Jan Nicklaus: Fahrlässigkeit als Irrtum. Eine Untersuchung von Sorgfalt und Er-laubnistatbeständen im Strafrecht

von Prof. Dr. Anja Schiemann

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2023, Nomos, ISBN: 978-3-7560-1242-8, S. 243, Euro 74,00.

Hauptanliegen der Dissertation ist die Auslegung des Fahrlässigkeitsbegriffs in einer Weise, die sich widerspruchsfrei in das Straftatsystem im Übrigen einfügt, den gesetzlichen Anforderungen genügt und Wertungswidersprüche minimiert (S. 15). Ziel der Arbeit ist es daher, Hinweise zur Anwendung des geltenden Gesetzesrechts zu geben (S. 16) und so eine Methodik zur möglichst präzisen und somit rechtssicheren Beschreibung der strafrechtlich relevanten gesetzlichen Wertungen zu entwickeln (S. 18).

Hierzu erfolgt zu Beginn des Kapitels 2 eine Auseinandersetzung mit dem die heutige Diskussion prägenden Meinungsspektrum (S. 19 ff.), so dass zunächst ein Überblick über die objektive Zurechnung und hierauf bezogene Fahrlässigkeitsbegriffe gegeben wird. Danach wird sich dem Begriff der objektiven Gefahr zugewandt und festgestellt, dass eine klare Definition der Gefahr ohne Bezugnahme auf die Kenntnisse und Fähigkeiten des Täters oder einer auf diesen bezogenen Maßfigur im Kontext der Lehre von der objektiven Zurechnung und darauf aufbauender Fahrlässigkeitsbegriffe nicht möglich sei (S. 49). Insgesamt stellt er fest, dass alle derzeit diskutierten Kriterien entweder partikular oder unbestimmt seien (S. 57).

Der Verfasser präferiert einen negativen Ansatz dahingehend, dass zunächst geschriebene und nachrangig anerkannte ungeschriebene Ausschlusstatbestände zu prüfen seien und erst bei Nichtbestehen unter Zugrundelegung insbesondere verfassungsrechtlicher Maßstäbe zu ermitteln sei, ob ein neuer ungeschriebener, überindividueller Ausschlusstatbestand gebildet werden könne. Sei ein solcher nicht begründbar, so könne es sich nicht um eine erlaubte Verhaltensweise handeln. Ungeschriebene Erlaubnistatbestände unterlägen als teleologische Reduktion denselben Allgemeinanforderungen wie Gesetze. Sie könnten, so Niklaus in der Folge nicht auf Voraussetzungen aufbauen, die als Teil der konditionalen Anordnung nicht in jedem Fall Bestand haben können. Allerdings bestünde das Bedürfnis nach einer zusätzlichen Wertungsebene. Hier favorisiert der Verfasser eine negative Wertungsebene, die mit den ebenfalls negativen Fallgruppen der objektiven Zurechnung weitgehende Überschneidungen aufweise. Insofern sei dies nur eine methodische und perspektivische Präzisierung (S. 63 f.).

Im dritten Kapitel wird der Frage nachgegangen, ob die negative Wertungsebene überhaupt noch einen Bezug zum Begriff der Fahrlässigkeit aufweist oder ob es sich um getrennte Voraussetzungen des Strafunrechts handelt. Der  Verfasser  kommt  zu  dem Ergebnis, dass weder eine von der Rechtswidrigkeit kategorisch getrennte, allgemeingültige und in diesem Sinne positive Ebene der objektiven, gefahrbasierten Unerlaubtheit noch ihre Gleichsetzung mit der strafrechtlichen Fahrlässigkeit den gesetzlichen Anforderungen gerecht werden. Vorzugswürdig sei die Prüfung spezieller negativer Fallgruppen in Form von Erlaubnistatbeständen, die einen großen Teil des Gehalts der objektiven Zurechnung abbildeten, jedoch dazu zwingen würden, die abgewogenen Interessen offenzulegen und bloß gefühlsmäßige Wertungen zu vermeiden. Die Erlaubnistatbestände könnten sich auf das objektive Geschehen, die dem Täter zur Verfügung stehenden Erkenntnisquellen oder seine Vorstellung beziehen. Zwar wiesen die Erlaubnistatbestände strukturelle Parallelen zu den Rechtfertigungsgründen auf, jedoch könne eine dogmatische Zuordnung unterbleiben, da an diese Unterscheidung keine Unterschiede in der Rechtsfolge anknüpfen. Letztlich will der Verfasser auf die „terminologische Differenzierung“ verzichten (S. 106). Die wertungsbasierten Erlaubnistatbestände würden so von dem gesetzlichen Fahrlässigkeitsmerkmal vollständig getrennt. Dieses setze allein die Erkennbarkeit der den Vorsatz sowie ggf. weitere subjektive Merkmale begründende Umstände im Sinne eines naturalistischen Erkennenkönnens voraus. Ob sich eine solche dogmatische Neujustierung durchsetzen wird, bleibt sehr zweifelhaft.

