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Weil nicht sein kann, was nicht sein darf – Über die „falsche“ Verurteilung im Badewannenmord und Wiedergutmachungsmöglichkeiten

von Hanna Göken und Yusef Mansouri 

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Abstract
Unlängst sorgte die Aufdeckung eines dramatischen Justizirrtums für Aufsehen. Manfred Genditzki wurde 2008 im sogenannten „Badewannenmordfall“ wegen Mordes verurteilt und erst 13,5 Jahre später in Folge eines erfolgreichen Wiederaufnahmeverfahrens im neuen Prozess freigesprochen. Bei dem angeblichen Tatgeschehen handelte es sich um einen Sturz und keine Fremdeinwirkung. Der Weg hin zu dieser Feststellung durch das LG München war allerdings herausfordernd. Dies bietet Gelegenheit, die generellen Anforderungen an eine erfolgreiche Wiederaufnahme gem. § 359 Nr. 5 StPO sowie die einschlägigen Umstände im Fall von Genditzki näher zu beleuchten. Dabei stellt sich auch die Frage, mit welcher Art der „Wiedergutmachung“ der erlittenen Freiheitsentziehung Genditzki nun von Seiten des Staates rechnen kann. Für eine finanzielle Entschädigung steht zunächst das Gesetz über die Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen (StrEG) zur Verfügung. Dennoch bleibt zu klären, ob die Entschädigungsregeln hinreichend erscheinen oder etwa reformbedürftig sind.

 The revelation of a dramatic judicial error recently caused a stir. Manfred Genditzki was convicted of murder in 2008 in the so-called „bathtub murder case“ and was only acquitted 13 ½ years later following a successful retrial. The alleged offence was a case of a fall of the deceased and not an external influence. However, the path to this finding by the Munich Regional Court was demanding. This provides the opportunity to take a closer look at the general requirements for a successful retrial pursuant to Section 359 No. 5 of the Code of Criminal Procedure and the relevant circumstances in Genditzki’s case. It also raises the question of what kind of „compensation“ Genditzki can now expect from the state for the imprisonment he suffered. First of all, the law on compensation for criminal prosecution measures is available for financial compensation. Nevertheless, it remains to be clarified whether the compensation rules appear to be sufficient or are in need of reform.

I. Der Mord, der keiner war – Wiederaufnahme im Badewannenmordfall

Wer in Deutschland einmal rechtskräftig verurteilt wurde, der darf – so lässt es die Praxis verlautbaren – nicht wirklich die Hoffnung anstellen, dass dieses Urteil noch einmal (zu seinen Gunsten) in Frage gestellt wird. Zwar gibt es für diese Fälle das Institut der Wiederaufnahme (§§ 359 ff. StPO), doch gehört diese Verfahrensart neben der Revision zu den Königsdisziplinen im Strafprozessrecht, weil sie mit sehr hohen Hürden verbunden ist.[1] Hinzu kommt, dass Wiederaufnahmeverfahren als wenig erfolgsträchtig gelten,[2] wenngleich detaillierte Auswertungen zu Fehlurteilen bislang rar gesät sind.[3] Gelingt ein solcher Erfolg dennoch – meist ist das Wiederaufnahmeziel dasjenige des Freispruchs – gehen derartige „Justizirrtümer“ mit viel Medienaufmerksamkeit einher. Ein sehr bekanntes Beispiel stellt der Fall um Gustl Mollath dar.[4]

Jüngst hat sich nun ein weiterer Freispruch eines ursprünglich Verurteilten in die Reihe bayerischer Justizskandale eingereiht und die Debatte um die Wiederaufnahme rechtskräftig zu Unrecht Verurteilter erneut entfacht. Er firmiert in der Presse als „Badewannenmord“[5] – auch wenn nun nach Korrektur des Urteils von einem Mord nicht mehr die Rede sein kann – und wirft erneut Fragen rund um die Wiederaufnahme von Strafverfahren, Fehlurteilen und die Entschädigung des zu Unrecht Verurteilten auf. In diesem Fall wurde Manfred Genditzki zu lebenslanger Haft verurteilt, weil angenommen wurde, dass er die Rentnerin Lieselotte Kortüm in ihrer Badewanne ertränkt habe. Erst 13 Jahre und sechs Monate später wurde Genditzki am 7.7.2023 vom LG München I in Folge eines erfolgreichen Wiederaufnahmeverfahrens freigesprochen. Mehrere Gutachten konnten darlegen, dass es sich nicht um ein Tötungsgeschehen, sondern um einen Unfall handelte. Freilich erlangt dieser Fall in der Gesellschaft sowie in juristischen Kreisen viel Aufsehen: Schließlich handelt es sich um ein Fehlurteil, das zu einer über 13 Jahre lang vollzogenen Haftstrafe und somit zu schwersten Grundrechtsverletzungen gegenüber Genditzki führte. Daher schließt sich auch unmittelbar die Frage an, wie der Staat nun Wiedergutmachung gegenüber dem Freigesprochenen leisten kann. Der Beitrag nähert sich diesen Aspekten ein Stück weit und versucht sich, nachdem in gebotener Kürze die allgemeinen Grundzüge des Wiederaufnahmeverfahrens zugunsten des Angeklagten erläutert (II.) sowie speziell die Fehler des Genditzki-Verfahrens dargetan werden (III.), an einem Vorschlag zur Reformierung staatlicher Restitution (IV.).  

II. Grundsätzliches zur Wiederaufnahme zugunsten des Verurteilten

1. Die Wiederaufnahme im Spannungsfeld zwischen Rechtssicherheit und materieller Gerechtigkeit  

Das Institut der Wiederaufnahme stellt die ins Gesetz gegossene Abwägungsentscheidung des Gesetzgebers zwischen Rechtssicherheit und materieller Gerechtigkeit dar. Die Wahrheitserforschung als eines der zentralen[6] Ziele des Strafprozesses trägt dabei nicht nur dem Schuldprinzip[7] Rechnung, sondern verwirklicht auch die verfassungsrechtliche (Art. 20 Abs. 3 GG) Idee materieller Gerechtigkeit.[8] Sie versteht sich im Strafprozess aber aufgrund begrenzter menschlicher Erkenntnismethoden und Nachweisbarkeit nicht absolut, sondern relativ i.S.e. eigenen Überzeugungsbildung (§ 261 StPO), die ihrerseits auf einer objektiv tragfähigen Tatsachengrundlage zu gründen hat und das Tatgeschehen mit einer hohen Wahrscheinlichkeit als „wahr“ erkennen lässt.[9] Nach Abschluss des Strafverfahrens inklusive etwaiger Rechtsmittel tritt allerdings Rechtskraft ein, um Rechtsfrieden zu schaffen.[10] Wahrheit und Rechtsfrieden können in Konflikt geraten, etwa wenn das Urteil in hohem Maße fehlerbelastet ist. Dieses Fehlurteilsrisiko wiederum soll der Verurteilte nicht um jeden Preis tragen. Insofern begegnet das Institut der Wiederaufnahme diesem Konflikt als Rechtsbehelf eigener Art[11], indem es der Gerechtigkeit wegen die Durchbrechung des Grundsatzes der Rechtskraft ausnahmsweise ermöglicht.[12]

2. Die Grundzüge eines Wiederaufnahmeverfahrens

Der Konfliktlösung dienen vordergründig[13] die Vorschriften zur Wiederaufnahme aus §§ 359 ff. StPO, die systematisch zwischen der Wiederaufnahme zugunsten des Verurteilten (§§ 359 bis 361 StPO) und der Wiederaufnahme zuungunsten des Angeklagten (§ 362 StPO) differenzieren. Hier soll es um die Grundzüge der erstgenannten Verfahrensrichtung gehen, speziell auch um § 359 Nr. 5 StPO, der in der Praxis mit Abstand am bedeutendsten ist[14] und worauf auch die Wiederaufnahme im Badewannenmord gestützt war.

