von Prof. Dr. Dorothea Magnus, LL.M.
Abstract
Die gesetzliche Neuregelung der Wiederaufnahme im Strafprozess war hochumstritten. Kritiker sahen in ihr einen Verstoß gegen verfassungsrechtliche Prinzipien, während Befürworter sie zur Herstellung von Gerechtigkeit für unentbehrlich hielten. Das BVerfG hat diesem Streit um die Reform nunmehr ein Ende gesetzt und die Neuregelung für verfassungswidrig und nichtig erklärt. Wie diese Entscheidung zu bewerten ist und welche Auswirkungen sie auf die Praxis der Strafverfolgung hat, untersucht der folgende Beitrag.
The new legal regulation of reopening to convicted person’s detriment was highly controversial. Critics saw it as a violation of constitutional principles, while supporters considered it indispensable for the establishment of justice. The BVerfG has now put an end to this dispute and declared the new regulation unconstitutional and null and void. The following article examines how this decision is to be assessed and what effects it has on the practice of criminal prosecution.
I. Einleitung
Der Gesetzgeber hatte mit Wirkung zum 30.12.2021 das Wiederaufnahmerecht für das Strafverfahren geändert.[1] Er hatte eine neue Vorschrift (§ 362 Ziff. 5) in die StPO eingefügt. Danach hinderte der frühere Freispruch einer Person nicht, gegen sie erneut ein Strafverfahren einzuleiten, wenn die frühere Tat ein Mord oder Völkerrechtsverbrechen war. Bieten neue Beweismittel nachträglich einen eindeutigen Nachweis auf die Täterschaft, so konnte ein Gericht den früher Freigesprochenen wegen dieser Schwerstverbrechen doch verurteilen. Zuvor war eine solche Wiederaufnahme zuungunsten des Verurteilten nur möglich, wenn er ein glaubwürdiges Geständnis abgelegt hatte oder der Freispruch durch eine Straftat, z.B. eine Falschaussage oder eine gefälschte Urkunde, erreicht worden war. Anlass der Neuregelung war der Fall Frederike von Möhlmann aus dem Jahr 1983. Frederike wurde, als sie 17 Jahre alt war, vergewaltigt und getötet.[2]
Der mutmaßliche Mörder – Ismet H – wurde damals mangels Beweises rechtskräftig freigesprochen. Seine an der Kleidung von Frederike sichergestellte DNA konnte damals nicht ausgewertet werden. Die technischen Verfahren waren in den 80er Jahren noch nicht ausgereift genug. Das änderte sich und 2012 ließen sich die DNA-Spuren
Ismet H zuordnen. Frederikes Vater startete eine Petition zur Änderung des Wiederaufnahmerechts. 2018 nahm die Ampel (SPD, Grüne und FDP) die Forderung in den Koalitionsvertrag auf. Ende 2021 wurde die neue Vorschrift als § 362 Ziff. 5 in die StPO aufgenommen. Die neue Vorschrift war hochumstritten.[3] Nicht nur wurde dem Gesetzgeber vorgeworfen, hier ein Einzelfallgesetz, eine lex Frederike von Möhlmann, geschaffen zu haben, sondern mit der neuen Vorschrift gegen fundamentale Verfassungsprinzipien, allen voran das Verbot der Doppelbestrafung und das Verbot der rückwirkenden Anwendung von Gesetzen verstoßen zu haben. Das BVerfG, das der erneut angeklagte Ismet H angerufen hatte, sah in diesem Fall daher Anlass, „sich mit bisher nicht geklärten grundsätzlichen Rechtsfragen auseinanderzusetzen“.[4] Am 31. Oktober 2023 hat das BVerfG § 362 Ziff. 5 StPO schließlich für verfassungswidrig und nichtig erklärt.[5] Wie diese Entscheidung zu bewerten ist und welche Auswirkungen sie auf die Strafverfolgungspraxis haben wird, soll Gegenstand der folgenden Überlegungen sein.
II. Voraussetzungen des § 362 Ziff. 5 StPO
Zunächst zu den Voraussetzungen der verfassungswidrig erklärten Vorschrift des § 362 Ziff. 5 StPO. Die Vorschrift erlaubte, ein Strafverfahren gegen einen rechtskräftig Freigesprochenen wiederaufzunehmen, wenn neue Tatsachen oder Beweismittel dringende Gründe dafür boten, dass der Betroffene wegen Mordes, Völkermordes, Verbrechens gegen die Menschlichkeit oder Kriegsverbrechens gegen eine Person verurteilt wird.
Zunächst setzte die Vorschrift voraus, dass eine Person wegen einer der inkriminierten Taten bereits einmal rechtskräftig freigesprochen worden war. War sie dagegen wegen einer solchen Tat verurteilt worden, dann kam die Vorschrift nicht zum Zug. Das galt auch, wenn der Täter nur zu einer relativ geringen Strafe verurteilt worden war, weil z.B. nicht Mord, sondern nur Totschlag oder gar fahrlässige Tötung angenommen wurde.[6] Allerdings sind die Vorschriften § 362 Ziff. 1-4 StPO auch nach der Nichtigerklärung der Ziff. 5 weiter anwendbar, die unter ihren Voraussetzungen auch minder schwere Taten erfassen, insb. wenn der Freispruch durch falsche Urkunden, Falschaussagen oder Amtspflichtverletzungen der Richter (sog. propter falsa) erlangt wurde.
Ferner musste der dringende Verdacht bestehen, dass der Betroffene eine der genannten Taten begangen hat. Bei diesen Taten handelte es sich um einen engen Kreis schwerster Kapitalverbrechen, die nach deutschem Recht mit lebenslanger Freiheitsstrafe bedroht sind und nicht der Verjährung unterliegen. Der dringende Verdacht setzt, wie der dringende Tatverdacht beim Haftbefehl (§§ 112, 112a StPO) voraus, dass die Verurteilung des Täters sehr wahrscheinlich ist.[7] Der Gesetzgeber verlangte, dass die Täterschaft sicher durch die Beweise nachgewiesen sein muss.[8]
Schließlich musste der dringende Tatverdacht auf neuen Beweismitteln und Tatsachen beruhen (sog. propter nova). Zuvor war bei neuen Beweismitteln oder Tatsachen eine Wiederaufnahme nur zugunsten des Betroffenen gem. § 359 StPO, nicht jedoch zu Ungunsten des Betroffenen als allgemeiner Wiederaufnahmegrund im Gesetz vorgesehen. Nach der StPO sind neu grundsätzlich alle Tatsachen und Beweismittel, die das erkennende Gericht bei Erlass des früheren Urteils nicht berücksichtigt hat.[9] Ein so weiter Begriff birgt die Gefahr, dass der Freispruch praktisch unter Vorbehalt erfolgt und bei jedem neuen Beweismittel ein neues Verfahren angestrengt werden kann. Da Beweismittel wie etwa die DNA-Auswertung, aber auch die Täter- und Tatortbestimmung immer weiter verfeinert werden, würde mit jedem neuen Verfahren, das noch etwas besser den Nachweis erbringen kann, eine Wiederaufnahme – und zwar immer wieder – möglich. Daher war ein so hoher Beweisgrad, eine solche Verdichtung der Beweislage zu Ungunsten des Betroffenen erforderlich, dass seine Schuld damit eindeutig nachgewiesen werden konnte. Das wäre etwa bei bloßen Zeugen vom Hörensagen oder indiziellen Augenscheinsobjekten, die zwar den Sachverhalt, nicht aber die Schuldfrage weiter aufklären konnten, nicht der Fall, während Urkunden, Zell-, Blut- und DNA-Spuren dagegen einen hohen Beweiswert haben und gerade in Kombination häufig geeignet sind, den Schuldvorwurf nachzuweisen.[10] Das Beweismaterial des früheren Verfahrens sollte auch nicht etwa dadurch unverwertbar werden, dass das Verfahren mit einem Freispruch geendet hatte. Ist das damalige Beweismaterial rechtmäßig erhoben worden, bestand weder ein Beweisverwertungsverbot noch eine sonstige Fernwirkung, etwa derart, dass neue Beweise, die bei der weiteren Spurensuche gewonnen wurden, nicht berücksichtigt werden dürften. Der Freispruch sollte sich insoweit nicht auswirken. § 362 Ziff. 5 StPO erlaubte vielmehr ausdrücklich, dass neue Tatsachen oder Beweismittel beigebracht werden konnten, die auch in Verbindung mit früher erhobenen Beweisen dringende Gründe für die Verurteilung wegen der Katalogtaten bildeten. Die Polizei musste auch dann weitere Ermittlungen aufnehmen, wenn nur Beweise aus dem früheren Verfahren den Anstoß für die weiteren Ermittlungen gegeben haben, weil die Beweise seinerzeit nicht ausgewertet oder entschlüsselt werden konnten.
