Frederike Seitz: Die Tiefe Hirnstimulation im Spiegel strafrechtlicher Schuld. Eine praktische und theoretische Analyse

von Prof. Dr. Anja Schiemann

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2020, Duncker & Humblot GmbH, ISBN: 978-3-428-15958-1, S. 455, Euro 109,90.

Gleich zu Beginn ihrer Dissertation nennt Seitz ein paar praktische Beispiele, die die Frage aufkommen lassen, inwieweit die Tiefe Hirnstimulation Einfluss auf das Verhalten und letztlich auch die strafrechtliche Schuld nehmen kann. Unter der Tiefen Hirnstimulation – populärwissenschaftlich als Hirnschrittmacher bezeichnet – handelt es sich um eine Behandlung vorwiegend motorischer Erkrankungen, im Rahmen derer Systeme zur Tiefen Hirnstimulation operativ implantiert werden. Diese, zugegebener Maßen, sehr spezifische Thematik hat doch schon deshalb ihren Reiz, weil sie sich in das große und fundamentale Thema strafrechtlicher Schuldzuschreibung einbettet.

Zunächst legt die Verfasserin das medizinische Fundament, um den juristischen Laien in die Anwendungsfelder der Tiefen Hirnstimulation einzuführen. Fokussiert wurde auf zwei Erkrankungen, die damit behandelt werden, nämlich das idiopathische Parkinsonsyndrom sowie die behandlungsresistente Depression. Neben Krankheitsbild und Symptomatik werden die Wirkungen und Nebenwirkungen der Tiefen Hirnstimulation dargestellt. Zu letzterem Punkt wird das Fazit gezogen (S. 108 f.), dass bislang nicht eindeutig feststeht, ob und welche Nebenwirkungen durch die Tiefe Hirnstimulation bei der behandlungsresistenten Depression tatsächlich dauerhaft hervorgerufen werden. Nebenwirkungen seien jedenfalls nicht auszuschließen, auch soziale Folgeprobleme könnten auftreten. Zudem gäbe es Fälle, in denen durch die Tiefe Hirnstimulation keine Linderung erzielt werden könne. Auch können suizidale Tendenzen nicht ausgeschlossen werden, so dass die Tiefe Hirnstimulation vielleicht neurobiologisch, jedoch keinesfalls psychologisch eine reversible Maßnahme sei (S. 109). Auch bei dem idiopathischen Parkinsonsyndrom gäbe es Nebenwirkungen und Beeinträchtigungen der sozialen Interaktion.

Im dritten Kapitel wird eine „praktische Analyse“ der Tiefen Hirnstimulation vorgenommen. Etwas unverständlich bleibt, warum diese praktische Analyse vor die theoretische Analyse gezogen wird. Trotz dieses Versprechens einer praktischen Analyse bleibt die Verfasserin zunächst theoretisch und stellt die gesetzlichen Grundlagen der Schuld im Allgemeinen und der Schuldunfähigkeit im Besonderen kurz und prägnant vor. Auch wenn sich die Termini im Rahmen des § 20 StGB durch das Sechzigste Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuches vom 30.11.2020 (BGBl. I S. 2600), in Kraft getreten am 1.1.2021, geändert haben und endlich! nicht mehr von Schwachsinn  oder  anderer  seelischer  Abartigkeit – sondern von Intelligenzminderung oder einer schweren anderen seelischen Störung, gesprochen wird, so sollte doch damit laut Gesetzesbegründung ersichtlich keine inhaltliche Änderung einhergehen, so dass die Ausführungen von Seitz zur alten Gesetzesfassung durchaus noch Gültigkeit haben.

Nach den allgemeinen Ausführungen zu den Voraussetzungen des § 20 StGB wird der Frage nachgegangen, ob die medikamenteninduzierten oder situationsbedingten Nebenwirkungen der Tiefen Hirnstimulation im Zweifel unter eines der Eingangsmerkmale subsumiert werden und zu einem Entfallen der Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit führen könnten. Dabei differenziert die Verfasserin nach Symptomen der Grunderkrankung, medikamenteninduzierten sowie situationsbedingten Nebenwirkungen (S. 140). Diese Frage wird sowohl für das idiopathische Parkinsonsyndrom sowie die behandlungsresistente Depression aufgeworfen. Eine kleine Nachlässigkeit schleicht sich in der Gliederung ein, da nach C.II.1. kein II.2. folgt, sondern gleich Kapitel D anschließt. Sehr übersichtlich werden dann aber sowohl für das idiopathische Parkinsonsyndrom als auch die behandlungsresistente Depression in einem tabellarischen Überblick (S. 149 f., 153) Krankheitssymptome und Nebenwirkungen den jeweiligen Eingangsmerkmalen zugeordnet, wobei sich für die behandlungsresistente Depression allerdings nur Zuordnungen im Bereich der krankhaften seelischen Störung finden lassen.

Kapitel D bildet dann nach eigener Aussage der Verfasserin das „Kernstück“ der Arbeit (S. 154). Hier wird der Frage nachgegangen, ob und inwieweit die Tiefe Hirnstimulation die Grundlagen der strafrechtlichen Schuld beeinflusst oder gar „erschüttert“. Hierzu wird sich zunächst den theoretischen Grundlagen strafrechtlicher Schuld gewidmet. Es folgen sehr differenzierte Ausführungen zu den „Schuldbegriffen im geltenden Recht“, wobei zunächst die Wertungskategorien Willensfreiheit, Verantwortung und Autonomie beleuchtet werden. Schließlich wird sich dem von Hörnle vorgeschlagenen Konzept angeschlossen (S. 254). Diese versteht Verantwortung als normative Zuschreibung, die mit der Dialogfähigkeit des Täters und dessen Zugehörigkeit zur Kommunikationsgemeinschaft gerechtfertigt wird (S. 248). Hörnle versuche, den strafrechtlichen Schuldvorwurf vom persönlichen Dafürkönnen zu befreien und somit die Frage nach der Willensfreiheit und demzufolge die Debatte um Kompatibilis-mus und Inkompatibilismus dahinstehen lassen zu können (S. 254).