Ein erfolgreiches Wiederaufnahmeverfahren setzt drei Verfahrensschritte voraus.

a) Aditionsverfahren

Die Wiederaufnahme ist ein Antragsverfahren, über den Ausgang befindet ein anderes Gericht als dasjenige, das die Entscheidung erlassen hat, § 367 StPO i.V.m. § 140a Abs. 1 S. 1 GVG (Wiederaufnahmegericht). Das Wiederaufnahmegericht prüft gem. § 368 StPO zunächst die Zulässigkeit des Antrags – sog. Aditionsverfahren.[15]

Bei § 359 Nr. 5 StPO wird geprüft, ob neue Tatsachen oder Beweise beigebracht wurden, die allein oder in Verbindung mit den früher erhobenen Beweisen die (hier) Freisprechung des Angeklagten zu begründen geeignet sind. Die Richtigkeit der Tatsachen oder Beweise wird in diesem Verfahrensstadium unterstellt, sofern der Sachvortrag nicht offensichtlich unwahr oder denkgesetzlich unmöglich erscheint.[16]

Tatsachen i.d.S. sind alle dem Beweis zugänglichen Ereignisse, Vorgänge und Zustände, die in Gegenwart oder Vergangenheit in die Wirklichkeit getreten sind.[17] Rechtstatsachen (z.B. der nachträgliche Wegfall eines Strafgesetzes) fallen nicht hierunter.[18] Da § 359 Nr. 5 StPO die Geltendmachung einer neuen Tatsache oder eines neuen Beweismittels verlangt, ist es unschädlich, wenn sich eine neue Tatsache auf alte Beweismittel stützt oder umgekehrt ein neues Beweismittel auf alte Tatsachen stützen lässt.[19] Zu den Beweismitteln zählen alle förmlichen Beweismittel der StPO, also Sachverständige, Augenschein, Urkunden und Zeugen.[20]

Neu sind Tatsachen, wenn sie aus der (nach h.M. maßgeblichen) Perspektive des erkennenden Gerichts[21] bei der Urteilsberatung nicht bekannt waren und daher bei Erlass der Entscheidung nicht berücksichtigt wurden.[22] Dabei kommt es nicht darauf an, ob die Tatsachen hätten zur Sprache kommen können (etwa, weil sie zumindest Akteninhalt geworden sind), denn neu ist grundsätzlich auch alles, was der Überzeugungsbildung des Gerichts in tatsächlicher Hinsicht nicht zugrunde gelegt worden ist.[23] Beweismittel sind neu, wenn sich das Ausgangsgericht ihrer Erhebung nicht bedient hat oder sie unberücksichtigt ließ.[24]

In der Praxis scheitern die meisten Wiederaufnahmeanträge an der Geeignetheit der neuen Tatsachen/Beweismittel.[25] Mit ihnen muss das Wiederaufnahmeziel zwar nicht mit Sicherheit, aber auch nicht bloß mit Möglichkeit, sondern mit Wahrscheinlichkeit erreicht werden können (h.M.).[26] Sie müssen „durchgreifende ernsthafte Zweifel an der Richtigkeit der Verurteilung in tatsächlicher Hinsicht zu begründen imstande sein“[27]. Den Wiederaufnahmegerichten wird hinsichtlich der Prüfung der Geeignetheit eine zu große Restriktivität von Seiten der Praxis vorgeworfen.[28] Das BVerfG hat bereits festgehalten, dass die Anforderungen an die Geeignetheit nicht durch den Maßstab einer mit an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit überspannt werden dürfen – insbesondere sei eine inhaltliche Eignungsprüfung derart, Beweise zu würdigen und Feststellungen zu treffen, die nach der Struktur des Strafprozesses der Hauptverhandlung vorbehalten sind, unzulässig.[29]

b) Probationsverfahren

Wird der Antrag im Aditionsverfahren für zulässig erklärt, ergeht ein Beschluss nach § 368 StPO und das Verfahren geht ins Probationsverfahren über (anderenfalls wird er als unzulässig verworfen, hiergegen ist die sofortige Beschwerde nach § 372 S. 1 StPO statthaft). Hier wird nunmehr geprüft, ob die vorgebrachten Umstände auch tatsächlich vorliegen. Es handelt sich um eine Begründetheitsprüfung des Antrags, ggf. wird Beweis erhoben (§ 369 StPO). Für die hier interessierenden Fälle des § 359 Nr. 5 StPO maßgeblich ist nach § 370 Abs. 1 Var. 1 StPO, ob die Behauptungen dabei „genügende Bestätigung“ gefunden haben, was dann der Fall ist, wenn aufgrund der Beweisaufnahme ihre Richtigkeit hinreichend wahrscheinlich ist.[30] Voller Beweis ist nicht erforderlich.[31] Ergibt die Prognose, dass in der neuen Hauptverhandlung eine für den Verurteilten günstigere Entscheidung ergeht, ordnet das Gericht die Wiederaufnahme des Verfahrens und die Erneuerung der Hauptverhandlung an (§ 370 Abs. 2 StPO).[32] Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 372 S. 2 StPO).

c) Anordnung der Hauptverhandlung

Die neue Hauptverhandlung ist streng genommen nicht mehr Bestandteil des Wiederaufnahmeverfahrens, weil sie einen davon eigenständigen Charakter hat (ähnlich wie es auch die neue Hauptverhandlung nach Revisionsentscheidung gem. § 354 Abs. 2 StPO ist).[33] Das Verfahren wird in den Zustand vor Erlass des Urteils – i.d.R. also nach Erlass des Eröffnungsbeschlusses[34] – zurückversetzt. Es wird erneut Beweis erhoben, auf dieser Grundlage wird das Urteil entweder aufrechterhalten oder aufgehoben (§ 371 Abs. 1 StPO), auch eine Verfahrenseinstellung nach §§ 153 ff., 206a, 260 Abs. 3 StPO ist möglich.[35]

