Rn. 405; von philosophischer Seite Pothast, Freiheit und Verantwortung, 2011, S. 55 ff., 120 ff., 149 ff.
[18]    Vgl. Aronson/Wilson/Akert (Fn. 12), S. 120 f.; Bierbrauer (Fn. 12), S. 102 f., 121; Parkinson, in: Jonas/Striebe/Hewstone (Fn. 12), S. 92.
[19]    Vgl. Höffding, Ethik, 3. Aufl. (1922), S. 108; Burkhardt, in: Lüderssen/Sack (Hrsg.), Vom Nutzen und Nachteil der Sozialwissenschaften für das Strafrecht, Teilbd. 1, 1980, S. 87 (100 f.); Jakobs, Strafrecht Allgemeiner Teil, 2. Aufl. (1991), § 17 Rn. 20; Bierbrauer (Fn. 12), S. 124.
[20]    Aronson/Wilson/Akert (Fn. 12), S. 122.
[21]    Dies wird z. B. auch bestätigt durch die Befragungsstudie von Heitzmann, ZfRS 2008, 205, sowie die Studien von Shariff/Greene/Karremans u.a., Psychological Science 2014, 1563; Shariff/Vohs, Gehirn & Geist, Nr. 4, 54 (56).
[22]    Das belegen z.B. Fälle einer bekannten Stirnhirnschädigung, vgl. Burns/Swerdlow, Arch Neurol. 2003, 437; Dahl, Spektrum der Wissenschaft 2010, Nr. 6, 72 (75).
[23]    Vgl. Guckes, Ist Freiheit eine Illusion? 2003, S. 214; Singer, Ein neues Menschenbild? 2003, S. 33 f., 64 ff. Dieser Haltung verdankt das Strafrecht seine Humanisierungsbestrebungen im 19. Jahrhundert durch die Kriminalpsychologie, vgl. Greve, Verbrechen und Krankheit, 2004, S. 155 ff., 394 ff. und passim.
[24]    Vgl. Bierbrauer (Fn. 12), S. 15 ff., 120; Neubacher, Kriminologie, 4. Aufl. (2020), S. 121 ff.
[25]    Das bewies insbesondere die in der Sozialpsychologie mittlerweile als „klassisch“ geltende Castro-Aufsatz-Studie von Jones/Harris, Journal of Experimental Social Psychology 1967, 1; vgl. Aronson/Wilson/Akert (Fn. 12), S. 119 ff.; Bierbrauer (Fn. 12), S. 116 ff.; Effer-Uhe/Mohnert (Fn. 12), Rn. 403.
[26]    Vgl. Ross, Advances in Experimental Social Psychology 1977, 173; Gilbert/Malone, Psychological Bulletin 1995, 21; Aronson/Wilson/Akert (Fn. 12), S. 9 f., 119; Bierbrauer (Fn. 12), S. 119 ff.; Effer-Uhe/Mohnert (Fn. 12), Rn. 397.
[27]    Nowakowski, FS Rittler, 1957, S. 55 (74).
[28]    Welzel, Das Deutsche Strafrecht, 11. Aufl. (1969), S. 152.
[29]    Streng, ZStW 1989, 273 (297 f.).
[30]    Wohlers, FS Reinhard Merkel, 2020, S. 423 (435).
[31]    Frister, Strafrecht Allgemeiner Teil, 9. Aufl. (2020), 18. Kap. Rn. 1.
[32]    Mit Recht bemerkt daher Konrad, RPsych 2018, 40 (42): „Besser als der eine Entität statt eines Konstrukts suggerierende Begriff der Schuldfähigkeit erscheint daher der frühere Begriff der ‚Zurechnungsfähigkeit‘.“ Vgl. auch Kröber, FPPK 2021, 84.
[33]    Kelsen (Fn. 13), S. 85.
[34]    Jakobs (Fn. 19), § 18 Rn. 5.
[35]    Jakobs (Fn. 19), § 17 Rn. 48; übereinstimmend Frister (Fn. 31), 3. Kap. Rn. 3.
[36]    Jakobs (Fn. 19), § 17 Rn. 48.
[37]    Jakobs, Schuld und Prävention, 1976, S. 17.
[38]    Welzel (Fn. 28), S. 153; vgl. zu dieser „kommunikativen (Mindest-) Kompetenz“ als gemeinsamen Nenner Paeffgen/Zabel, in: NK-StGB, 5. Aufl. (2017), Vor § 32 Rn. 231.
[39]    Vgl. Luhmann, Rechtssoziologie, 3. Aufl. (1987), S. 45 ff. In der Strafrechtswissenschaft hat Luhmanns Deutung jedoch keine Aufnahme gefunden, vielmehr zeigt eine nähere Analyse, dass seine Ausführungen in der „Rechtssoziologie“ wiederholt missverstanden worden sind, vgl. Spilgies (Fn. 8), S. 84 ff.
[40]    Luhmann (Fn. 39), S. 46.
[41]    Luhmann (Fn. 39), S. 47.
[42]    Vgl. Luhmann (Fn. 39), S. 49; Strawson, in: Pothast (Hrsg.), Freies Handeln und Determinismus, 1978, S. 201 (209 ff.); anderer Ansicht Hörnle (Fn. 14), S. 55 (Fn. 131), 73 f.; dies., FS Schünemann, 2014, S. 93 (105); Eisele, in: Baumann/Weber/Mitsch, Strafrecht Allgemeiner Teil, 12. Aufl. (2016), § 16 Rn. 2 f.