III. Gründe für die Verfassungswidrigkeit des § 362 Ziff. 5 StPO und ihre Bewertung
1. Verstoß gegen das Doppelbestrafungsverbot und den Vertrauensgrundsatz
Das BVerfG sieht in § 362 Ziff. 5 StPO einen Verstoß gegen das Verbot der Doppelbestrafung und den damit verknüpften Vertrauensgrundsatz.
Das Doppelbestrafungsverbot gebietet, wie Art. 103 Abs. 3 GG vorschreibt, dass „niemand wegen derselben Tat auf Grund der allgemeinen Strafgesetze mehrmals bestraft werden darf“. Das Verbot beschreibt das Prinzip des Strafklageverbrauchs.[11] Das meist als ne bis in idem-Grundsatz bezeichnete Verbot enthält nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG und ganz herrschender Lehre nicht nur das Verbot doppelter Bestrafung, sondern auch das Verbot der Doppelverfolgung.[12] Wegen derselben Sache sich erneut einem strafrechtlichen Verfahren unterwerfen zu müssen, wird bereits als grundsätzlich nicht hinnehmbare Belastung angesehen.[13] Ein rechtskräftig Freigesprochener soll nicht ständig unter dem Damoklesschwert leben, dass er wegen derselben Tat nochmals verfolgt und ggfs. bestraft werden kann. Dieses Verbot doppelter Verfolgung stützen wichtige Stimmen auf die Grundrechte der Freiheit und Würde des Menschen (Art. 1, 2 Abs. 1 GG). Diese seien verletzt, wenn der Freigesprochene – übrigens auch der rechtskräftig Bestrafte – ständig damit rechnen müsse, wegen der früheren Tat erneut strafrechtlich belangt zu werden.[14] Würde die Akte wieder aufgemacht, obwohl der Betroffene nach rechtskräftigem Freispruch als unschuldig gilt, so würde man diese Person in der Tat ein zweites Mal verfolgen und damit gegen das Doppelverfolgungsverbot verstoßen. Ein Freispruch ist deshalb grundsätzlich ein Verfahrenshindernis, das von Amts wegen zu berücksichtigen und auch von der Polizei und der Staatsanwaltschaft zu beachten ist.[15]
Mit dem ne bis in idem-Grundsatz ist eng verknüpft der Vertrauensgrundsatz. Freigesprochene sollen grundsätzlich auf die Rechtskraft des ergangenen Urteils vertrauen dürfen. Ein Freispruch kann keinen Rechtsfrieden herstellen, wenn das Verfahren jederzeit bei neuen Beweisen wiederaufgenommen werden kann. Das führt zu Rechtsunsicherheit. Der Zweck des Strafrechts, Gerechtigkeit herzustellen, wird nur erreicht, wenn ein rechtskräftiges Urteil grundsätzlich verbindlich, beständig und unanfechtbar sei. Die Entscheidung über die Schuld des Täters darf generell keine vorläufige sein.[16]
Die Neuregelung verstößt nach Ansicht des BVerfG gegen die geschilderte Ausprägung des Grundsatzes ne bis in idem. Sie erlaubt es, ein bereits rechtskräftig mit einem Freispruch abgeschlossenes Strafverfahren erneut zu betreiben. In dem Mehrfachverfolgungsverbot des Art. 103 Abs. 3 GG komme die verfassungsrechtliche Entscheidung zugunsten der Rechtssicherheit gegenüber der materialen Gerechtigkeit zum Ausdruck. Diese Entscheidung sei abwägungsfest, gelte absolut und gebe dem Gesetzgeber bei der Regelung der Wiederaufnahme des Strafverfahrens keinen Spielraum. Strafrechtshistorisch sieht das BVerfG den in Art. 103 Abs. 3 GG verankerten Grundsatz eng mit der Unschuldsvermutung verknüpft. Im Gegensatz zum Inquisitionsprozess besteht die Bedeutung des Anklageprozesses darin, die „prinzipielle Unendlichkeit des gemeinrechtlichen Inquisitionsgrundsatzes abzulösen und ein Strafverfahren unbedingt zu einem Abschluss zu bringen“.[17] Der ne bis in idem Grundsatz sichere die „vom Rechtsstaat getroffene ‚Fundamentalentscheidung‘, bei nicht behebbaren Zweifeln an der Schuld nach dem Grundsatz in dubio pro reo zu verfahren und dabei zugunsten des tatsächlich Unschuldigen in Kauf zu nehmen, sich auch – zugunsten eines tatsächlich Schuldigen – irren zu können“.[18] Die absolute Geltung des ne bis in idem Prinzips ergibt sich aus Sicht des BVerfG sowohl aus der systematischen Stellung im Gesetz (auch § 103 Abs. 2 GG habe absolute Geltung) als auch aus seinem Sinn und Zweck. Zweck des Art. 103 Abs. 3 GG sei es zum einen, „den staatlichen Strafanspruch um der Rechtssicherheit des Einzelnen willen zu begrenzen“.[19] Das Individualrecht des Einzelnen, darauf vertrauen zu dürfen, dass er nach einem Urteil wegen des abgeurteilten Sachverhalts nicht nochmals belangt werde, dient „zugleich der Freiheit und der Menschenwürde des Betroffenen. Es verhindert, dass der Einzelne – gegebenenfalls im Rahmen eines Prozesses ‚ad infinitum‘ zum bloßen Objekt der Ermittlung der materiellen Wahrheit herabgestuft wird“.[20] Art. 103 Abs. 3 GG beschränkt damit die Durchsetzung des Legalitätsprinzips. Daneben diene die Rechtskraft einer Entscheidung auch dem Rechtsfrieden und damit einem über das Individualrecht hinausgehenden Bedürfnis der Gesellschaft an einer endgültigen Feststellung der Rechtslage.[21]
2. Bewertung des Verstoßes gegen das Doppelbestrafungsverbot
a) Kein schutzwürdiges Vertrauen bei Straftaten mit lebenslanger Freiheitsstrafe
Das BVerfG stützt sich in seiner Entscheidung für die absolute Geltung und Abwägungsresistenz des Grundsatzes ne bis in idem vor allem auf die systematische und teleologische Auslegung des Doppelverfolgungsverbots. Dabei gewichtet es aber einige wesentliche Gesichtspunkte nach meiner Ansicht zu gering. Die für verfassungswidrig erklärte Vorschrift erlaubte zwar, ein bereits rechtskräftig mit einem Freispruch abgeschlossenes Strafverfahren erneut zu betreiben. Allerdings muss ein freigesprochener Täter schon unter dem bisherigen Recht innerhalb der strafrechtlichen Verjährungsfristen mit einer Wiederaufnahme und seiner späteren Verurteilung rechnen, wenn einer der bisherigen Wiederaufnahmegründe (§ 362 Ziff. 1-4 StPO) gegeben ist. Bei einem glaubwürdigen Geständnis oder einem Freispruch, der z.B. durch Falschaussage oder gefälschte Urkunden erlangt wurde, schützt der frühere Freispruch deshalb schon bisher – und auch weiterhin – nicht mehr vor erneuter Verfolgung. Darin ist bislang kein Verstoß gegen die Menschenwürde des Freigesprochenen gesehen worden. Warum ist das bei der nichtig erklärten Vorschrift, bei der es um Schwerstverbrechen mit höchstwahrscheinlicher Schuld des Täters auf Grund neuer Beweise geht, anders zu werten? Besteht wirklich ein materialer Unterschied zwischen der Situation, dass der Freispruch auf einer für echt gehaltenen Urkunde beruht, die später als unecht erkannt wird (dann Wiederaufnahme möglich),[22] und einer Situation, bei der der Freispruch wegen übersehener oder noch nicht möglicher Nachweismöglichkeiten erfolgte, die später zugänglich werden (dann keine Wiederaufnahme)?
b) Geringe Gefahr der Verfolgung Unschuldiger
Tatsächlich unschuldige und freigesprochene Bürger liefen durch die aufgehobene Vorschrift kaum Gefahr, nochmals in ein Strafverfahren verwickelt zu werden. Fälle, in denen ein Gericht ernsthaft ein Strafverfahren wieder aufnimmt, in dem nun erhebliches Beweismaterial die Täterschaft eines wirklich Unschuldigen sicher nachweisen soll, sind abgesehen von sehr groben Justizirrtümern oder Rechtsbeugungsfällen in einem Rechtsstaat nicht denkbar. Bei dem neuen Wiederaufnahmegrund sollte die Beschränkung auf die schwersten und deshalb unverjährbaren Straftaten, die massive Anhebung des Verdachtsgrades sowie die geforderte hohe Erheblichkeit des Beweismaterials Justizirrtümern gerade vorbeugen, auch wenn sie sie vielleicht nicht völlig ausschließen können.