III. Ablauf der Wiederaufnahme im Badewannenmordprozess

Wie hoch die Hürden sind, die es im Wiederaufnahmeverfahren zu überwinden gilt, zeigte der Fall Genditzki.[36]

1. Vorgeschichte und ursprünglicher Tatvorwurf

Genditzki arbeitete ab 1996 hauptberuflich als Hausmeister in einer Wohnanlage in Rottach-Egern, in der auch die gesundheitlich stark beeinträchtigte Witwe Lieselotte K. wohnte, die er im Alltag gegen Erhalt eines pauschalen Geldbetrags sowie eine Aufwandsentschädigung (etwa für Fahrtkosten) unterstützte. Zudem war er u.a. Bevollmächtigter bei ihrer Bank. Als sie während eines Krankenhausaufenthalts im Oktober 2008 die Vollmacht zugunsten Genditzkis erweiterte, soll dieser laut Anklage erhebliche Mengen an Bargeld entnommen und Schulden bei Bekannten beglichen haben. Am Tag ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus habe er sie abgeholt und sei anschließend zum Kaffee bei ihr geblieben. Dabei soll der Fehlbetrag zur Sprache gekommen sein und sich ein Streitgeschehen entwickelt haben, in dessen weiterem Verlauf Genditzki den Entschluss gefasst haben soll, Lieselotte K. zu töten. Ihre Arg- und Wehrlosigkeit zu diesem Zeitpunkt ausnutzend, habe er sie zwischen 14:57 Uhr und 15:08 Uhr getötet, indem er ihr zweimal von hinten auf den Kopf geschlagen habe. Dadurch habe sie u.a. zwei Verletzungen am Hinterkopf erlitten. Genditzki sei sodann die Idee gekommen, ein Sturzgeschehen vorzutäuschen. Zu diesem Zweck habe er Lieselotte K. ins Badezimmer verbracht und in die Badewanne gelegt, wobei er Wasser in die Wanne habe einlaufen lassen und das Opfer so lange unter die Wasseroberfläche gedrückt habe, bis es schließlich ertrunken sei. Im Anschluss sei er in den örtlichen Supermarkt gefahren, um später ein Alibi nachweisen zu können.  Dabei habe er Einkäufe getätigt und unter einem Vorwand den Pflegedienst verständigt, damit dieser nach Lieselotte K. sehen solle.

Der Vorwurf der veruntreuenden Unterschlagung konnte als Motiv im Prozess ausgeräumt werden, dennoch verurteilte ihn das LG München II im Jahr 2010 wegen Mordes zu lebenslanger Freiheitsstrafe.[37] Auch nach Beanstandung eines Verfahrensfehlers durch den BGH[38] fiel das zweite Urteil im Jahr 2012 ebenso aus.[39] Obwohl      Schleif-, Kampf- oder DNA-Spuren fehlten und der Todeszeitpunkt nicht eingrenzbar war, wurde ein Gewalttatgeschehen bestätigt und ein Sturzgeschehen ausgeschlossen.

2. Das Wiederaufnahmeverfahren

Genditzki beantragte etwa sechseinhalb Jahre später – im Juni 2019 – die Wiederaufnahme des Verfahrens beim LG München I als Wiederaufnahmegericht, gestützt auf § 359 Nr. 5 StPO, und behauptete die Beibringung sowohl neuer Tatsachen als auch neuer Beweismittel. Es kommt nicht selten vor, dass dabei neue Gutachten anderer Sachverständiger vorgebracht werden, die das vom Tatgericht für wahr befundene Geschehen infrage stellen. Ein erfolgreicher Antrag ist jedoch alles andere als eine strafprozessuale Selbstverständlichkeit, denn die Zulassung wird streng beurteilt:

Ein bisher nicht hinzugezogener Sachverständiger als Beweismittel ist „neu“, wenn er im ursprünglichen Strafverfahren nicht gehört wurde[40]oder das Gericht aufgrund eigener Sachkunde entschieden hat.[41] Weitere Sachverständige werden aus Angst vor einer Flut an Wiederaufnahmevorbringen, die das gewünschte Ergebnis mittels Sachverständigengutachten bestätigen, nur eingeschränkt zugelassen.[42] Für hiesige Zwecke sollen nur die Grundzüge genannt werden: Es genügt jedenfalls nicht, dass der weitere Sachverständige aufgrund derselben Anknüpfungstatsachen zu anderen Schlussfolgerungen gelangen wird.[43] Erforderlich ist (in Anlehnung an § 244 Abs. 4 S. 2 Hs. 2 StPO), dass sich die Sachkunde des früheren Gutachters als unzureichend herausstellt, dieser von unzutreffenden oder unzureichenden Voraussetzungen ausgegangen ist,[44] das neue Gutachten andere oder neue Tatsachen ans Licht bringt[45] oder der neue Sachverständige über überlegene Forschungsmittel verfügt.[46] Neu ist ein weiterer Sachverständiger auch dann, wenn sich seine Angaben auf neue Anknüpfungstatsachen oder veränderte wissenschaftliche Erkenntnisse stützen lassen, die dem bisherigen Beweisergebnis den Boden entziehen können – dann wird zugleich eine neue Tatsache behauptet.[47] Ein behauptetes gegenteiliges Tatgeschehen steht der Neuheit nicht zwingend entgegen.[48]

Im Genditzki-Verfahren wurde der Antrag zunächst als unzulässig verworfen, bevor auf die sofortige Beschwerde beim OLG München die Wiederaufnahme nach durchgeführter Probationsverhandlung durch das LG München I doch noch angeordnet wurde.[49] Hierbei stützte Genditzki seinen Antrag maßgeblich auf zwei Gesichtspunkte: einerseits ein thermodynamisches Gutachten, das die Eingrenzung bzw. Abschätzung der Todeszeit zu beweisen fähig sein sollte; andererseits ein biomechanisches Gutachten, das die Vereinbarkeit der Verletzungen des Opfers mit einem Sturzgeschehen zu beweisen bezweckte.

Vorweg muss auf den Gesundheitszustand von Lieselotte K. und eine ihrer besonderen Angewohnheiten eingegangen werden, auf denen die Argumentation in entscheidendem Maße beruht. Der Grund für den Aufenthalt in der Klinik im Oktober 2008 war ihr zunehmend starker Durchfall. Damit ging erwartungsgemäß sowohl in den Tagen zuvor als auch während des Krankenhausaufenthalts mit Kot verschmutze Wäsche einher. Lieselotte K. pflegte, wenn sie Genditzki Wäsche zum Waschen mitgab, diese vorher z.B. in der Badewanne oder in einer Waschschüssel einzuweichen. Diese Angewohnheit wurde durch – z.T. bisher nicht bekannte – Zeugen bestätigt. Von Bedeutung ist das deshalb, weil sie in einer mit Wasser befüllten Badewanne vorgefunden wurde und ihre Schlafanzughose sowie ihre Unterhose Kotantragungen aufwiesen. Das Gericht erachtete es daher für zumindest wahrscheinlich, dass Lieselotte K. das Badezimmer aufsuchte und Wasser in die Badewanne einlaufen ließ, um darin mit Kot verschmutzte Wäsche einzuweichen.