Kapitel vier widmet sich dem Vorsatz und der Fahrlässigkeit als „wertungsfreie“ Merkmale (S. 107 ff.). Ein wertungsfreier Vorsatzbegriff müsse an § 16 Abs. 1 S. 1 StGB als gesetzlichem Anhaltspunkt ansetzen, der die Kenntnis der den Tatbestand verwirklichenden Umstände voraussetze. Es genüge das bloße Fürmöglichhalten des Erfolgseintritts sowie des Vorliegens der weiteren Tatumstände. Zusätzliche voluntative Erfordernisse fielen entweder zwingend mit dem Handeln bei gleichzeitigem Fürmöglichhalten zusammen oder seien eine Frage der Bewertung dieses Handelns. Letztere Elemente seien daher als Erlaubnistatbestände zu formulieren. Da der Verfasser allein das Fürmöglichhalten des Vorliegens tatbestandsverwirklichender Umstände als erforderlich ansieht, um den Vorsatz zu bejahen, sei konsequenterweise auch die bewusste Fahrlässigkeit Vorsatz im Sinne des StGB. Dadurch werden die gängigen Abgrenzungskriterien zwischen dolus eventualis und bewusster Fahrlässigkeit aufgehoben. Dies erleichtert zwar die Einordnung, weitet aber die Vorsatzstrafbarkeit erheblich aus, so dass für eine Fahrlässigkeitstat nur noch wenig Raum bleibt – nämlich bei unbewusster Fahrlässigkeit. Diese Ausweitung der Strafbarkeit, die bei einer Verschiebung von bewusster Fahrlässigkeit hin zum Vorsatz bei den Delikten mit einer erheblichen Strafschärfung verbunden ist, kann nicht überzeugen.

Der Verfasser führt aus, dass die unbewusste Fahrlässigkeit auf subjektive Merkmale bezogen sei und allein die Erkennbarkeit der Möglichkeit der Tatbestandsverwirklichung voraussetze. Dieses Merkmal beruhe auf körperlichen, geistigen und täterexternen Erkenntnisquellen und erfordere eine Strategie im Umgang mit diesen Erkenntnisquellen, die einer Maßfigur zugeschrieben werden können. Dagegen seien veranlassungs- oder sonstige abwägungsbasierten Modelle erst im Rahmen der Erlaubnistatbestände zu berücksichtigen. Für die Erkennbarkeit sei demgegenüber optimales Verhalten der Maßfigur zu unterstellen und mit dieser Maßgabe die Möglichkeit der Verifikation einer Möglichkeitshypothese zu prüfen. Dem sei ein Verifikations-, d.h. Erkennbarkeitszeitraum zugrunde zu legen. Hier böte sich der Handlungshorizont an.

Die – auch vom Verfasser zugegebene – weite Strafbarkeit wird durch Erlaubnistatbestände wieder eingeschränkt. Die Erlaubnis könne sich auf ein bestimmtes Handeln als solches oder das Handeln trotz bestimmter tatsächlicher oder erlangbarer Vorstellungsinhalte beziehen. Insofern könnten Erlaubnistatbestände auf einzelne Straftatmerkmale beschränkt sein. Vorrangige Quelle der Erlaubnistatbestände sei das einfache Gesetzesrecht. Neben einer primären außerstrafrechtlichen Bedeutung könnten dessen Bestimmungen einen sekundären strafrechtlichen Gehalt haben, was durch Gesetzesauslegung zu ermitteln sei. Insofern könnten primär außerstrafrechtliche Bestimmungen bestimmte Geschehensabläufe hinsichtlich einzelner oder aller Straftatbestände erlauben, so dass eine Strafbarkeit – oder genauer das Strafunrecht – ausscheide. Ein häufiges Auslegungsergebnis sei die Risikoerlaubnis. Seien dem Täter aber Umstände bekannt oder erkennbar, die eine gegenüber dem kategorialen Erfolgsrisiko erhöhte Schädigungswahrscheinlichkeit begründen, bestünde die Vorsatz- bzw. Fahrlässigkeitsstrafbarkeit fort.

Der ganz überwiegend enger bestimmte Anwendungsbereich des Strafrechts werde durch ungeschriebene Erlaubnistatbestände konstituiert. Die darin liegende teleologische Reduktion dürfe keine freie Wertung, sondern müsse eine Form der Gesetzesauslegung sein. Sie sei gegenüber der gesetzlichen Grenze des erlaubten Handelns subsidiär. Anstelle des erlaubten Risikos könne ein auf die subjektive Risikovorstellung bezogener Erlaubnistatbestand bei nur abstrakter Risikovorstellung und gleichzeitiger Förderung rechtlich geschützter Interessen anerkannt werden. Allerdings müsse dieser auf die verfassungskonforme Auslegung beschränkt bleiben und somit auch im beschriebenen Anwendungsbereich zurückhaltend erfolgen.

Weiterhin herausgearbeitet wurden fahrlässigkeitsspezifische Erlaubnistatbestände. Zudem lege die Abwägung der relevanten rechtlich anerkannten Interessen nahe, eine ungeschriebene Risikoerlaubnis anzuerkennen, die es gestatte, andere Menschen nicht dauerhaft nach überlegener Tatsachen- und Erfahrungssatzkenntnis zu fragen.

Ich bin nicht so optimistisch wie der Verfasser, dass in den jenseits des Straftatbestands gesetzlich ungeregelten Fällen die wesentlichen Härten durch einen ungeschriebenen Erlaubnistatbestand abgefedert werden können. Auch dieser bietet Unwägbarkeiten, auch wenn NiklausAbwägungsfaktoren beschreibt. Dennoch, lesenswert ist diese Dissertation schon deswegen, um die Dogmatik der Fahrlässigkeit neu zu denken. Gerade die Abgrenzung zwischen dolus eventualis und bewusster Fahrlässigkeit ist unbefriedigend, zudem die Frage, warum unbewusste Fahrlässigkeit überhaupt strafbewährt sein kann. Ob das Abwägungsmodell bei diesen Grundsatzfragen weiterhelfen kann, ist dabei nicht entscheidend. Vielmehr wird dadurch die generelle Diskussion rund um die Fahrlässigkeit – hoffentlich – wieder angeregt.

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