c) Verstoß gegen Gerechtigkeitsvorstellungen und Konterkarieren der Kriminalsanktion
Ist hingegen der Verdacht berechtigt und erweist sich der Betroffene tatsächlich als der Täter, sollte er – wenn er nicht von sich aus bereut und ein Geständnis ablegt – für diesen Kreis von Taten auch zur Verantwortung gezogen werden können. Es stößt sich mit elementaren Gerechtigkeitsvorstellungen, wenn ein Mörder, Völkermörder, Kriegsverbrecher oder Täter von Verbrechen gegen die Menschlichkeit sich seiner Verantwortlichkeit entziehen kann, nur weil ein früher freisprechendes, nunmehr falsches Urteil entgegensteht. Würde ein solcher Täter jetzt erstmalig angeklagt, könnte er der Verurteilung nicht entgehen. Wer durch Kapitalverbrechen so hohe Schuld auf sich geladen hat, wie der für nichtig erklärte § 362 Ziff. 5 StPO sie adressiert, der sollte nicht darauf vertrauen können, nach einem – falschen – Freispruch nie mehr zur Rechenschaft gezogen zu werden. Der Vertrauensgrundsatz würde sonst geradezu pervertiert. Auch die Opfer solcher Verbrechen bzw. deren Hinterbliebene haben ein Recht darauf, dass die Täter vor Gericht gestellt werden, wenn dringende Gründe vorliegen, die ihre Verurteilung sehr wahrscheinlich machen. Solche Gründe liegen in neuen Beweisen und Tatsachen, die ihre Täterschaft dringend nahelegen. Dass die Schwerstverbrechen mit lebenslanger Freiheitsstrafe bedroht und unverjährbar sind, macht nur Sinn, wenn Unverjährbarkeit tatsächlich bedeutet, dass diese Tat selbst nach einem ersten Freispruch bis an das Lebensende des Täters verfolgt werden darf. Sie dem Doppelverfolgungsverbot zu unterwerfen, würde den Sinn der massiven Kriminalsanktionierung dieser Taten konterkarieren. Dies spricht gegen die Sinn- und Zweckbestimmung des BVerfG, die sich vor allem am Individualrecht auf Vertrauensschutz solcher Täter und am Allgemeinbedürfnis nach Rechtsfrieden orientiert.
d) Schwächerer Eingriff in das Doppelverfolgungsverbot
Auch ist kritisch zu hinterfragen, ob der § 362 Ziff. 5 StPO das Doppelverfolgungs- und -bestrafungsverbot in seinem Kernbereich oder nur im Randbereich betrifft. Denn das BVerfG erkennt Einschränkungen im Randbereich des Doppelbestrafungsverbots an.[23] Dafür, dass lediglich der Randbereich betroffen ist, ist anzuführen, dass die nun aufgehobene Vorschrift das ne bis in idem Prinzip allein in seiner schwächeren Variante des Verbots der Doppelverfolgung betrifft. Im Falle des § 362 Ziff. 5 StPO ist nur das Doppelverfolgungsverbot tangiert, weil gegen den Täter mehrfach ein Strafverfahren angestrengt wird. Wegen des rechtskräftigen Freispruchs, der zwingende Voraussetzung für die Anwendung der neuen Vorschrift ist, wird der mutmaßliche Täter keineswegs doppelt oder mehrfach bestraft. Ein Freispruch plus eine Bestrafung macht keine doppelte Bestrafung aus. Sondern der freigesprochene Täter wird bei § 362 Ziff. 5 StPO, wenn der Nachweis nun gelingt, erstmalig wegen der Tat verurteilt. Die Wortlautauslegung des Art. 103 Abs. 3 GG ergibt nicht zwingend, dass die strengen Folgen des Art. 103 Abs. 3 GG auch die – hier anerkannte – Doppelverfolgung treffen. Bleibt es bei einer nur doppelten Verfolgung, die ja auch nicht zwingend mit einer Verurteilung und einem Strafausspruch enden muss, so erscheint eine Zuordnung eher zum Randbereich des ne bis in idem-Grundsatzes nahezuliegen. Dafür spricht auch, dass die nun nichtige Vorschrift nur den kleinen Kreis extremster Straftaten erfasst und ihre Verfolgung an besonders hohe Hürden bindet.
e) Existenz von Ausnahmen des ne bis in idem Prinzips
Bei den Ausnahmen vom ne bis in idem-Grundsatz kollidieren Prinzipien der Rechtskraft und Rechtssicherheit einerseits und der materiellen Gerechtigkeit und Wahrheitsfindung andererseits. Das BVerfG sieht den Grundsatz ne bis in idem als abwägungsresistent an; er dürfe nicht relativiert werden und setzte sich damit auch gegen die materielle Gerechtigkeit durch.[24] Dieser Sichtweise lässt sich entgegensetzen, dass die gegenläufigen Prinzipien der Rechtssicherheit und der materiellen Gerechtigkeit ihrerseits Ausfluss ein und desselben Prinzips, des Rechtsstaatsprinzips, sind. Keines von ihnen kann aber absolute Geltung verlangen.[25] So überzeugt es nicht, dass Art. 103 Abs. 3 GG bereits eine Entscheidung für den Vorrang der Rechtssicherheit getroffen habe. Die Existenz des § 362 StPO zeigt, dass der Gesetzgeber – und zwar unangegriffen vom BVerfG – Ausnahmen von dem Prinzip des ne bis in idem gestattet.
f) Weiterentwicklung der Auslegung des Art. 103 Abs. 3 GG möglich
Ferner hat das BVerfG entschieden, „dass für neu auftauchende Gesichtspunkte, die sich der Prozeßrechtswissenschaft und der Rechtsprechung so noch nicht gestellt hatten“, das Verfassungsrecht auch in Form des Art. 103 Abs. 3 GG noch keine Festlegung getroffen habe und eine Weiterentwicklung möglich sein müsse.[26] Das BVerfG spricht hier nur von neuen Gesichtspunkten und nicht neuen Rechtsproblemen oder Rechtsvorschriften. Solche neuen Gesichtspunkte lassen sich in der Fortentwicklung der Schuldnachweismethoden (z.B. DNA-Nachweis, digitale Forensik etc.) durchaus sehen.[27] Auch neue kriminalistische Nachweismethoden sind neue Gesichtspunkte, die sich zum Zeitpunkt der Aufnahme des ne bis in idem Prinzips in das Grundgesetz der Prozessrechtswissenschaft und Rechtsprechung in dieser Form noch nicht gestellt hatten.[28] Diesen Aspekten hätte das BVerfG in seiner Entscheidung stärkeres Gewicht beimessen sollen, als es dies getan hat.
3. Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot
Das BVerfG nimmt ferner einen Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot an. Denn nach dem Willen des Gesetzgebers soll die Norm gerade auch Fälle aus der Zeit vor ihrem Inkrafttreten betreffen, wie insbesondere den Frederike von Möhlmann-Fall. Im Text der Norm schlägt sich diese Absicht freilich nicht nieder. Das BVerfG sieht hier nicht das spezielle strafrechtliche Rückwirkungsverbot des Art. 103 Abs. 2 GG als verletzt an, nach dem die Strafe bei Begehung der Tat bestimmt sein muss, da dieses Verbot nur auf Strafen, nicht aber auf rein strafprozessuale Vorschriften anwendbar ist.[29] Doch greife das allgemeine verfassungsrechtliche Rückwirkungsverbot aus Art. 103 Abs. 3 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG ein. Das BVerfG unterscheidet dabei in seiner Rspr. grundsätzlich zwischen Gesetzen mit echter und unechter Rückwirkung.[30] Bis auf wenige Ausnahmen sind Gesetze mit echter Rückwirkung verfassungswidrig, solche mit unechter Rückwirkung dagegen grundsätzlich zulässig, wenn sie dem rechtsstaatlichen Gebot des Vertrauensschutzes Rechnung tragen.[31] Eine echte Rückwirkung hat eine Rechtsnorm nach den Worten des BVerfG, „wenn sie nachträglich in einen abgeschlossenen Sachverhalt ändernd eingreift. Dies ist insbesondere der Fall, wenn ihre Rechtsfolge mit belastender Wirkung schon vor dem Zeitpunkt ihrer Verkündung für bereits abgeschlossene Tatbestände gelten soll (‚Rückbewirkung von Rechtsfolgen‘).“[32] Eine solche Rückbewirkung ist in der Regel verboten und nur in engen Ausnahmefällen zulässig. Eine unechte Rückwirkung liegt dagegen vor, wenn „belastende Rechtsfolgen einer Norm erst nach ihrer Verkündung eintreten, tatbestandlich aber von einem bereits ins Werk gesetzten Sachverhalt ausgelöst werden ‚tatbestandliche Rückanknüpfung‘).“[33] Solche Rückwirkungen sind in erheblich weiterem Umfang zulässig.