Die Verletzungen vermochte das eingangs erwähnte biomechanische Gutachten mit Hilfe computergestützter Simulationen zur Überzeugung der Kammer zu erklären: Es stellte sich heraus, dass Lieselotte K. nicht nur mit Wahrscheinlichkeit in die Badewanne stürzte. Dieser Geschehensablauf konnte mit den rechtsmedizinischen Erkenntnissen – Tod durch Ertrinken, die Verletzungen am Kopf, die sie sich kurz vor dem Tod zugezogen haben muss – zwanglos in Einklang gebracht werden, insbesondere bestanden keine Anhaltspunkte für eine Bewirkung der Verletzungen durch fremde Hand. Im Gegenteil: Gutachterlich bewiesene Anknüpfungstatsachen stritten für eine Sturzneigung der Verstorbenen.

Das thermodynamische Sachverständigengutachten konnte sowohl die Frage nach dem Todeszeitpunkt als auch die nach einem möglichen Alibi Genditzkis klären. Während der Todeszeitpunkt im ursprünglichen Urteil nicht näher eingegrenzt werden konnte (insbesondere nicht auf einen Zeitpunkt, zu dem sich Genditzki nicht mehr in der Wohnung befand), ließen temperaturgestützte Methoden und die Grundsätze der Thermodynamik eine Rückrechnung der Temperatur zu – beginnend ab dem letztgemessenen Zeitpunkt der Wassertemperatur (Auffinden der Leiche durch die Polizei) – und ermöglichten eine darauf gestützte Einschätzung. Das Ergebnis der durchgeführten Rückrechnungen von der zuletzt festgestellten Wassertemperatur erlaubte es, den Todeszeitpunkt auf 16:30 Uhr bis 18:00 Uhr einzugrenzen und damit nicht mehr zwischen 14:57 Uhr und 15:08 Uhr, wie ursprünglich vorgeworfen.

Dies ließ sich mit Genditzkis Alibi in Einklang bringen: Nachdem er Lieselotte K. am Tag der Entlassung aus dem Krankenhaus abgeholt und zur Wohnung gebracht hatte, verließ er gegen 15 Uhr die Wohnung, um zunächst Einkäufe für sie zu tätigen, die er um 15:30 Uhr bezahlte. Anschließend begab er sich auf den Weg nach Hause zu seiner Frau, dort traf er gegen 16 Uhr ein, bevor er mit ihr und ihrem gemeinsamen Sohn Genditzkis Mutter im Krankenhaus besuchte. Lieselotte K. hat sich also in der Zwischenzeit, zu einem nicht näher feststellbaren Zeitpunkt – wahrscheinlich zwischen 16:30 Uhr und 18:00 Uhr – in das Badezimmer begeben, sich über die Wanne gebeugt und beide Drehregler geöffnet, um Wasser (wahrscheinlich zum Zwecke der Reinigung ihrer Wäsche, s.o.) einzulassen. Im weiteren Verlauf ereignete sich das tödlich endende Sturzgeschehen, bis schließlich das Pflegepersonal, etwa gegen 18:30 Uhr, eintraf. 

IV. Folgen nach erfolgreicher Wiederaufnahme: Entschädigung

In einem Fall wie dem vorliegenden stellt sich die Frage, welche Folgen ein solcher Justizirrtum nach sich zieht. Es ist evident, dass die Situation wie vor der Verurteilung durch eine bloße nachträgliche Korrektur des Urteils nicht wiederhergestellt werden kann: „Die Leiden und Aufregungen, der abgebrochene Weg in Beruf und Familie können nicht ungeschehen gemacht werden. Die vielen verlorengegangenen Stunden sind nicht mehr nachzuholen. […] Die Zeit lässt sich eben nicht zurückdrehen. So bleibt gutzumachen, was noch gutzumachen ist.“[50] Ein finanzieller Ausgleich für den Betroffenen kann zumindest symbolisch Wiedergutmachung leisten und richtet sich zunächst nach dem Gesetz über die Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen (StrEG).

1. Entschädigung nach dem StrEG

Die §§ 1 ff. StrEG sind nicht mit dem deliktischen Schadensersatzrecht oder der Amtshaftung vergleichbar. Denn die Verurteilung stellt sich – bewegt sich das Gericht in den Grenzen des § 261 StPO – nicht als rechtswidrige Strafverfolgungsmaßnahme dar, auch wenn sich diese nachträglich als nicht gerechtfertigt herausstellt.[51] Daher ist der Anspruch auf Entschädigung auch nicht von einem Verschulden der Justiz abhängig. Es handelt sich um einen besonders ausgestalteten Aufopferungsanspruch.[52]

§ 1 Abs. 1 StrEG bestimmt, dass aus der Staatskasse entschädigt wird, wer durch eine strafgerichtliche Verurteilung einen Schaden erlitten hat, wenn die Verurteilung, nachdem sie rechtskräftig geworden ist, in einem Strafverfahren fortfällt oder gemildert wird. Das Bestehen eigener Ansprüche Dritter ist durch § 11 Abs. 1 StrEG abschließend auf Unterhaltsberechtigte des unmittelbar Betroffenen beschränkt. Ausschluss- bzw. Versagungsgründe sind in §§ 5, 6 StrEG geregelt, die Verwirkung des Anspruchs in § 12 StrEG.

Praktisch betrachtet bietet die Geltendmachung des Anspruchs aus dem StrEG den Vorteil, dass kein aufwändiger Rechtsweg bestritten werden muss, da das Bestehen des Anspruchs bereits vom Wiederaufnahmegericht festgestellt wird (§ 8 Abs. 1 S. 1 StrEG) und dieser nur rechtzeitig innerhalb von sechs Monaten geltend gemacht werden muss (§ 10 Abs. 1 StrEG).

a) Vermögensschäden

Nach § 1 Abs. 1 StrEG werden Schäden ersetzt, die der Verurteilte durch die strafrechtliche Verurteilung erlitten hat, die sodann (insbesondere) im Wiederaufnahmeverfahren fortgefallen oder gemildert worden ist. § 2 Abs. 1 StrEG hingegen bezieht sich auf Vermögensschäden, die durch die Vollstreckung von vorläufigen Strafverfolgungsmaßnahmen entstanden sind, etwa durch eine Untersuchungshaft.