Nach dieser Positionierung erfolgt die Betrachtung der Tiefen Hirnstimulation im Spiegel der strafrechtlichen Schuld. Auch wenn sich Hörnleangeschlossen wird, wird hier noch einmal die Tiefe Hirnstimulation an den zuvor benannten Auffassungen gemessen. Die Verfasserin kommt nach sehr ausführlicher Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Sichtweisen zu einem ausgewogenen „Vorab-Fazit“ (S. 404). Die Analyse der jeweiligen Schuldbegriffe im Spiegel der Tiefen Hirnstimulation habe ergeben, dass zur Bestimmung der schuldhaften Handlung meist auf die konkreten, durch die Technisierung hervorgerufenen Wirkungen abzustellen sei. Durch diese Technisierung des Körpers werden zwei Themenkreise berührt, nämlich die Frage nach dem Verhältnis Mensch-Maschine und dem Eingriff in das Gehirn. Gemein sei beiden Themenkomplexen, dass sie Fragen nach der Willensfreiheit, der Autonomie und damit auch der Verantwortung des Subjekts aufwerfen (S. 405).

Die Analyse fast aller Schuldbegriffe hätte ergeben, dass es plausibler ist, auf die konkreten, durch das technische Hilfsmittel hervorgerufenen Wirkungen im Hinblick auf die Schuldfähigkeit des Verhaltens abzustellen, anstatt von der Technisierung per se auf die Schuldlosigkeit zu schließen. Lediglich die Auffassungen, die von einem funktionalen Schuldverständnis, von einer Charakterschuld oder der Schuld als subjektive empirisch-normative Ansprechbarkeit ausgingen, kämen zu einer anderen Bewertung (S. 406). Diese Ansichten seien aber abzulehnen. Als Gründe führt die Verfasserin u.a. an, dass das Regel-Ausnahme-Verhältnis der Schuld implizit verkehrt würde, wenn die Technisierung stets zur Schuldlosigkeit führen würde. Zudem hätte dies zur Folge, dass jeder Betroffene schuldlos und als ungeeigneter Verantwortungsadressat angesehen werden müsste, was dem Tatschuldprinzip widerspräche und auch aus moralischer Perspektive zweifelhaft sei. Zudem lasse sich das Abstellen auf die konkreten Wirkungen einer Maßnahme weitgehend mit den Wertungskategorien Willensfreiheit, Autonomie und Verantwortung in Einklang bringen.

Anschließend werden Manipulationssachverhalte in den Blick genommen. Während der Manipulierte de lege lata unstreitig wegen der Beteiligung an der durch den Manipulierten begangenen Straftat zur Verantwortung gezogen werden kann, sei das Gesetz im Hinblick auf die mentale Selbstbestimmung fragmentarisch, soweit es um die Frage nach dem weiter verwirklichten Unrecht in Form der Beeinflussung des Manipulierten ginge. Auch bei der Beurteilung der Strafbarkeit des Manipulierten ergäben sich Schwierigkeiten. Hier käme es auf die durch die Manipulation erzeugte Wirkung beim Betroffenen an. Am überzeugendsten ist es für die Verfasserin, den Täter dann nicht oder nur eingeschränkt für die Handlungen zur Verantwortung zu ziehen, wenn die Manipulationen dazu führen, dass Straftaten in einem Zustand begangen werden, der von der üblichen Täterpersönlichkeit derart abweicht, dass sie aus dessen narrativen Identität fallen (S. 410). Im Ergebnis seien die Taten der „neuen“ numerischen Person zuzuschreiben (S. 415).

Abschließend zieht Seitz nicht nur ein Fazit, sondern geht auch der Frage nach dem Regelungsbedarf de lege ferenda nach (S. 416 ff.). Die Ergebnisse werden zunächst geschickt zusammengeführt, bevor die Frage „Muss Schuld also anders gedacht werden?“ (S. 423) letztlich mit Nein beantwortet wird. Denn sowohl die hinter der Strafbegründungsschuld stehenden Begriffe als auch die Strafbegründungsschuld an sich hätten nichts an Aktualität eingebüßt. Sie seien weit überwiegend imstande, „auf die durch die Tiefe Hirnstimulation aufgeworfenen Herausforderungen zu reagieren und ein adäquates, dem Einzelfall gerecht werdendes Urteil zu erzielen“ (S. 429).

Auch wenn die Dissertation der sehr spezifischen Fragestellung der Verantwortlichkeit von unter der Tiefen Hirnstimulation stehenden Handelnden nachgeht, so bietet sie doch weit mehr, als diese Frage facettenreich zu beantworten. Denn gerade in den allgemeinen Ausführungen zu den Schuldbegriffen, zu Willensfreiheit, Verantwortung und Autonomie wird eine Fülle an Auffassungen nicht nur komprimiert wiedergegeben, sondern auch diskutiert und bewertet. Insofern kann man sich hier in den Argumentationssträngen wiederfinden oder seine eigene Bewertung an die sehr gute und stringente Wiedergabe der unterschiedlichsten Meinungen anschließen. Das ausführliche Literaturverzeichnis lädt zudem dazu ein, weitere Lektüre heranzuziehen, um die spannenden und fundamentalen Fragen über die Inhalte strafrechtlicher Schuld noch näher zu beleuchten.

 

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