Nach dem Willen des Gesetzgebers sollte der neue Wiederaufnahmegrund rechtskräftigen Freisprüchen – auch solchen aus der Zeit vor dem Inkrafttreten der Regelung – faktisch ihre abschließende Wirkung nehmen. Das BVerfG sieht darin eine echte Rückwirkung: „Der geregelte Lebenssachverhalt, an den eine gesetzliche Neuregelung der Wiederaufnahme Rechtsfolgen knüpft, ist das Verfahren, nicht der zugrundeliegende, den Verfahrensgegenstand prägende tatsächliche Sachverhalt. Erfolgt die Wiederaufnahme aufgrund einer Norm, die erst nachträglich in Kraft tritt, ändert sie die Rechtsfolgen eines Freispruchs. Den zuvor bestehenden Vorbehalten, die in den bisherigen Wiederaufnahmegründen zum Ausdruck kommen, fügt die Neuregelung einen weiteren Vorbehalt hinzu“.[34] Durch den rechtskräftigen Abschluss des Strafverfahrens sei zudem Verfolgungsverjährung eingetreten und die rückwirkende Veränderung von Verjährungsvorschriften stelle immer eine „echte“ Rückwirkung dar.[35]
Das BVerfG lehnt eine ausnahmsweise Rechtfertigung der Verletzung des Rückwirkungsverbots aufgrund überragender Belange des Gemeinwohls vorliegend ab. Der Freispruch eines möglicherweise Schuldigen sei „unter dem Gesichtspunkt des Gemeinwohls nicht „unerträglich“, sondern vielmehr Folge einer rechtsstaatlichen Strafrechtsordnung, in der der Zweifelsgrundsatz eine zentrale Rolle spielt“.[36]
Die Maßstäbe zur echten Rückwirkung, die das BVerfG bei seiner Entscheidung zur rückwirkenden Vermögensabschöpfung (BVerfGE 156, 354) angelegt hat, überträgt es nicht auf die vorliegende Konstellation. „Den zwingenden Gemeinwohlgrund, der eine „echte“ Rückwirkung rechtfertigen kann, sah der Senat dort in der Situation, dass der Staat mit der Verfolgungsverjährung darauf verzichtet, gegen den Straftäter mit den Mitteln des Strafrechts vorzugehen“. In der vorliegenden Konstellation gehe es aber weder um eine Verfolgungsverjährung noch um einen Strafausspruch, sondern um ein abgeschlossenes Strafverfahren mit Freispruch. Die Regelung des § 362 Nr. 5 StPO stütze sich auch nur auf einen Verdacht und nicht auf die Feststellung einer rechtswidrigen Tat (vgl. § 73a StGB). Die Gefahr eines zu beseitigenden Vollzugsdefizits bestehe mithin nicht.
4. Bewertung des Verstoßes gegen das Rückwirkungsverbot
a) Einordnung des Rückwirkungsverbots
Gegen die Einordnung als echte Rückwirkung lässt sich einwenden, dass durch § 362 Ziff. 5 StPO der Freispruch als solcher nicht angetastet wird, sondern nur zum Ausgangspunkt einer Neubewertung genommen wird, so dass an den Freispruch nur „tatbestandlich rückangeknüpft“ wird. Damit ist die Frage verbunden, ob eine solche Rückanknüpfung den berechtigten Vertrauensschutz der Betroffenen verletzt. Insoweit hat das BVerfG freilich festgestellt: „Soweit nicht besondere Momente der Schutzwürdigkeit hinzutreten, genießt die bloß allgemeine Erwartung, das geltende Recht werde zukünftig unverändert fortbestehen, keinen besonderen verfassungsrechtlichen Schutz.“[37] Ferner muss nach dieser Rechtsprechung die unechte Rückwirkung zur Förderung des Gesetzeszweckes erforderlich sein und bei der Abwägung zwischen dem enttäuschten Vertrauen und den Gründen für die Rechtsänderung muss die Zumutbarkeit – für die Betroffenen und die Allgemeinheit – gewahrt werden.[38]
b) Rechtfertigungsmöglichkeit von Verstößen gegen das Rückwirkungsverbot
Folgt man diesen Maßstäben, dann erscheint das Vertrauen des Mörders oder Völkerrechtsverbrechers auf den unabänderlichen Bestand seines Freispruchs als wenig schutzwürdig im Vergleich zu dem Interesse der Allgemeinheit an der Herstellung materieller Gerechtigkeit in den in § 362 Nr. 5 StPO erfassten Fällen, an einem angemessenen Schuldausgleich, an der Prävention und auch an der Normverdeutlichung in diesen Fällen schwerster Verbrechen.
Die zuletzt genannten Gemeinwohlgründe dürften aber auch eingreifen, wollte man – wie letztlich auch nach hier vertretener Ansicht– die für nichtig erklärte Vorschrift als einen Fall echter Rückwirkung einordnen.[39] Denn eine echte Rückwirkung ist ausnahmsweise dann zulässig, „wenn überragende Belange des Gemeinwohls, die dem Prinzip der Rechtssicherheit vorgehen, eine rückwirkende Beseitigung erfordern.“[40] Schließlich hat das BVerfG auch nicht in Erwägung gezogen, § 362 Ziff. 5 StPO verfassungskonform auszulegen und die Vorschrift nur für Freisprüche ab Erlass der Vorschrift Ende 2021 anzuwenden, Altfälle mithin auszuklammern. So bliebe, selbst wenn man die Hürden einer echten bzw. unechten Rückwirkung für unüberwindlich hält, eine Auslegung möglich, wonach der Freispruch, ebenso wie die Wiederaufnahme des gerichtlichen Verfahrens, erst nach dem Inkrafttreten der Vorschrift ergangen sein muss.
IV. Rechtspolitische Bewertung der BVerfG-Entscheidung
Abgesehen von der verfassungsrechtlichen Einordnung stellt sich die Frage, ob die Verfassungsgerichtsentscheidung rechtspolitisch Zustimmung verdient.
1. Massiver Verstoß gegen Gerechtigkeitsvorstellungen auch bei geringer Anwendbarkeit
Die Vorschrift des § 362 Ziff. 5 StPO hätte ohne ihre Nichtigerklärung in Zukunft voraussichtlich nur wenige Fälle betroffen. Durch den engen Anwendungsbereich, die Angewiesenheit auf ausländische Rechtshilfe und die Einstellungsmöglichkeit aus Opportunitätsgründen der §§ 153c, 153f StPO[41] wären Wiederaufnahmeverfahren zu Ungunsten des Betroffenen wegen neuer Beweislage auch in Zukunft die Ausnahme geblieben. Gestaltungen wie der Fall Frederike von Möhlmann sind selten. Bei den erfassten Völkerrechtsverbrechen handelt es sich derzeit durchweg um Auslandstaten, deren Verfolgung im Ermessen der Staatsanwaltschaft steht.[42] Wegen ihrer geringen praktischen Relevanz erscheint aus dieser Sicht die Aufhebung der Norm kein großer Verlust zu sein. Auf der anderen Seite erfasste sie Fälle, die in besonderem Maß an das allgemeine Rechtsbewusstsein appellieren. Einen Mörder oder Völkerrechtsverbrecher, dessen Schuld fast sicher nachweisbar ist, nur deshalb nicht verfolgen und bestrafen zu können, weil ein früherer – fast sicher falscher – Freispruch entgegensteht, widerspricht massiv Vorstellungen materieller Gerechtigkeit. Dass das BVerfG hier sein Ermessen an die Stelle des Ermessens des Gesetzgebers setzt, was den Grad der Unerträglichkeit der Abweichung von Gerechtigkeitsvorstellungen betrifft, wirft zudem die Frage der Gewaltenteilung auf und ist auch aus diesem Grund mindestens problematisch.