Den Umfang des Vermögensschadens regelt § 7 Abs. 1 u. 2 StrEG. Er bemisst sich nach Grundsätzen des bürgerlichen Rechts, die §§ 249 bis 252 BGB sind hier anwendbar. Typische Beispiele sind der Ausfall von Arbeitslohn, Kosten für Heilbehandlungen aufgrund haftbedingter Gesundheitsbeeinträchtigungen und ein geringeres Einkommen aufgrund eines Arbeitsplatzwechsels.[53] Nach § 7 Abs. 2 StrEG muss der Schaden einen Betrag von 25 EUR übersteigen, um ersetzt werden zu können, damit bei Bagatellschäden ein unverhältnismäßiger Verwaltungsaufwand vermieden wird.[54] Nach oben ist der Entschädigungsanspruch nicht mehr begrenzt.[55]

b) Nichtvermögensschäden

Bei Freiheitsentziehungen infolge gerichtlicher Entscheidungen ist neben dem Vermögensschaden nach § 7 Abs. 1 StrEG auch der immaterielle Schaden zu ersetzen, die Höhe setzt § 7 Abs. 3 StrEG mit einer Tagespauschale i.H.v. 75 EUR pro angefangenem Tag der Freiheitsentziehung fest. Insofern ist die Gewährung dieser Entschädigung zwar nicht wie beim Amtshaftungsanspruch an zusätzliche Voraussetzungen wie die Amtspflichtverletzung – die gerade bei neuen Tatsachen oder Beweisen auch häufig nicht feststellbar sein wird – oder beim zivilrechtlichen Anspruch gegen einen einzelnen Zeugen oder Sachverständigen an ein Verschulden geknüpft. Es handelt sich dem Umfang nach lediglich um eine Pauschalentschädigung. Immerhin ist die Höhe der Entschädigung für den Nichtvermögensschaden nicht streitig und ein vergleichsweise schneller Ausgleich geboten.

Ein Schmerzensgeld als immaterieller Schaden wegen der Freiheitsentziehung selbst oder daraus entstandener physischer oder psychischer Gesundheitsbeeinträchtigungen im Schadensumfang sind generell nur nach § 253 Abs. 2 BGB ersatzfähig.[56]

2. Weitere Anspruchsgrundlagen außerhalb des StrEG

Neben dem spezialgesetzlichen Anspruch aus dem StrEG kommen zivilrechtliche Schadensersatzansprüche in Betracht, etwa aus Amtshaftung wegen Amtspflichtverletzung nach § 839 BGB oder wegen Verstoßes gegen die Europäische Menschenrechtskonvention nach Art. 5 Abs. 5 EMRK, jeweils i.V.m. Art. 34 GG. Soweit Fehlleistungen von Seiten des Gerichts in Rede stehen, greift erstere nach § 839 Abs. 2 S. 1 BGB nur dann ein, wenn die Pflichtverletzung auch einen Straftatbestand verwirklicht (Richterspruchprivileg). Dafür käme neben einer Richterbestechung u.a. Rechtsbeugung gem. § 339 StGB in Frage, die freilich nur äußerst selten nachweisbar sein wird. Für den Anspruch aus Art. 5 Abs. 5, Abs. 1 S. 2 lit. a EMRK genügt nicht ein unrichtiges Urteil (z.B. wegen unzutreffender Sachverhaltsermittlung), denn die Zulässigkeit des Strafvollzuges folgt innerstaatlichen Verfahrensbestimmungen und setzt deshalb Verstöße voraus, die nach diesen Vorschriften zur Beseitigung des Urteils führen können oder geführt haben.[57] Faktisch kommt dies nur in den Fällen des § 359 Nr. 3 StPO in Betracht, womit ein weitgehender Gleichlauf mit den Voraussetzungen für § 839 BGB besteht.[58]

Unberührt bleiben – insbesondere in Fällen von § 359 Nr. 2 StPO – zivilrechtliche verschuldensabhängige Ansprüche gegen Einzelpersonen wie Zeugen oder Sachverständige, etwa aus § 823 Abs. 1 BGB, § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. §§ 153 ff. StGB oder § 826 BGB.[59]

3. Reformüberlegungen

Anlässlich des Genditzki-Falles wird kritisiert, die zu erwartende Pauschalentschädigung für die erlittene Freiheitsentziehung sei zu gering, handele es sich immerhin um wertvolle Lebenszeit, in der das Aufwachsen der Kinder nicht miterlebt wurde und Todesfälle in der Familie nicht begleitet werden konnten. Für die 13 Jahre und 6 Monate Freiheitsentziehung steht Genditzki nach § 7 Abs. 3 StrEG eine Entschädigung in Höhe von 368.400 € zu. Hinzu kommen Entschädigungen für Vermögensschäden wie einen Verdienstausfall. Vor diesem Hintergrund darf die Frage gestellt werden, inwieweit die Entschädigungsregelungen noch sinnvoll angepasst werden könnten, um einer Wiedergutmachung des Nichtvermögensschadens der Freiheitsentziehung näher zu kommen.

a) Erhöhung der Pauschalentschädigung?

Um einen angemessenen Entschädigungsbetrag zu ermitteln, müsste die Frage beantwortet werden, wie hoch ein Tag in Freiheit wertmäßig zu beziffern ist. Dies erscheint kaum möglich, kann doch das Leben schon aufgrund der Menschenwürde nach Art. 1 Abs. 1 GG nicht in einem zahlbaren Wert wiedergegeben werden. Nichts anderes kann für Lebenszeit gelten, da sie die Ausgestaltung des Lebens selbst darstellt. Mangels Festsetzbarkeit des Wertes von Lebenszeit würde wohl jeder Betrag willkürlich erscheinen. Daher könnte man einwenden, dass die Entschädigung über eine Tagespauschale per se bereits in direktem Widerspruch zu Art. 1 Abs. 1 GG steht. Allerdings gilt es zu berücksichtigen, dass die Entschädigung für den Nichtvermögensschaden durch die Freiheitsentziehung – wie auch bei den Vermögensschäden – keine Naturalrestitution ist, sondern lediglich einen gewissen Ausgleich und eine Genugtuung für die erlittenen Grundrechtseingriffe bezweckt. Berücksichtigt man also, dass von vornherein die verlorene Lebenszeit nicht i.e.S. „ausgeglichen“ werden kann, erscheint eine Bemessung einer finanziellen Genugtuung nach den Tagen der Freiheitsentziehung jedenfalls insoweit zwingend, als die Geldzahlung nicht absurd gering ausfallen darf. Immerhin stellt es sich für den Betroffenen auf den ersten Blick so dar, als würde seine Lebenszeit entschädigt werden.

Doch ist damit noch nicht die Frage der angemessenen Höhe der Entschädigung beantwortet. Jedenfalls eine Erhöhung von der bis 2020 geltenden Tagespauschale von 25 EUR pro Tag erschien überfällig. Allerdings liegt es nahe, die Tagespauschale auf mindestens 100 EUR festzusetzen, denn ein dreistelliger Betrag könnte psychologisch als deutlich höher empfunden werden. Diese Höhe käme nicht von irgendwo: Vergleicht man etwa die Haftkosten für einen Häftling pro Tag mit der derzeitigen Tagespauschale, stellt man fest, dass erstere immerhin ca. das Doppelte der Entschädigung ausmachen.[60] Auch der Lohn einer Person läge bei Zugrundelegung des Mindestlohns und einer Arbeitszeit von acht Stunden schon bei 96 EUR pro Tag. Zwar wird der Verdienstausfall freilich gesondert im Rahmen des Vermögensschadens ersetzt, trotzdem mutet es mit Blick auf die Schwere des Grundrechtseingriffs seltsam an, dass die Entschädigung für den Freiheitsentzug geringer ausfällt als für potentiell geleistete Arbeit.