[43]    Luhmann (Fn. 39), S. 48.
[44]    Vgl. schon v. Liszt, ZStW 1898, 229 (256); Radbruch, in: Kaufmann (Hrsg.), Gesamtausgabe, Bd. 3, 1990, S. 33; Frister, Schuldprinzip, Verbot der Verdachtsstrafe und Unschuldsvermutung als materielle Grundprinzipien des Strafrechts, 1988, S. 21; für die USA: Jareborg, in: Eser/Fletcher (Hrsg.), Rechtfertigung und Entschuldigung, Rechtsvergleichende Perspektiven, Bd. 1, 1987, S. 411 (435).
[45]    So z.B. ein Urteil des AG Würzburg v. 23.10.2019 gegen einen 21-Jährigen, der im Alter von 18 Jahren im Vollrausch mit dem Auto eine Frau überfuhr, dadurch tötete und wegen fahrlässigen Vollrauschs zu einer Geldauflage von 5.000 Euro und 1 Jahr Führerscheinentzug verurteilt wurde, vgl. Red. beck-aktuell, Pressemitteilung vom 25.10.2019, online abrufbar unter: https://rsw.beck.de/aktuell/daily/meldung/detail/empoerung-nach-mildem-urteil-gegen-todesfahrer (zuletzt abgerufen am 9.5.2022). Vgl. allgemein zur Empörung über „milde“ Strafurteile Hoven, KriPoZ 2018, 276.
[46]    Vgl. Pfeiffer, FAZ, Nr. 55 v. 5.3.2004, S. 9; Hestermann, FS Pfeiffer, 2014, S. 261.
[47]    Streng, in: Duttge (Hrsg.), Das Ich und sein Gehirn, 2009, S. 97 (98).
[48]    Luhmann (Fn. 39), S. 47; vgl. auch Blackburn, Philosophie, 2010, S. 36, der auf das englische Strafrecht verweist, das die Frage der verminderten Zurechnungsfähigkeit danach entscheide, „ob der Verbrecher seine Straftat auch unter den Augen der Polizei begangen hätte.“
[49]    Luhmann (Fn. 39), S. 48 (Hervorhebung im Original).
[50]    Vgl. Eisele, in: Schönke/Schröder, StGB, Vor § 13 Rn. 39; Kaspar, Strafrecht Allgemeiner Teil, 3. Aufl. (2020), § 4 Rn. 9, 12; Roxin/Greco (Fn. 9), § 8 Rn. 65.
[51]    Vgl. Bierbrauer, in: Hassemer/Lüderssen (Hrsg.), Sozialwissenschaften im Studium des Rechts, Bd. 3, 1978, S. 130 (145); Kuhlen, in: Jung/Müller-Dietz/Neumann (Hrsg.), Recht und Moral, 1991, S. 341 (359 f.); Heitzmann, ZfRS 2008, 205 (228, 230).
[52]    Lundstedt, Die Unwissenschaftlichkeit der Rechtswissenschaft, Bd. 2., 1. Halbbd., 1936, S. 131.
[53]    Nowakowski, FS Rittler, 1957, S. 55 (74); vgl. auch Streng, ZStW 1980, 637 (660).
[54]    Vgl. zu den Handlungslehren im Einzelnen Roxin/Greco (Fn. 9), § 8 Rn. 7 ff.; Detlefsen, Grenzen der Freiheit – Bedingungen des Handelns – Perspektive des Schuldprinzips, 2006, S. 168 ff.
[55]    Vgl. hierzu schon Michaelowa, Der Begriff der strafrechtswidrigen Handlung, 1968, S. 17 ff.; Hruschka, Strukturen der Zurechnung, 1976, S. 4.
[56]    Vgl. Peter, Hypnose-ZHH 2015, 7 (21); Revenstorf, Hypnose-ZHH 2011, 141 (152 ff.); dagegen meint Gerke, HRRS 2009, 373, durch Hypnose werde „das Bewusstsein derart modifiziert, dass der Proband nur den Suggestionen des Hypnotiseurs folgt“, die „grundsätzliche Möglichkeit, antisoziale Handlungen zu suggerieren, ist in der Literatur anerkannt“ (Fn. 3) und der Hypnotisierte könne sich „selbst nicht strafbar machen, da dessen geistiger Steuerungsapparat ausgeschaltet ist und er so keine Handlungen im strafrechtlichen Sinne vornehmen kann“ (381).

[57]    Ebenso Roxin/Greco (Fn. 9), § 8 Rn. 73; nur für den Fall posthypnotischer Zustände: T. Walter, in: LK-StGB, 13. Aufl. (2020), Vor § 13 Rn. 38; Wessels/Beulke/Satzger, Strafrecht Allgemeiner Teil, 50. Aufl. (2020), Rn. 154. Freilich kommt nach herkömmlicher Ansicht dennoch ein Fall des § 20 StGB in Betracht.

[58]    Einzelheiten bei Spilgies (Fn. 8), passim.

[59]    Feißt/Lewe/Kammeier (Fn. 1), S. 72.

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