2. Keine Befriedungsfunktion ohne Bestrafungsmöglichkeit
Mag ein solcher Widerspruch zu Gerechtigkeitsvorstellungen bei weniger extremen Verbrechen im Interesse der Rechtssicherheit, des Rechtsfriedens und der abschließenden Wirkung eines freisprechenden Urteils hinzunehmen sein, so überzeugt das bei den unverjährbaren Straftaten nicht mehr. Das Strafrecht kann seine Befriedungsfunktion ohne Bestrafungsmöglichkeit nicht erfüllen. Selbst wenn es nur wenige derartige Fälle gibt, ist hier im Interesse der Allgemeinheit zu verdeutlichen, dass eine Straflosigkeit nicht hinzunehmen ist. Auch eine erwünschte Abschreckung und Prävention war mit der neuen Norm verbunden. Zu beachten ist, dass es bei der aufgehobenen Vorschrift nicht nur um Jahrzehnte zurückliegende Fälle geht, sondern auch um aktuelle Mordfälle und gerade stattfindende Kriegsverbrechen, wie bspw. in der Ukraine, die mangels Beweises nicht zu Verurteilungen, sondern zu Freisprüchen geführt haben.
3. Wiederaufnahme propter nova in anderen Bereichen anerkannt
Schließlich erkennt der Gesetzgeber auch in anderen Bereichen, etwa beim Strafbefehlsverfahren, eine Wiederaufnahme zuungunsten des Freigesprochenen bei neuen Tatsachen seit langem an, ohne dass hierin ein Grundrechtsverstoß gesehen wird. Beim Strafbefehlsverfahren kann ebenfalls nach einem Freispruch die Rechtskraft des abgeschlossenen Strafbefehlsverfahrens durchbrochen werden, wenn neue Tatsachen oder Beweismittel allein oder in Verbindung mit den früheren Beweisen geeignet sind, die Verurteilung wegen eines Verbrechens zu begründen (§ 373a StPO). Zwar bestehen zwischen einem Strafbefehlsverfahren und einem Freispruch am Ende einer gerichtlichen Hauptverhandlung verfahrensrechtliche Unterschiede. So erscheint etwa das Strafbefehlsverfahren als summarisches Verfahren weniger geeignet, Beweise ausreichend zu würdigen und bietet daher weniger Gewähr für eine richtige Entscheidung als ein Urteil.[43] Doch beseitigen beide Verfahren einen Freispruch und erlauben eine reformatio in peius. In beiden Fällen tritt identische Rechtskraft ein.[44] Sie sind daher miteinander vergleichbar.[45] Wenn sogar bei weniger gewichtigen Straftaten eine Wiederaufnahme möglich und von Verfassungs wegen anerkannt ist, so sollte dies erst recht bei Schwerstverbrechen gelten, bei denen ein höheres Strafbedürfnis besteht. Hier eine schuldangemessene Bestrafung herbeizuführen, liegt im überragenden öffentlichen Interesse, wenn die neue Beweislage einen Kapitalverbrecher der genannten Art überführen kann.
4. Gefahr eines Dammbruchs gering
Auch die Gefahr eines Dammbruchs durch Erweiterung der Katalogtaten auf andere Fälle, die immer wieder als Einwand gegen die Vorschrift genannt wurde, war nicht zu erkennen. Der Gesetzgeber hatte die Vorschrift des § 362 Nr.5 StPO als Ausnahmevorschrift mit strikten Einschränkungen konzipiert. Den Kreis der unverjährbaren Taten zu erweitern und damit die rationale Grenze der Unverjährbarkeit aufzuheben, war de lege ferenda nicht geplant. Dammbruch-Argumente (slippery-slope) sind ohnehin mit Vorsicht zu gebrauchen, da sie Zukunftsszenarien beschreiben, die nicht mit Sicherheit vorausgesagt werden können.
5. Historischer Grund kein Gegenargument
Auch der vom BVerfG vorgebrachte historische Grund, dass dieses Prinzip der Willkür von Gerichten Einhalt gebieten sollte, unliebsame Urteile im Nachhinein einfach wieder aufzuheben, wie dies in der NS-Zeit möglich war,[46] hat die nun für verfassungswidrig erklärte Vorschrift keineswegs übersehen. Der aktuelle Gesetzgeber hatte mit der Reform gerade einen Ausgleich schaffen wollen, bei Schwerstverbrechen unerträgliche Gerechtigkeitsverstöße auszuräumen.[47] Nach der sog. Radbruchschen Formel muss nach hier vertretener Auffassung bei höchstem Unrecht das positive Recht – vorliegend Art. 103 Abs. 3 GG – zurückstehen, wenn nur auf diese Weise Gerechtigkeit wiederhergestellt werden kann.[48] Den Rechtsfrieden hier als Gegenargument heranzuziehen, erscheint zynisch, da das Strafrecht seine Befriedungsfunktion in Fällen dieser Art nicht erreichen kann, wenn aus formellen Gründen schwerste Straftaten ungesühnt bleiben. Bereits die Normverdeutlichungsfunktion des Straf-und Strafprozessrechts gebietet es selbst in Fällen geringer Anwendbarkeit, die rechtsstaatlichen Grenzen aufzuzeigen.
6. Einschränkung durch internationale Dimension
Eine Besonderheit des § 362 Ziff. 5 StPO war seine internationale Dimension. Drei der nur vier Katalogtaten sind Völkerrechtsverbrechen, die durchweg nur im Ausland begangen werden. Dass die deutsche Staatsanwaltschaft Straftaten mit Auslandsbezug nicht zwingend verfolgen muss, folgt aus § 153f StPO. Die Vorschrift räumt den Verfolgungsbehörden ein Ermessen ein, die Strafverfolgung bei den Völkerrechtsverbrechen aus Opportunitätsgründen einzustellen. Auch bei Mordtaten gem. § 211 StGB im Ausland hat die Staatsanwaltschaft ein Verfolgungsermessen (§ 153c StPO). Die internationale Dimension des § 362 Nr. 5 StPO hatte mithin ihren Anwendungsbereich bereits beschränkt.
V. Folgen für die Praxis der Strafverfolgung
1. Umgang mit bereits eingeleiteten Ermittlungsverfahren
Nach der BVerfG-Entscheidung stellt sich nunmehr die Frage, wie mit den Ermittlungsverfahren umzugehen ist, die seit Erlass der Vorschrift des § 362 Nr. 5 StGB eingeleitet wurden. Wegen des Legalitätsprinzips (§ 152 Abs. 2 StPO) waren die Strafverfolgungsbehörden verpflichtet, zu ermitteln, wenn neue Beweise und Tatsachen auftauchten, die dringenden Verdacht auf eines der Kernverbrechen boten. Die Ermittlungspflicht setzte auch nicht erst ein, wenn Beweise von dem Gewicht vorlagen, das die Vorschrift als Voraussetzung für die Wiederaufnahme fordert. Wegen § 152 Abs. 2 StPO bestand eine Ermittlungspflicht schon bei Anfangsverdacht und nicht erst bei dringendem Tatverdacht, der allerdings für die gerichtliche Wiederaufnahme erforderlich war.
Nunmehr gilt indessen: Die Strafverfolgungsbehörden müssen die bereits eingeleiteten Strafverfahren einstellen. Ist es bereits – wie im Fall von Ismet H. – zu einer (kurzen) Inhaftierung gekommen, muss dem nun zu Unrecht Inhaftierten Haftentschädigung gezahlt werden (§ 2 Abs. 1 StrEG).[49] In Zukunft dürfen die Strafverfolgungsbehörden bei allen Freisprüchen, die einen Mord oder ein Völkerrechtsverbrechen zum Inhalt haben, keine weiteren Ermittlungen führen und können die Akte schließen, selbst wenn sie auf neue Beweise stoßen, welche die Schuld dringend nahelegen. Die Unschuldsvermutung gilt damit weiter für die Täter, die im Inland rechtskräftig freigesprochen wurden. Nur in den Fällen des § 362 Ziff. 1-4 StPO kann unter deren Voraussetzungen davon eine Ausnahme gemacht werden.