Außerdem schiene eine Staffelung der Pauschale nach der Dauer der gesamten Freiheitsentziehung zweckmäßig, da die psychischen Belastungen einer Unterbringung in Haft zunehmen können und damit die Lebensqualität stärker beeinträchtigen, wenn die Haftdauer über einen erheblichen Zeitraum anhält.[61] Insbesondere steigt mit zunehmender Haftdauer und unterbliebener Korrektur des Urteils auch die Frustration und der Unmut über die Freiheitsentziehung. Dies war im Gesetzgebungsverfahren zur letzten Erhöhung des Pauschalbetrags auf 75 EUR bereits teilweise in den alternativen Gesetzesentwürfen vorgesehen. So lautete ein Vorschlag, die Tagespauschale zunächst bei 100 EUR und ab einer Freiheitsentziehung von einem Jahr auf 200 EUR pro Tag anzuheben.[62] Ein anderer Entwurf regte eine grundsätzliche Erhöhung auf 150 EUR pro Tag an, die ab dem 90. Tag Freiheitsentziehung 200 EUR und ab einem Jahr Freiheitsentziehung 250 EUR betragen sollte.[63]

b) Individualentschädigung?

Alternativ zur aktuellen Gesetzeslage – Tagespauschale als Bemessungsgrundlage – könnte auch in Erwägung gezogen werden, bei der Festsetzung individuelle Umstände des Betroffenen zu berücksichtigen.[64] Ein Faktor bei der Berechnung der Höhe des Tagessatzes könnte die psychische Belastung des Betroffenen infolge der Gesamtdauer der Haft sein. Oder aber man wählt einen zukunftsorientierten Ansatzpunkt, der die Entschädigung danach bemisst, was der Betroffene für den Wiedereinstieg ins Leben finanziell benötigt, wiederum basierend auf den individuellen Auswirkungen der Haft. Allerdings würden bei dieser Beurteilung wohl die Grenzen zum ohnehin zu gewährenden Vermögensschaden verwischt, denn der Ersatz des Schadens, der sich aus einer verurteilungsbedingt geringer vergüteten beruflichen Position ergibt, wird bereits nach geltendem Recht ersetzt.

Als Vorteil der Pauschale kann angeführt werden, dass damit die Schwierigkeiten bei der Beurteilung von psychischen Auswirkungen der Haft vermieden werden. Zudem würde sich die Prognose zukünftiger Entwicklungen beim Betroffenen, die für die Festsetzung einer finanziellen Hilfestellung für den Wiedereinstieg in den Alltag relevant wären, gerade nach einer Unterbringung in Haft, wonach sich Lebensweisen wesentlich geändert haben könnten, uneindeutig gestalten. Auch wird vermieden, dass bei der Gewährung einer Entschädigung für die Freiheitsentziehung der Vorwurf der Ungleichbehandlung erhoben wird.  Insbesondere könnten die Betroffenen den Eindruck gewinnen, dass bei einer unterschiedlichen Festsetzung der Tagessätze ihre Lebenszeit als unterschiedlich „wertvoll“ eingeordnet wird. Ein Ergebnis, das mit Blick auf den ohnehin bereits erschütterten Rechtsfrieden dringend vermieden werden sollte.

V. Fazit

Angesichts der ausgeführten Überlegungen stellt sich die Frage, inwieweit die Entschädigungsmöglichkeiten reformbedürftig sind und was in dieser Hinsicht künftig zu erwarten ist.

Zunächst erscheint die Pauschalentschädigung pro Hafttag hinsichtlich des verfolgten Ziels zweckmäßig und mit Blick auf Gleichbehandlungsgrundsätze sowie die Schwierigkeit, Freiheit in Geld zu bemessen, praktikabel. Eine mit symbolischer Wirkung verbundene weitere Erhöhung auf 100 EUR oder 150 EUR pro Tag wäre jedoch auch – verglichen mit den der tatsächlichen Kosten eines Hafttages – wünschenswert.

Auch das Bundesministerium für Justiz unter Marco Buschmann sieht hinsichtlich des StrEG Reformbedarf und veröffentlichte am 19.9.2022 ein entsprechendes Eckpunktepapier zur Modernisierung.[65] Neben einigen Änderungen bezüglich des Verfahrens der Geltendmachung der Entschädigung wird vorgeschlagen, eine Staffelung der in § 7 Abs. 3 StrEG geregelten Tagespauschale einzuführen, worin die typischerweise zunehmend auftretende psychische Belastung bei längeren Haftstrafen berücksichtigt und zwischen Untersuchungs- sowie Strafhaft unterschieden wird.[66] Innerhalb des zu leistenden Ersatzes für Vermögensschäden soll auch die bisherige Anrechnung der Haftkosten als ersparte Aufwendungen entfallen, die beim Betroffenen auf Unverständnis stößt, da er sie für gewöhnlich als aufgedrängte Leistungen des Staates wahrnimmt.[67] Als allgemeine weitere Rehabilitierungsmaßnahme wird zudem vorgeschlagen, einen Anspruch des Betroffenen nach einer erfolgreichen Wiederaufnahme auf öffentliche Bekanntmachung des aufgehobenen Urteils festzuschreiben.[68] Der DAV begrüßte die im Eckpunktepapier vorgesehenen Änderungen und eine entsprechende Umsetzung.[69] Zu einem Gesetzesentwurf kam es bislang allerdings nicht.

Oftmals ist es mit der Geldentschädigung – sei sie pauschal oder gestaffelt geregelt – nicht getan. Zu Unrecht Verurteilte können angesichts vieler Jahre in Haft auch psychische Schäden erleiden.[70] Untersuchungen zu diesen Folgen haben im deutschsprachigen Raum Seltenheitswert.[71] In jedem Fall sollte an eine ganzheitliche Restitution gedacht werden, bei der nicht ein rein finanzieller Ausgleich im Vordergrund steht, sondern vor allem auch der Wiedereinstieg ins Berufsleben[72] begleitet und speziell zugeschnittene medizinische Unterstützung gewährleistet wird[73] – vergleichbare Modelle existieren außerhalb Deutschlands bereits.[74] Daneben haben Betroffene mit Stigmatisierungswirkungen zu kämpfen, beispielsweise bei der Anmietung einer Wohnung.[75] Dabei wird es freilich schwer, diese – v.a. nachweisbar – auszuräumen, das Mindeste könnte hier aber eine öffentliche „Entschuldigung“ sein (public apology).[76]