2. Umgang mit ausländischen Freisprüchen innerhalb der EU
Fraglich ist, ob dies auch bei ausländischen Freisprüchen gilt, was besonders bei den Völkerrechtsverbrechen, die im Ausland begangen werden, relevant ist. Denn hier stellt sich zunächst die Frage, ob solche Freisprüche überhaupt anzuerkennen sind. Nur dann können sie auch eine Wirkung für das deutsche Strafverfahren entfalten. Sind sie in EU-Staaten ergangen, dann folgt aus dem EU-Recht (Art. 82 Abs. 1 AEUV): Rechtskräftige Freisprüche aus anderen EU-Staaten sind grundsätzlich ohne weitere Voraussetzung anzuerkennen, da sie – anders als etwa ein Haftbefehl – keiner Vollstreckung bedürfen.[50] Grenzen können sich jedoch aus dem europäischen oder dem nationalen ordre public ergeben, etwa wenn das ausländische Verfahren an wesentlichen Mängeln litt.[51] Ist der ordre public verletzt, entfällt die Anerkennung. Der fremde Freispruch hat dann in Deutschland keine Wirkung. Die Einleitung eines Regelstrafverfahrens ist dann ohne weiteres möglich, ohne auf die Besonderheiten des Wiederaufnahmeverfahrens achten zu müssen.
3. Umgang mit ausländischen Freisprüchen außerhalb der EU sowie Völkerrechtsverbrechen
Schwieriger ist die Lage bei Freisprüchen, die in anderen als den EU-Staaten ergangen sind. Hier bestehen zum Teil Anerkennungs- und Vollstreckungsübereinkommen, die häufig voraussetzen, dass auch deutsche Urteile im anderen Übereinkommensstaat anerkannt werden. Fehlt es an einem Übereinkommen, dann scheitert die Anerkennung des fremden Freispruchs. Ist die fremde freisprechende Entscheidung jedoch anzuerkennen, steht sie einem deutschen Freispruch gleich. Nach der BVerfG-Entscheidung greift dann das Doppelverfolgungsverbot des Art. 103 Abs. 3 GG ein. Das gilt auch für Mordfälle und Völkerrechtsverbrechen, die im Ausland begangen werden. Ist der Mörder bzw. Völkerrechtsverbrecher im Ausland freigesprochen worden und wird der Freispruch in Deutschland anerkannt, besteht ein Verfahrenshindernis, bei neuen Beweisen seiner Schuld das Verfahren wiederaufzunehmen. Eine Prüfung, ob der ausländische Freispruch rechtsstaatlich zustande gekommen ist, hat wegen des Anerkennungsübereinkommens zu unterbleiben. Selbst wenn der Freispruch auf gefälschten Urkunden, falschen Zeugen- oder Sachverständigenaussagen oder Amtsdelikten der Richter beruht und grundsätzlich der Anwendungsbereich des § 362 Nr. 1-4 StPO eröffnet wäre, ist von einer Wiederaufnahme des Strafverfahrens abzusehen. Da Straftaten wie Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen gegenwärtig nicht in Deutschland, sondern im Ausland begangen, werden, ist eine Prüfung des ausländischen Freispruchs durch die deutsche Strafjustiz in der Regel auch praktisch nicht möglich, insbesondere wenn die ausländischen Strafverfolgungsbehörden nicht willens oder in der Lage sind, Beweismaterial herauszugeben und Rechtshilfe zu leisten. In Ländern, wie sog. failed states, in denen die Justiz solchen Verbrechen selbst nicht nachgeht, durch die Machthaber daran gehindert wird oder schlicht keine ausreichenden Strafverfolgungsressourcen vorhanden sind, besteht kein Interesse an bzw. keine Möglichkeit, Einblicke in die Verurteilungs- bzw. Freispruchpraxis zu geben. Bereits aus diesem Grund kann eine Wiederaufnahme – gem. § 362 Nr. 1-4 StPO – in Deutschland in der Tat scheitern, da die deutschen Strafverfolgungsbehörden auf die ausländische Rechtshilfe angewiesen sind.
4. Keine Verfolgung von Völkerrechtsverbrechern
Das bedeutet aber auch, dass die deutschen Strafverfolgungsbehörden untätig bleiben müssen, wenn z.B. syrische Folterer, die nach Deutschland geflohen sind, zunächst aus Mangel an Beweisen freigesprochen, später aber hier von ihren Opfern wiedererkannt und angezeigt werden. Ebenso verhält es sich, wenn IS-Kämpfer aus Afghanistan oder russische Kriegsverbrecher aus der Ukraine nach Deutschland kommen, hier angeklagt und zunächst mangels Beweises freigesprochen, dann aber von Angehörigen oder Bekannten, die sich mittlerweile von ihnen losgesagt haben, angezeigt und Beweise für ihre Schuld vorgelegt werden. Ein Wiederaufnahmeverfahren kann dann nicht angestrengt werden. Und dass, obgleich das Völkerstrafgesetzbuch die Verfolgung von Kriegsverbrechen, Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit weltweit durch deutsche Strafverfolgungsbehörden zulässt, der deutsche Gesetzgeber sich durch Ratifizierung des IStGH-Statuts dazu grundsätzlich verpflichtet hat und das Weltrechtsprinzips des § 1 VStGB in diesen Fällen keinen Anknüpfungspunkt zu Deutschland verlangt, das heißt weder Täter noch Opfer müssen Deutscher sein noch muss die Tat auf deutschem Territorium zu Land, Luft oder Wasser begangen worden sein.[52] Das dies mit rechtsstaatlichen Grundsätzen schwer zu vereinen ist, zeigt auch das Beispiel, das Bundesverfassungsrichter Peter Müller in der Verhandlung vor dem BVerfG gebildet hat: „Zwei Söldner von Prigoschin (dem ehemaligen Chef der russischen Wagner-Truppe), setzen sich nach Deutschland ab, werden angeklagt, aber aus Mangel an Beweisen freigesprochen. Dann aber tauchen neue Beweise auf – woraufhin der eine gesteht, der andere aber schweigt. Würde die neue Vorschrift tatsächlich gekippt, dann wäre nur die Wiederaufnahme des Prozesses gegen den geständigen Söldner erlaubt. Der zweite Mann käme davon“.[53]
Während in alten unaufgeklärten Mordfällen, den sog. „cold cases“, weiterhin oder erneut ermittelt werden darf[54], verhindert die BVerfG-Entscheidung eine weitere Aufklärung und Verfolgung von Schwerstverbrechen, sofern die Täter nur früher einmal einen Freispruch erreicht hatten.
VI. Schluss
Die BVerfG-Entscheidung zur Verfassungswidrigkeit der ungünstigen Wiederaufnahme propter nova ist kritisch zu sehen. Es lassen sich sowohl Gründe für die Verfassungsgemäßheit des § 362 Nr. 5 StPO vorbringen als auch für dessen rechtspolitische Bedeutung. Über den Weg verfassungskonformer Auslegung unter Ausschluss von Altfällen und bei Anwendung nur auf nach Erlass ergangene Freisprüche hätte die Vorschrift nicht aufgehoben werden müssen. Nunmehr dürfen die Strafverfolgungsbehörden nach einem Freispruch wegen einer der Katalogtaten nicht gegen den Freigesprochenen weiter ermitteln, selbst wenn ein Anlass (neuer Zeuge, Zufallsfund, noch nicht ausgewertete DNA etc.) nach dem Legalitätsprinzip (§ 152
Abs. 2 StPO) eigentlich eine weitere Strafverfolgung gebieten würde. Potentielle Mörder, Völkermörder und Kriegsverbrecher können damit bei eindeutigen Beweisen ihrer Schuld weiter auf freiem Fuß bleiben, obgleich ihre Tat eigentlich lebenslang verfolgt werden dürfte. Dies mit einem Mehrgewinn an Rechtssicherheit und Rechtsfrieden zu begründen, erscheint zynisch. Deutschland hatte, wie eine Anfrage des BVerfG ergab, mit § 362 Ziff. 5 StPO keine Sonderregelung im europäischen Vergleich getroffen.[55] Vielmehr haben 17 andere Länder Europas (darunter Österreich, die Schweiz und England) Wiederaufnahmeregelungen, die bei neuen Beweisen eine Wiederaufnahme zuungunsten vorsehen. So sieht bspw. Art. 323 der Schweizer StPO eine Wiederaufnahme bei neuen Beweismitteln oder Tatsachen zu Ungunsten des Betroffenen vor. § 355 der österreichischen StPO erlaubt die Wiederaufnahme zu Ungunsten bei gefälschten Urkunden, falschen Zeugen, Geständnis oder neuen Tatsachen oder Beweismitteln, wenn noch keine Verjährung eingetreten ist. England hat in Part 10 Criminal Justice Act 2003, Sec. 75 ff. eine entsprechende Regelung und in mehreren Entscheidungen eine Wiederaufnahme bei doppelter Strafverfolgung (double jeopardy) erlaubt.[56] Deutschland hatte mit der Begrenzung auf 4 unverjährbare, mit lebenslanger Freiheitsstrafe bedrohte Kapitalverbrechen sowie durch die Hürde eines dringenden Verdachtsgrads die Anforderungen an eine Wiederaufnahme besonders hoch angesetzt, was deren Ausnahmecharakter verdeutlichte. Im europäischen Vergleich ist Deutschland auch eines der wenigen Länder, welches das 7. Zusatzprotokoll (dort Art. 4) zur EMRK[57] nicht ratifiziert hat, während Länder wie Österreich, Schweiz, Frankreich, Dänemark, Schweden, Griechenland u.a. die in dem Zusatzprotokoll vorgesehenen Ausnahmen von dem ne bis in idem Prinzip anerkannt und in ihre Rechtsordnung aufgenommen haben. Eine unveränderbare Geltung des bisher normierten ne bis in idem Prinzips wie in Deutschland gibt es in diesen Ländern nicht. Und auch Deutschland erlaubte schon immer Ausnahmen von diesem Grundsatz, deren bloße Existenz – unabhängig vom Rechtsgrund – bereits zeigt, dass das deutsche Strafprozessrecht Durchbrechungen des ne bis in idem Prinzips vorsieht, die verfassungsmäßig anerkannt sind.[58] Mit der Nichtigerklärung des § 362 Ziff. 5 StPO steht Deutschland in Europa nunmehr in der Minderheit. Die Entscheidung des BVerfG hindert den Gesetzgeber in Zukunft, in Fällen, die aus der Sicht des Parlaments unerträgliche Gerechtigkeitsverstöße darstellen, neue Wiederaufnahmegründe propter nova in die StPO aufzunehmen. Darin einen Gewinn an Rechtssicherheit zu sehen, ist mehr als zweifelhaft.
[1] Gesetz vom 21.12.2021 (BGBl. I, S. 5252), BT-Drs. 19/30399.
[2] Zur Wiederaufnahmeentscheidung in dem Fall s. OLG Celle, BeckRS 2022, 7938.
[3] Vgl. zur straf- und verfassungsrechtlichen Einordnung nur Singelnstein, NJW 2022, 1058; Aust/Schmidt, ZRP 2020, 251; Frister/Müller, ZRP 2019, 101; Schiffbauer, NJW 2021, 2097; Ruhs, ZRP 2021, 88; Jansen/Hoppen, JuS 2021, 1132; Letzgus, NStZ 2020, 717; Kaspar, GA 2022, 21; Hörnle, GA 2022, 184; Scheu/Härdle, JA 2023, 395; Kubiciel, GA 2021, 380.
[4] BVerfG, Pressemitteilung Nr. 33/2023 vom 22.3.2023, Aktenzeichen: 2 BvR 900/22, einsehbar unter: https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2023/bvg23-033.html (zuletzt abgerufen am 3.1.2024).
[5] BVerfG, Urt. v. 31.10.2023 – 2 BvR 900/22; zuvor BVerfGE 162, 358 (Einstweilige Anordnung gegen den Vollzug des Haftbefehls gegen Ismet H); BVerfG, Jus 2023, 283 mit Anm. Klement; BVerfG, JA 2022, 785 mit Anm. Muckel; BVerfG, Mündliche Verhandlung in Sachen „Wiederaufnahme des Strafverfahrens zuungunsten des Freigesprochenen“, 24. Mai 2023, Aktenzeichen 2 BvR 900/22.
[6] BT-Drs. 19/30399, S. 10.
[7] BVerfG, NJW 1996, 1049; BGHSt 38, 276 (278); Graf, in: KK-StPO, 9. Aufl. (2023), § 112 Rn. 3.
[8] BT-Drs. 19/30399, S. 10.
[9] Tiemann, in: KK-StPO, § 362 Rn. 19 mit Verweis auf § 359 Rn. 34; vgl. auch BVerfG, NJW 2007, 207 (208) m.w.N.; Gössel, in: LR- StPO, Bd. 7/2, 26. Aufl. (2013), § 359 Rn. 88.
[10] Vgl. zur Beweisbedürftigkeit und -würdigkeit allgem. Magnus, in: Hilgendorf/Kudlich/Valerius, Handbuch des Strafrechts, Bd. 8, 2022, § 47 Rn. 5 ff., 50 ff.
[11] BVerfGE 56, 22 (32); BVerfGE 162, 358 (371).
[12] BVerfGE 162, 358 = NStZ-RR 2022, 111 (113); BVerfGE 12, 62 (66) = NJW 1961, 867; BVerfGE 23, 191 (202) = NJW 1968, 982; Remmert, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, 101. EL (2023), Art. 103 Abs. 3, Rn. 61; Schulze-Fielitz, in: Dreier/Brosius-Gersdorf, GG, 4. Aufl. (2023), Art. 103 Abs. 3 Rn. 25, 30; Pohlreich, in: Bonner Kommentar, GG, 220. Akt. (2023), Art. 103 Abs. 3 Rn. 42.
[13] S. Remmert, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 103 Abs. 3 Rn 61.
[14] So Dürig zu Art. 103 Abs. 3 GG zitiert nach Schmidt/Aßmann, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, 84. EL (08/2018), Art. 103 Abs. 3 Rn. 260; vgl. dazu auch Remmert, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 103 Abs. 3 Rn. 39; Tiemann, in: KK-StPO, § 362 Rn. 25.
[15] Remmert, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG Art. 103 Abs. 3 Rn. 61.
[16] Pohlreich, Interview abgedruckt auf der Website der Europa-Universität-Viadrina, einsehbar unter: https://www.europa-uni.de/de/struktur/unileitung/pressestelle/viadrina-logbuch/wissenschaft/20230519-pohlreich/Beitrag/index.html (zuletzt abgerufen am 20.10.2023): „Es ist besser, acht Schuldige davonkommen zu lassen, als einem Unschuldigen den Prozess zu machen und ihn dem Risiko auszusetzen, fehlerhaft verurteilt zu werden“; im selben Sinne bereits William Blackstone, Commentaries on the Laws of England, Book 4, 1765, S. 352: „[I]t is better that ten guilty persons escape, than that one innocent suffer.“; weitergeführt von Benjamin Franklin: „[I]t is better a hundred guilty persons should escape than one innocent person should suffer.“, zitiert nach Volokh, University of Pennsylvania Law Review 146 (1997), 173 (175). Zu den Nachweisen s. Grübl, ZiS 2022, 1 (2).
[17] BVerfGE, 2 BvR 900/22 Rn. 68.
[18] BVerfGE, 2 BvR 900/22 Rn. 68; Leitmeier, StV 2021, 341 (343); Swoboda, HRRS 2009, 188 (196).
[19] BVerfGE, 2 BvR 900/22 Rn. 88; s. auch bereits BVerfGE 3, 248 (253 f.).
[20] BVerfGE, 2 BvR 900/22 Rn. 88; vgl. Marxen/Tiemann, ZIS 2008, 188 (190), Arnemann, NJW-Spezial 2021, 440.
[21] BVerfGE, 2 BvR 900/22 Rn. 88; BVerfGE 56, 22 (31); BVerfGE 3, 248 (253); vgl. auch Greco Strafprozesstheorie und materielle Rechtskraft, 2015, 346 ff. m.w.N.
[22] Es ist nicht Voraussetzung, dass der Freigesprochene die Unechtheit der Urkunde veranlasst hat oder sonst für die Unechtheit verantwortlich ist: Singelnstein, in: BeckOK-StPO
(Stand: 1.10.2023), § 362 Rn. 4; Tiemann, in: KK-StPO, § 362 Rn. 8; Engländer/Zimmermann, MüKo-StPO, Bd. 3, 2019, § 362 Rn. 9.
[23] BVerfGE 56, 22 (34 f.); krit. im Hinblick auf § 362 Ziff. 5 StPO Tiemann, in: KK-StPO, § 362 Rn. 23.
[24] BVerfGE, 2 BvR 900/22 Rn. 55; so auch Remmert, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG Art. 103 Abs. 3 Rn. 62 m.w.N.
[25] So etwa auch Jarass/Pieroth, GG, 17. Aufl. (2022), Art. 103 Rn. 110; Schulze-Fielitz, in: Dreier/Brosius-Gersdorf, GG Art. 103 Abs. 3 Rn. 35; Grünewald, RuP 2009, 1 (2).