 

 

[1]      Strate, in: MAH, 3. Aufl. (2022), § 28 Rn. 2 ff.
[2]      Geipel, in: Miebach/Hohmann, Wiederaufnahme in Strafsachen, 2016, A. Rn. 10; Leve/Otzipka/Volbert, MSchrKrim 2022, 113 (124).
[3]      Jüngste empirische Untersuchungen zu Fehlerquellen im Strafprozess etwa bei Böhme, Das strafgerichtliche Fehlurteil – Systemimmanenz oder vermeidbares Unrecht?, 2018, S. 55 ff; Dunkel, Fehlentscheidungen in der Justiz, 2018, S. 120 ff.; Arnemann, Defizite der Wiederaufnahme in Strafsachen, 2019, S. 216 ff.; Überblick auch bei Bliesener et al., MSchrKrim 2023, 147 (151 ff.). Zu den Hürden der kriminologischen Erfassung von Fehlurteilen Drenkhahn/Kölbel/Momsen, MSchrKrim 2023, 135 (138 ff.).
[4]      Zu diesem einführend Hauer, NJ 2013, 456. Noch heute zu lesen etwa in der SZ, online abrufbar unter:  https://www.sueddeutsche.de/kolumne/gustl-mollath-justizskandal-psychiatrie-1.5663792 (zuletzt abgerufen am 21.1.2024).
[5]      Beispielhaft im Spiegel, online abrufbar unter: https://www.spiegel.de/panorama/justiz/muenchen-manfred-genditzki-im-prozess-um-badewannen-mord-freigesprochen-a-a0ff48dc-b6a8-470b-95e6-d4541e5c3fbd (zuletzt abgerufen am 21.1.2024).
[6]      BVerfGE 133, 168 (226); Eisenberg, Beweisrecht der StPO, 10. Aufl. (2017), Rn. 1.
[7]      Zu diesem Grundsatz BVerfGE 20, 323 (331); 25, 269 (285 f.); Walter, in: LK-StGB, Bd. 1, 13. Aufl. (2020), Vorb. §§ 13 ff. Rn. 159.
[8]      Schuster, in: LR-StPO, Bd. 9/1, 27. Aufl. (2022), Vorb. § 359 Rn. 17.
[9]      Tiemann, in: KK-StPO, 9. Aufl. (2023), Vorb. § 359 Rn. 2.
[10]    Kühne, in: LR-StPO, Bd. 1, 27. Aufl. (2016), Einl. B Rn. 50; Joecks/Jäger, StPO, 5. Aufl. (2022), Einl. Rn. 6.
[11]    Engländer/Zimmermann, in: MüKo-StPO, Bd. 3/1, 2019, Vorb. § 359 Rn. 1.
[12]    BVerfGE 22, 322 (329); BVerfG, NJW 1994, 510; Tiemann, in: KK-StPO, Vorb. § 359 Rn. 1; Roxin/Schünemann, StrafVerfR, 30. Aufl. (2022), § 57 Rn. 1; Eisenberg, JR 2007, 360; Grünewald, ZStW 120 (2008), 545 (547).
[13]    Um den besonderen Wiederaufnahmegrund in § 79 Abs. 1 BVerfGG (Wiederaufnahme bei Unvereinbarkeits- oder Nichtigerklärung eines Strafgesetzes durch das BVerfG) soll es in diesem Beitrag nicht gehen.
[14]    Alexander, in: Miebach/Hohmann, F Rn. 179; Waßmer, Jura 2002, 454 (456); Strate, StV 1999, 228 (229).
[15]    Frister, in: SK-StPO, Bd. 7, 5. Aufl. (2018), Vorb. § 359 Rn. 10.
[16]    BGH, NJW 1977, 59; OLG Hamm, MDR 1974, 250 f.; Marxen/Tiemann, Die Wiederaufnahme in Strafsachen, 3. Aufl. (2014), Rn. 128; Eisenberg, JR 2007, 360 (367).
[17]    BGHSt 39, 75 (80); O. Hohmann, in: Miebach/Hohmann, E Rn. 69 ff.; Eisenberg, JR 2007, 360 (362).
[18]    BGH, NJW 1993, 1482; OLG Zweibrücken, wistra 2009, 488; Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 64. Aufl. (2022), § 359 Rn. 24.
[19]    Engländer/Zimmermann, in: MüKo-StPO, § 359 Rn. 44.
[20]    Peters, Strafprozeß, 4. Aufl. (1985), S. 674.
[21]    BGHSt 18, 225 (226); 19, 365 (366); O. Hohmann, in: Miebach/Hohmann, E Rn. 76.
[22]    BVerfG, NJW 2007, 207 (208); OLG Düsseldorf, NJW 1987, 2030; Schuster, in: LR-StPO, § 359 Rn. 92.
[23]    Peters (Fn. 20), S. 672.
[24]    Temming, in: HK-StPO, 7. Aufl. (2023), § 359 Rn. 20; Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, § 359 Rn. 32.
[25]    Temming, in: HK-StPO, § 359 Rn. 25.
[26]    BGHSt 39, 75 (85); OLG Düsseldorf, NStZ 2004, 454; Tiemann, in: KK-StPO, § 368 Rn. 13; Schuster, in: LR-StPO, § 359 Rn. 136; Engländer/Zimmermann, in: MüKo-StPO, § 35
Rn. 62; Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß, Bd. 3 (1974), S. 85; Marxen/Tiemann, Rn. 221; a.A. Eschelbach, in: KMR, 34. Lfg. (2003), § 359 Rn. 210, der einen Möglichkeitsmaßstab ausreichen lassen möchte; so auch Kaspar, in: SSW-StPO, 5. Aufl. (2023), § 368 Rn. 8; Wasserburg, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, S. 323.
[27]    OLG Düsseldorf, NStZ 2004, 454: mit teilweiser, aber in der Sache ohne Unterschied, anderslautender Terminologie OLG Stuttgart, StV 1990, 539 f.; OLG München, Beschl. v. 9.3.2010 – Ws 109-112/10, juris Rn. 16; OLG Rostock, NStZ 2007, 357 (358).
[28]    Beispielshaft Strate, in: Strafverteidigervereinigungen, 16. Strafverteidigertag, S. 23 (29).
[29]    BVerfG, NJW 1995, 2024 (2025); EuGRZ 2007, 586 (588 f.).
[30]    Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, § 370 Rn. 4.
[31]    BVerfG, NStZ 1990, 499 (500).
[32]    Temming, in: HK-StPO, § 370 Rn. 3.
[33]    Kaspar, in: SSW-StPO, Vorb. §§ 359 ff. Rn. 24.
[34]    BGHSt 14, 64 (66).
[35]    Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, § 373 Rn. 4a.
[36]    LG München I, Urt. v. 7.7.2023 – 1 Ks 121 Js 158369/19, BeckRS 2023, 16324. Die Verfasser danken der mit dem Fall befassten Rechtsanwältin Regina Rick für die Überlassung de
Urteils in anonymisierter Form noch vor entsprechender Veröffentlichung.
[37]    LG München II, Urt. v. 12.5.2010 – 1 Ks 31 Js 40341/08, BeckRS 2010, 149663.
[38]    BGH, NJW 2011, 1301.
[39]    LG München II, Urt. v. 17.1.2012 – 2 Ks 31 Js 40341/08, BeckRS 2012, 219340.
[40]    Kaspar, in: SSW-StPO, § 359 Rn. 29.
[41]    LG Stuttgart, StraFo 2016, 74.
[42]    Hierzu Schuster, in: LR-StPO, § 359 Rn. 14.
[43]    BGHSt 31, 365 (370).
[44]    Peters (Fn. 26), S. 97.
[45]    OLG Frankfurt, NJW 1966, 2424.
[46]    OLG Düsseldorf, NStZ 1987, 245; Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, § 359 Rn. 35.
[47]    OLG Braunschweig, GA 1956, 266 (267); LG Gießen, NJW 1994, 465 (467).
[48]    OLG Frankfurt, NJW 1978, 841; Arnemann, S. 383; einschränkend Peters (Fn. 26), S. 79: nur die Fälle, in denen sich das Gericht nicht denknotwendigerweise mit dem Gegenteil befasst hat; ähnlich auch BGH, NStZ 2000, 218.
[49]    LG München I, Urt. v. 7.7.2023 – 1 Ks 121 Js 158369/19, BeckRS 2023, 16324 Rn. 7 ff.
[50]    Nach Peters (Fn. 26), S. 184.
[51]    BGH, MDR 1989, 1117; Kunz, in: MüKo-StPO, Bd. 3/2, 2018, StrEG Einl. Rn. 31.
[52]    BGHZ 60, 302; 103, 113; Kunz, in: MüKo-StPO, StrEG Einl. Rn. 31; Brodöfel, in: Geigel, Der Haftpflichtprozess, 28. Aufl. (2020), Kap. 21 Rn. 148; Schaefer, NJW-Spezial 2009, 344.
[53]    Kunz, in: MüKo-StPO, § 7 StrEG Rn. 9.
[54]    BT-Drs. VI/1512, S. 3; Kunz, in: MüKo-StPO, § 7 StrEG Rn. 18.
[55]    Die ursprünglichen Höchstgrenzen wurden mit dem Änderungsgesetz gestrichen, BT-Drs. VI/1512, S. 3.
[56]    Beispielshaft hierzu LG Saarbrücken, Urt. v. 29.1.2015 – 3 O 295/13, BeckRS 2015, 1947.
[57]    BGH, NJW 1971, 1986.
[58]    Im Fall Mollath (siehe hierzu bereits Fn. 4) wurde ein Amtshaftungsprozess gestützt auf eine Rechtsbeugung angestrengt,  vgl. zu diesem Vorwurf das Wiederaufnahmegesuch seines damaligen Verteidigers, online abrufbar unter: https://www.strate.net/de/dokumentation/Mollath-Wiederaufnahmeantrag-2013-02-19.pdf#page=129 (zuletzt abgerufen am 21.1.2024), wobei ein Vergleich mit dem Freistaat Bayern auf 600.000 EUR erfolgte, sodass es letztlich zu keiner Entscheidung des Gerichts kam, vgl. Bericht der SZ, online abrufbar unter: https://www.sueddeutsche.de/bayern/bayern-justiz-gustl-mollath-entschaedigung-1.4678709 (zuletzt abgerufen am 21.1.2024).
[59]    Peters (Fn. 26), S. 190 f.
[60]    In Bayern für das Jahr 2021 etwa 157 EUR pro Tag, vgl. Bayerisches Staatsministerium der Justiz, Justizvollzug in Bayern (Stand: 31.3.2022), S. 47, online abrufbar unter: https://www.justiz.bayern.de/media/pdf/justizvollzug/jvib_broschuere_2022.pdf (zuletzt abgerufen am 21.1.2024).
[61]    Schilderungen von Betroffenen zu den zunehmenden Belastungen bei längerer Haftdauer in Hoffmann/Leuschner, KrimZ, Rehabilitation und Entschädigung nach Vollstreckung einer Freiheitsstrafe und erfolgreicher Wiederaufnahme, 2017, S. 78
[62]    BT-Drs. 19/15785, S. 2.
[63]    BT-Drs. 19/17108, S. 1.
[64]    Von Betroffenen geäußerte Kritik an der Pauschalisierung zusammengefasst in Hoffmann/Leuschner, S. 77 f.
[65] Siehe Pressemitteilung des BMJ, online abrufbar unter: https://www.bmj.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2022/0919_Eckpunktepapier_Modernisierung_Strafverfolgungsma%C3%9Fnahmen_StrEG.html (zuletzt abgerufen am 21.1.2024).
[66]    Eckpunktepapier zur Modernisierung des Gesetzes über die Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen, online abrufbar unter: https://www.bmj.de/SharedDocs/Downloads/DE/Gesetzgebung/Eckpunkte/Eckpunktepapier_Modernisierung_StrEG.html?nn=110490, S. 5 (zuletzt abgerufen am 21.1.2024).
[67]    Vgl. Eckpunktepapier, S. 6 f.
[68]    Vgl. Eckpunktepapier, S. 7.
[69]    Siehe Pressemittelung des DAV, online abrufbar unter: https://anwaltverein.de/de/newsroom/pm-29-22-haftentschaedigung-endlich-reformieren (zuletzt abgerufen am 21.1.2024).
[70]    Ambrust, American Law Review 2004, 157 (178).
[71]    Auf Defizite in der Rehabilitierung der Betroffenen machen Hoffmann/Leuschner, S. 86 ff. aufmerksam. Vgl. für den anglo-amerikanischen Raum etwa Campbell/Denov, Canadian Journal of Criminology and Criminal Justice 2004, 139 ff.; Grounds, Canadian Journal of Criminology and Criminal Justice 2004, 165 ff.; ders., Crime and Justice, 2005, 1 ff.; Konvisser, DePaul Journal for Social Justice, 2012, 221 ff.
[72]    Wildeman/Costellone/Schehr, Journal of Offender Rehabilitation 2011, 411 (427 f.).
[73]    Ambrust, American Law Review 2004, 157 (175 ff.; 177 ff.).
[74]    Hierzu Hoffmann/Leuschner, S. 92 ff.
[75]    Vgl. Dazu die kanadische Untersuchung von Hamovitch/Zannella/Rempel/Graf/Clow, Wrongful Conviction Law Review 2022, 34 (46), nach der z.B. Vermieter ggü. (auch z
Unrecht) Verurteilten etwa dreimal höher im Vergleich zur Kontrollgruppe angeben, dass eine Wohnung nicht mehr verfügbar sei.
[76]    Zdenkowski, Current Issues in Criminal Justice 1993, 105 (109).

 

 

 

 

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