[26] BVerfGE 56, 22 (34) = NJW 1981, 1433 (1435): „Art. 103 Abs. 3 GG nimmt auf die bei Inkrafttreten des Grundgesetzes geltende prozeßrechtliche Lage Bezug“. Dies bedeute indessen nicht, “daß für neu auftauchende Gesichtspunkte, die sich der Prozeßrechtswissenschaft und der Rechtsprechung so noch nicht gestellt hatten, eine verfassungsrechtliche Festlegung getroffen worden wäre. Es kann ferner nicht bedeuten, daß die in offenen Randbereichen des Tatbegriffs schwierigen Abgrenzungsfragen und dogmatischen Zweifelsfälle jeder Weiterentwicklung von Verfassungs wegen schon entzogen wären“. (…) „Art. 103 Abs. 3 GG steht Grenzkorrekturen nicht entgegen (so auch Schäfer, in: LR-StPO, 23. Aufl., [1976], Einl. Kap. 12, Rdn. 33, 37); er garantiert nur den Kern dessen, was als Inhalt des Satzes “ne bis in idem” in der Rechtsprechung herausgearbeitet wurde“.
[27] A.A. Tiemann, in: KK-StPO, § 362 Rn. 24, der die Verfeinerung von kriminaltechnischen Untersuchungsmethoden wie der Blutgruppenbestimmung, der Daktyloskopie und der Stimmenanalyse ebenso wie die DNA- Untersuchungsmethoden nicht als neue Gesichtspunkte in diesem Sinne versteht.
[28] So auch im Ergebnis das OLG Celle, BeckRS 2022, 7938 Rn. 20 ff.; OLG Celle, JuS 2022, 554 mit Anm. Jahn; OLG Celle, NJW-Spezial 2022, 314 mit Bespr. Beukelmann; OLG Celle, StRR 2022, 20 mit Anm. Deutscher.
[29] BVerfGE 156, 354; BVerfG, NJW 2021, 1222 mit Anm. Lenk.
[30] S. etwa BVerfGE 135, 1 Rn. 40; BVerfG, NVwZ 2014, 577 mit Bespr. Buchheim/Lassahn, NVwZ 2014, 562; BVerfG, NJW 2014, 1581 (Ls.) mit Bespr. Hey, NJW 2014, 1564sowie mit dem Nachweis weiterer BVerfG-Entscheidungen.
[31] BVerfGE 135, 1 Rn. 40.
[32] BVerfGE 135, 1 Rn. 41.
[33] BVerfGE 127, 1; NJW 2010, 3629 Rn. 57; BVerfG, JuS 2011, 189 m. Anm. Selmer; BVerfG, GWR 2010, 538 mit Bespr. Brill.
[34] 2 BvR 900/22 Rn. 150; vgl. auch BVerfGE 2, 380 (403); BVerfGE 63, 343 (360); Kaspar, GA 2022, 21 (34).
[35] BVerfGE 156, 354 (403); BVerfGE 25, 269 (286); BVerfGE 63, 243 (359).
[36] BVerfG, 2 BvR 900/22, Rn. 158.
[37] BVerfG, NJW 2010, 3629 Rn. 57; BVerfG, JuS 2011, 189 mit Anm. Selmer; BVerfG, GWR 2010, 538 m. Anm. Brill.
[38] BVerfG, NJW 2010, 3629 Rn. 58.
[39] So auch das OLG Celle, BeckRS 2022, 7938 Rn. 57; OLG Celle, JuS 2022, 554 mit Anm. Jahn; OLG Celle, NJW-Spezial 2022, 314 mit Bespr. Beukelmann.
[40] BVerfGE 135, 1 Rn. 65; BVerfG, JuS 2014, 763 mit Anm. Selmer; BVerfG, EUGRZ 2014, 241 mit Anm. Masing; BVerfG, FR 2014, 326 mit Anm. Birk.
[41] S.u. IV. 6.
[42] Zur Frage, wann die Verfolgung und Anklage von Völkerrechtsverbrechen nach deutschem Recht zulässig und geboten ist s. Magnus in: FS Merkel, 2020, S. 1375 ff.
[43] Marxen/Tiemann, ZIS 2008, 188 (189); Leitmeier, StV 2021, 341 (345); Ruhs, ZRP 2021, 88 (91); Tiemann, in: KK-StPO, § 362 Rn. 27; s. auch BVerfGE 65, 377.
[44] Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 67. Aufl. (2017), § 373a Rn. 3.
[45] Kubiciel, Schriftliche Fassung der Stellungnahme in der öffentlichen Anhörung des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz des Deutschen Bundestages, S. 3, online abrufbar unter: https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2021/kw23- de-strafprozess-gerechtigkeit-846330 (zuletzt abgerufen am 3.1.2024).
[46] BVerfG, 2 BvR 900/22, Rn. 31; Marxen/Tiemann, ZIS 2018, 188 (190 f.); Remmert, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG Art. 103 Abs. 3 Rn. 25.
[47] BT-Drs. 19/30399, S. 1, 2, 6, 9.
[48] Radbruch, Süddeutsche Juristenzeitung, Bd. 3 (1946), S. 83 (90).
[49] Ein Ausschluss der Entschädigung nach § 5 oder 6 StrEG kommt wohl weder im Fall des Ismet H noch in den sonstigen, gleichliegenden Fällen einer Wiederaufnahme nach Freispruch in Betracht. Zu noch weiteren Entschädigungsleistungen durch die Belastung mit einem Ermittlungsverfahren s. Hörnle, GA 2022, 184.
[50] S. näher Vogel/Eisele, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der EU (Stand: 05/2023) Art. 82 AEUV Rn. 27 ff.
[51] Vogel/Eisele, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der EU, Art. 82 AEUV, Rn. 36a.
[52] Bei international gesuchten Kriegsverbrechern oder Völkermördern müssen die deutschen Justizbehörden – was auch die Generalstaatsanwaltschaft an den Oberlandesgerichten einschließt – prüfen, ob die Auslieferungsvoraussetzungen vorliegen und ob die betroffene Person bis zum Zeitpunkt der Übergabe inhaftiert wird. Zum Inlandsbezug im internationalen Strafrecht s. Magnus, in: FS U. Magnus, 2014, S. 693 ff.
[53] Zitiert nach Janisch, Freispruch mit Fragezeichen, Süddeutsche Zeitung v. 25.5.2023, Nr. 119, S. 6.
[54] Monka, in: BeckOK-StPO, 48. Ed. (Stand:07/2023), § 136 Rn. 24; OLG Zweibrücken, NStZ 2011, 113.
[55] BVerfG, 2 BvR 900/22, Rn. 21.
[56] S. etwa Heathfield v. StA Würzburg [2017] EWHC (Admin.) 2002 para. 17 ff.; A v. Director of Public Prosecution [2016] EWCA Crim 1393 para 27 ff. S. auch außerhalb Europas, etwa in den USA die Regelung zum Doppelbestrafungsverbot im 5th Amendment to the Constitution, Double Jeopardy Clause; s. dazu Alogna, Double Jeopardy, Acquittal Appeals and the Law-Fact Distinction, 86 Cornell Law Review (2001) 1131 ff.
[57] Während Art. 4 Abs. 1 des 7. Zusatzprotokolls zur EMRK das ne bis in idem Prinzip enthält, beinhaltet Art. 4 Abs. 2 folgendes: „Absatz 1 schließt die Wiederaufnahme des Verfahrens nach dem Gesetz und dem Strafverfahrensrecht des betreffenden Staates nicht aus, falls neue oder neu bekannt gewordene Tatsachen vorliegen oder das vorausgegangene Verfahren schwere, den Ausgang des Verfahrens berührende Mängel aufweist“. Art. 4 Abs. 3 des 7. Zusatzprotokolls zur EMRK bestimmt, dass von diesem Artikel nicht nach Artikel 15 der Konvention abgewichen werden darf.
[58] Vgl. nur § 362 Nr. 1-4 StPO, § 373a StPO. Auch Art. 54 des Schengener Durchführungsübereinkommens (SDÜ) enthält das ne bis in idem Prinzip und Art. 55 SDÜ erlaubt den Schengen-Staaten – und damit Deutschland – Ausnahmen vom Doppelverfolgungsverbot zuzulassen. Deutschland hat davon Gebrauch gemacht und eine Ausnahme vom Doppelverfolgungsverbot für Straftaten nach § 129 StGB (Bildung krimineller Vereinigungen) vorgesehen, „soweit diese gegen die Sicherheit des Staates oder andere gleichermaßen wesentliche Interessen verstoßen“, s. EuGH, Urt. v. 23.3.2023 – C-365/21. Das zeigt, dass Deutschland Ausnahmen vom ne bis in idem Prinzip anerkennt, was dessen absolute Geltung, welche ihm das BVerfG in der Entscheidung vom 31.10.2023 zuspricht, fraglich erscheinen lässt.